Heimat ist kein Ort

Alois Krämer, Bodenbach

Es ist das Jahr 1995. Werner sitzt am Bett seiner Mutter Käthe. In den letzten Wochen hat sich ihr Gesundheitszustand dramatisch verschlechtert. Der Arzt hat nicht viel Hoffnung gemacht. Sie wird sich nicht mehr erholen, sondern schon bald ihre letzte Reise antreten. Zwei Jahre leidet sie nun an den Folgen eines schweren Schlaganfalls, der sie inzwischen völlig ans Bett gefesselt hat. Die Krankheit hat ihr neben einer rechtsseitigen völligen Lähmung der Gliedmaßen auch die Sprache genommen, nur mit Hilfe von Zeichen kann sie sich notdürftig verständigen. Manchmal ist sie verwirrt, aber es gibt auch Stunden, in denen sie ganz klar und bei der Sache ist. So vieles möchte er sie noch fragen, doch eine Unterhaltung ist nicht mehr möglich. Das macht ihn traurig. Zwei Jahre lebt sie nun schon bei ihm im Haus und wird von seiner Frau gepflegt. Er kann sich nicht erinnern, seine Mutter jemals so lange um sich gehabt zu haben.
Er versucht sich zu erinnern. Manche Begebenheiten sind noch in seinem Gedächtnis verankert, manches ist ins Dunkel der Vergangenheit entschwunden und wird wohl nie mehr auftauchen. „Ach, Mama", flüstert er, „könntest du doch noch sprechen. Ich wüsste zu gern, was Du empfunden hast, als Du im Krieg zurück in Dein Heimatdorf geflüchtet bist. In das Eifeldorf, in dem Du 1914 geboren wurdest. Gewiss hattest Du Angst um Deinen Mann, der im Krieg war, Gott weiß wo, Angst um Deine beiden kleinen Kinder, Angst vor der Zukunft, und dass es noch schlimmer kommen könnte." Müde schaut die Mutter ihn an, ein Augenlid hängt tiefer als das andere, ihr Mund ist verzogen, ein dünner Speichelfaden sucht seinen Weg am Kinn vorbei. Sorgsam säubert er ihre Lippen. Eine Träne löst sich aus ihrem Auge. So gern würde sie mit ihm sprechen, ihm sagen, dass sie ihn liebt, dass er immer ihr Kind geblieben ist, immer, ihr Leben lang.
Im September 1939 hatte Käthe geheiratet und war ins elterliche Haus ihres Mannes Paul gezogen. Dort lebte sie mit Paul und den Schwiegereltern Johannes und Christiane auf engstem Raum, denn das Haus war klein und der Verdienst gering. Als sie sich kennenlernten, hatte sie schon einige Jahre in Köln gewohnt war als Hausmädchen „in Dienst gewesen", wie es damals genannt wurde. Viele ihrer Geschlechtsgenossinnen, die aus kinderreichen Bauernfamilien stammten, taten es ihr in den 1930er-Jahren gleich. Brav sandten die Töchter jeden Monat einen Teil ihres Verdienstes nach Hause, denn Bargeld war knapp auf den kleinen Höfen. Dunkle Kriegswolken hingen über dem Land. Noch im Heiratsmonat von Käthe und Paul überfiel Hitlerdeutschland das Nachbarland Polen. 1940 kam der Erstgeborene zur Welt, 1941 die Tochter, acht Tage nach ihrer Geburt wurde der Vater zum Kriegsdienst eingezogen. Schon im Juni 1940 fielen die ersten Bomben auf Köln, ab 1942 folgte ein Bomber-Angriff dem nächsten. Mütter mit Kindern und alte Leute wurden evakuiert. Eine Bombe traf das Haus in Köln, das unbewohnbar wurde. Die Schwiegereltern wurden nach Thüringen verschickt; Käthe ging mit den beiden Kindern zurück in ihr Heimatdorf in die Eifel. Dort gab es Arbeit genug. Ihr Vater lag schon lange auf dem Friedhof hinter dem Dorf; ihre Brüder waren ebenfalls zur Wehrmacht eingezogen. Die Arbeit musste von Käthe, ihrer Schwester Maria und der alten Mutter bewältigt werden. Die Mutter tat noch an Arbeit, was sie vermochte. Ein französischer Zwangsarbeiter half bei der Feldarbeit.
Es war ein schweres, einsames Leben, denn gesprochen wurde nicht viel auf dem kleinen Hof. Was sollte man auch sagen? Es sind harte Zeiten, da muss man durch? Gebetet wurde wahrscheinlich mehr. Käthe hatte große Angst um ihren Mann, der in Russland im Feld stand. Einmal war er schon in Urlaub gekommen auf zehn Tage, ein zweites Mal hatte er als Verwundeter im Adenauer Lazarett gelegen. Schulterdurchschuss. Als es ihm besser ging, durfte er ins Dorf, seine Familie besuchen. Nie hat sie vergessen, wie es war, als nachts jemand die Stufen in den ersten Stock des Hauses emporstieg, die Tür ihres Schlafraums öffnete und an ihr Bett trat. Dem ersten Schrecken wich die Überraschung, dann die grenzenlose Freude, den geliebten Mann wieder im Arm zu haben. In der Nacht musste es gezeugt worden sein, das dritte Kind, ein Sohn, den sie Werner genannt haben. Eine weitere Kriegsverletzung des Vaters, diesmal zerfetzte ihm die Kugel ein Bein, führte ihn wiederum ins Adenauer Lazarett. Da ist schon das Kriegsende in Sicht, Paul hat Angst, nach seiner Genesung wieder in den Kampf geschickt zu werden. Der kleine Werner ist schon fast zwei Jahre alt, man munkelte, die Alliierten würden bald kommen. Da fasste er einen folgenschweren Entschluss, kehrte nicht ins Lazarett zurück, sondern versteckte sich tagsüber auf dem Heu in der Scheune, im Wald oder sonst wo und kehrte abends ins Haus zurück. Das war Fahnenflucht, schmähliche Feigheit vor dem Feind, und darauf stand die Todesstrafe. Einige Wochen vergingen in purer Todesangst, und dann war die Invasion da.
Die Mutter ist in einen leichten Schlaf gefallen, ihre Gesichtszüge haben sich verändert, besonders um den Mund herum hat sich eine auffallende Blässe gebildet. Werner geht zu seiner Frau hinüber, die das Essen vorbereitet. „Sieht nicht gut aus", meint er zu ihr, und sie geht sofort ins Krankenzimmer, um nach Käthe zu schauen. Als sie zurückkommt, sieht sie sehr nachdenklich aus und schüttelt leise den Kopf. „Wir wollen nach dem Pfarrer schicken", meint sie dann, „es ist wohl an der Zeit. Und rufe bitte deine Geschwister an. Sie sollen bald kommen." Werner kann nichts essen, er kriegt nichts hinunter. Er nimmt seinen Platz am Bett der Mutter, das nun zum Sterbelager geworden ist, wieder ein. Seine Gedanken schweifen wieder weit in die Vergangenheit. Er betrachtet das Gesicht der Mutter und hat den Eindruck, als dämmere seine Mutter immer tiefer in einen bewusstlosen Zustand hinüber, der nichts mehr mit normalem Schlaf zu tun hat.
Der Krieg war zu Ende. Alles atmete auf; das Dorf war heil geblieben, von Bomben verschont. In anderen Dörfern und Städten hatte es ganz anders ausgesehen. Die Angst vor den Bomben und vor der Invasion war vorbei. Das Land war in Besatzungszonen aufgeteilt worden, die Eifel zur französischen Zone erklärt. Die Söhne kamen aus dem Krieg zurück, und aus Köln kam eine Nachricht. „Sohn, komm, hilf uns, das Haus instand setzen." So, oder doch ähnlich muss es gewesen sein. Die Familie, inzwischen fünfköpfig, wollte nach Köln zurück. Sie wussten, das Haus war halb zerstört, es würde schwierig sein, dort zu wohnen. Da bot die Tante an, ein Kind auf dem Hof zu behalten und es so lange zu versorgen, wie es nötig wäre. Und so geschah es dann. Sie wählte das Mädchen, das sie innig liebte, und das mit ihr zusammen im Bett schlief. Und das Mädchen, inzwischen vier Jahr alt, blieb gern bei ihr.
Die Familie kehrte nach Köln zurück und richtete sich so, wie es eben möglich ist, wohnlich ein. Der Vater hatte noch keine feste Arbeitsstelle, noch herrschte Mangel an allem. Er schaffte als Knecht auf dem nahe gelegenen Gutshof, man holte ihn, wenn er gebraucht wurde. So konnte er ab und zu wieder in das Eifeldorf fahren, um dort Butter, Eier und Speck zu organisieren, denn nur gegen diese Lebensmittel waren die immer noch raren Baustoffe zu haben. Nun konnte das Haus Zimmer für Zimmer und nach und nach wieder in einen bewohnbaren Zustand versetzt werden. Doch musste er jedes Mal aus der britischen in die französische und zurück aus der französischen in die britische Zone wechseln. Es war streng verboten, Waren über diese Grenzen zu schmuggeln. Man half sich damit, vor der Zonengrenze den Zug zu verlassen und durch den Wald über die Grenze zu laufen, um dann wieder ein paar Bahnstationen weiter in den nächsten Zug einzusteigen. Das wussten aber auch die Grenzer, die Obacht gaben und die Leute erbarmungslos filzten, wenn sie sie erwischten. So erging es ihm auch einmal oder vielleicht mehrfach, denn er berichtete mit Tränen in den Augen davon, wie sie ihm den Rucksack leer räumten, und die ganze Fahrt war umsonst gewesen. Nach und nach treffen die Geschwister ein und setzen sich zur sterbenden Mutter. Man sieht, dass es nicht mehr lange dauern wird. Leise unterhalten sie sich, manchmal geht einer für ein paar Minuten hinüber in die Wohnstube, denn es tut weh, der Mutter beim Sterben zuzuschauen. Auch wenn sie alle erwachsen sind und schon selbst große Kinder haben, in dem Moment werden sie wieder selbst zu Kindern, die hilflos zuschauen müssen. Werner hat schon viele Verwandte so sterben sehen, aber es ist immer wieder neu. Der Tod hat etwas Bedrohliches. Etwas, gegen das man sich nicht wehren kann.
Wann fand der Kindertausch statt? Er überlegt, kann sich nicht mehr genau erinnern. Seine Schwester erinnert sich dagegen noch ganz genau: „Das muss 1949 gewesen sein. Der Onkel war krank aus der Gefangenschaft nach Hause gekommen und hatte die Tante geheiratet, die den Krieg hindurch auf ihn gewartet hatte. Er war damals schon 38 Jahre alt, die Tante 34. Sie wollten natürlich Kinder haben, doch die Tante erlitt eine Fehlgeburt und konnte keine weiteren Kinder mehr bekommen.
" Der Onkel, der den elterlichen Hof übernommen hatte, wollte trotz allem einen Nachkommen und Erben. Da musste der Gedanke gewachsen sein, den letztgeborenen Sohn der Schwester wieder ins Eifeldorf zu holen. Wenn er schon selbst keine eigenen Kinder haben konnte, so sollte es nicht das Mädchen, sondern ein Junge sein, mit allen Rechten und Pflichten eines richtigen Sohnes ausgestattet. Dem Mädchen wollte er nicht die gleichen Rechte zugestehen wie dem Neffen, aus welchen anachronistischen Gründen auch immer. Die Eltern haben nie darüber gesprochen, was sie empfunden hatten, als man mit dem Ansinnen an sie herangetreten war. Die Kinder wurden nicht gefragt. Die Tochter kam nach Köln zu den Eltern, und Werner ging ins Eifeldorf zu Onkel und Tante. Das Mädchen litt sehr unter dem Verlust der Tante, die ja die Mutterstelle eingenommen hatte und einzige Bezugsperson war.
Vielleicht ist ganz tief in seinem Inneren ein winziges Stückchen Groll in ihm auf die Eltern, besonders auf die Mutter geblieben, die ihn weggegeben, ihn ihrem Bruder geschenkt hat. Er kann sich an die paar Jahre, die er in Köln gelebt hat, nur bruchstückhaft erinnern, er war zu klein. Schließlich wurde das Eifeldorf sehr schnell wieder zu seiner Heimat. An Festtagen besuchte er seine Eltern und Geschwister in Köln, und die Geschwister verbrachten ihre Sommerferien bei ihm auf dem Bauernhof im Eifeldorf. In Köln hat er sich später nie zu Hause gefühlt; es war immer nur ein Besuch auf Zeit. Nach der Schulzeit wurde ihm freigestellt, nach Köln zurückzukehren, einen Beruf zu erlernen oder aber auf dem Hof des Onkels zu bleiben und dort zu arbeiten. Werner erinnert sich, dass er nicht sehr lange überlegt hatte. Der Hof war sein Zuhause, Onkel und Tante seine Bezugspersonen. Hier war Sicherheit, sein Platz, sein Zuhause. Die Wahl fiel ihm nicht schwer. Die Mutter ist gerade gestorben. Nachdenklich betrachtet er ihr Gesicht, das jetzt ganz entspannt ist. Sie sieht so friedlich aus, denkt er, und dabei hat sie doch so ein schweres Leben gehabt. „Warum hast Du mich fortgegeben", fragt er, aber er fragt es nicht laut, „ich hätte niemals auch nur auf eines meiner Kinder verzichten mögen." Ob sie sich jemals schuldig gefühlt hat ihm und seiner Schwester gegenüber? Vielleicht hatte man sie sogar gedrängt, ihr keine Wahl gelassen. Im Fokus stand der Wunsch des kinderlosen Ehepaares, dann war da noch die alte Mutter, die sicher für jeden der Ihren das Beste wollte und ihnen möglicherweise gut zugeredet hatte ...
Aber er ist seiner Mutter nicht gram, ihm ist es ja immer gut gegangen, er hat Menschen gehabt, die ihn liebten. Und er hat eine eigene Familie, eine Frau, Kinder, die zu ihm gehören, die ihn lieben. Er ist sicher, dass seine Mutter auch ihn geliebt hat. „Heimat ist kein Ort", denkt er, „Heimat ist da, wo die Menschen sind, die man liebt. Heimat ist da, wo man sich zuhause fühlt, wohin man von einer Reise gern wieder zurückkehrt.