Heimat

Joachim Spohr, Densborn

Das schöne Titelfoto des vor mir liegenden Heimatjahrbuchs 2015 ist für mich persönlich geradezu symbolisch: Ausgerechnet jetzt, da die Sonne meines Lebens sich dem Horizont nähert, lässt sie mit ihren letzten Strahlen noch einmal die Landschaft meines Herzens aufleuchten: eine Wiese voller Blumen! Nur lagen die Wiesen meiner Kindheit in einem winzigen Dorf im Osten Thüringens, wo meine Mutter mitsamt ihrem Vater, meinem älteren Bruder und mir Zuflucht gefunden hatte. Ein Familienfreund hatte uns zunächst aus dem brennenden Gera geborgen und dann auf seinem Gehöft untergebracht. Heute sehe ich aus unserm Haus in Densborn an der Kyll wieder auf eine Pferdekoppel am Fuß des Hangs hinunter, genau wie damals. Dort grasen, direkt hinter unseren Apfelbäumen, der Braune und der Apfelschimmel des Nachbarn. Fein säuberlich knabbern sie alles Fressbare rund um die Butterblumen ab. Nur die bleiben stehen - also brauche ich bloß durch den leicht elektrisierten Zaun zu steigen, um mir riesige goldgelbe Sträuße davon zu holen. An dem Tag im Jahr 1944, als wir vor dem zerbombten Haus standen, in dessen drittem Stock wir gewohnt hatten, starrte ich hingerissen auf die Riesenpuppenstube vor uns: Hier stand ein Klo, dort schwankte eine Deckenlampe und da hing ein Spiegel über der Badewanne ... Was war nur in Mutter und Bruder gefahren? Doch hier war offenbar Heulen angesagt, also hielt ich es für klüger, ebenfalls loszuplärren. Jahre, nachdem mein Vater heimgekehrt war, zogen wir im Ammerland, südlich vom Jadebusen, in ein eigenes Häuschen. Wir Kinder des Neubaugebiets spielten in den Rohbauten verstecken, nur begriff ich nicht, wieso man jetzt wieder Häuser bauen konnte - und schwor mir, nie im Leben ein Haus zu bauen. Dass es dann doch anders kam, liegt an meiner Frau. 1990 erbte sie eine kleine Summe und kaufte sich davon eine Obstwiese am Hang über Densborn. Als Enkelin eines Bauern wusste sie, dass man Geld am besten in Grund und Boden anlegt. In Densborn verbrachten wir, die wir in Köln wohnten und arbeiteten, seit Mitte der Achtzigerjahre immer die Wochenenden. Die ersten paar Jahre lang wohnten wir in der Burg, mussten unsere Wohnung dann aber aufgrund von Eigenbedarf aufgeben. Die nächsten zwei Sommer verbrachten wir in der auf dem Meinsberg gelegenen Scheune des Bauern Fritz Schellen; dessen Schwiegersohn hatte diese teilweise zur Ferienwohnung umgebaut. Da oben hatte man einen Panoramablick über das ganze Kylltal von Bruderholz bis zur Bertradaburg. Dort gab es zwar nur eine funzelige alternative Küchenbeleuchtung und ein Plumpsklo, aber man konnte DURCHATMEN! Unser Wasser holten wir im 20-Liter-Kanister aus dem Wald vom Überlauf der Pumpstation. Es war das reinste Paradies. Bis Fritz Schellen 60 Schafe anschaffte, die dort oben grasten. Ihr Lieblingsplatz war eine Suhle direkt vor der Eingangstür, über der Millionen von aggressiven Fliegen summten und das ganze Haus besetzten. Daraufhin konnten wir ein leer stehendes Haus an der Ladestraße mieten, gegenüber vom Bahnhof, wo wir ein ganzes Jahrzehnt wohnen blieben - bis das Haus abrissreif war. Inzwischen hatte ich 1996 eine schwere Gehirnblutung erlitten, die mich zwar auf Jahre hinaus beeinträchtigte, von der ich mich aber dank einer kompetenten und langwierigen Reha dann doch wieder so weit erholte, dass ich meine Tätigkeit als Übersetzer wieder aufnehmen konnte. Vor allem aber führte dieser Einschnitt meine Frau zu der Entscheidung, auf unserem zum Teil erschlossenen Wiesengrundstück ein Haus zu bauen. Sie brauchte mich nicht lange zu überzeugen: Allen Kindheitsschwüren zum Trotz sehnte ich mich nach einem geruhsamen Alterssitz. Während des Hausbaus boten uns unsere Freunde vom Demeterhof „Aufm Steinich" Unterschlupf. 2004 zogen wir in unseren nagelneuen Holzständerbau ein. Es sollte weitere zehn Jahre dauern, bis wir auch unsere beruflichen Büros nach Densborn verlegten und ganz hierher zogen - wo wir so viele neue und bereichernde Freunde gefunden haben, dass uns vor der Zukunft nicht bange ist. So haben wir alle beide unsere eigentliche Heimat (wieder)gefunden. Jede freie Minute verbringe ich in unserem Garten oder gehe durch Wald und Wiesen spazieren, immer meiner alten Leidenschaft frönend: im Herbst Pilze zu sammeln und im Frühling kleine Sträußchen zu pflücken. Nur haben wir leider nie genug Vasen ... Auch unser Sohn, inzwischen 38 Jahre alt und Vater eines einjährigen Jungen, fühlt sich hier heimischer, als er sich je in Köln gefühlt hat. Er ist zwar nach Australien ausgewandert, betrachtet aber sein Densborner Elternhaus als seinen „Stammplatz". Seit Neuestem singen wir im Densborner Projektchor „Elija Lauda" mit - was, wie uns Freunde versichern, das Gütesiegel jedes gestandenen Densborners ist.