In die Fremde

Christine Kaula, Wipperfürth

1842 in einem kleinen Eifeldorf. Franz und Magdalena saßen in ihrer kleinen Küche am Tisch. Es war spät in der Nacht, die vier Kinder, zwei Jungen und zwei Mädchen, waren schon zu Bett. Es hatte lange gedauert, bis die Kinder eingeschlafen waren, denn sie hatten hungrig zu Bett gehen müssen. Magdalena weinte. „Franz, ich kann bald nicht mehr. Die Kinder haben ständig Hunger, und wir können ihnen nicht genug zum Essen geben. Paul hustet seit Wochen, kein Geld für den Doktor ist da. Und ich sie schwieg verschämt, „ich bin schon wieder schwanger." Sie sprach den in ihrem Dorf gebräuchlichen Dialekt, den so leicht kein Fremder verstanden hätte. Franz starrte auf seine verarbeiteten Hände, die nutzlos in seinem Schoß lagen. Die Zeiten waren die schlechtesten, die das Ehepaar jemals erlebt hatte. Nun erlebte man schon die zweite Hungersnot innerhalb weniger Jahre. „Wenn man nur satt Kartoffeln und Brot hätte", seufzte er. „Das Jammern bringt auch nichts", gab Magdalena gereizt von sich. Sie gab sich einen Ruck. „Die Beckers Maria hat heute einen Brief bekommen von ihrem Heinrich. Du weißt, dass ihr Sohn vor drei Jahren nach Amerika ausgewandert ist. Er hat ihr jetzt sogar Geld geschickt, und es geht ihm viel besser als uns hier. Lass es uns doch auch wagen .". Jetzt war es heraus, das, was ihr so lange schon auf der Seele gelegen hatte. Franz blickte auf. „Wir sollen fort? Weg aus unserem Dorf, aus unserem Zuhause? Nach Amerika?" Er konnte kaum glauben, dass dies seine Frau wirklich gesagt hatte. „Schau", versuchte sie zu erklären, „wir haben nur die Hütte hier und das bisschen Wiese, Acker und Vieh, was durch den Tod deiner Eltern als Erbteil an dich gekommen ist. Der letzte Winter dauerte bis Trinitatis. Die Missernten aufholen können wir nie mehr. Bis dahin sind wir längst verhungert!" Ihre Stimme hatte sich immer mehr gestei- gert, bis sie schließlich zum verzweifelten Notschrei geworden war. Aus der Schlafstube, die gleich neben der Küche lag und die das Ehepaar mit den Kindern teilte, erklang lautes Weinen. Sie schwieg, verärgert, dass sie sich nicht habe beherrschen können, lief sie in den Nebenraum. Franz hörte scheltende Worte, das Weinen verstummte, aber seine Frau kehrte nicht in die Küche zurück. Er löschte den Kerzenstummel, der den Raum nur sparsam erhellt hatte, und ging in den Stall, wo er sich erschöpft ins Heu warf. Unruhige Träume ließen ihn immer wieder erwachen, wie gerädert erhob er sich am nächsten Morgen und betrat die Küche noch vor Tagesanbruch. Der kleine Paul war schließlich an seinem Husten gestorben, Auszehrung hatte die Hebamme die Krankheit genannt. Man hatte sie zu Hilfe gerufen, als der Kleine plötzlich begonnen hatte, Blut zu erbrechen. Aber niemand konnte ihm helfen. Der Pfarrer war gekommen und hatte ihm durch die letzte Ölung den Weg ins Himmelreich gebahnt. Es gab keinen anderen Trost. Hager und hohläugig stand Magdalena am Grab ihres Kindes. Ihre Schwangerschaft war weit fortgeschritten, aber nur der hervortretende Bauch ließ ihren Zustand erkennen. Arme und Beine der Schwangeren waren klapperdürr, ihre Brust, die unter anderen Lebensbedingungen sicher immer praller und voller geworden wäre, hob sich kaum vom mageren Oberkörper ab. Als die Familie nach dem Begräbnis wieder zu Hause angekommen war, ließ Franz schließlich einen Sinneswandel erkennen. „Ja, wagen wir es, ziehen wir über den großen Ozean. Schauen wir, ob uns dort ein besseres Leben erwartet!" Und dann war es auf einmal so, als ob jemand im Dorf eine Lawine losgetreten habe. Nicht nur Franz und Magdalena, auch fünf andere Familien entschlossen sich mit einem Mal zur Auswanderung. Man wollte nach Nordamerika, in den Staat Wisconsin. Dort hatte sich auch der Sohn der Nachbarin niedergelassen. Die Männer taten sich zusammen und fragten zunächst den Pfarrer, was zu tun sei. Der noch junge Geistliche wollte sich nach einigen Überlegungen den Auswanderern anschließen. Er nahm Kontakt auf zu einem Agenten, der ihnen bei der Erledigung vieler Formalitäten und der Schiffspassage helfen sollte. Unter anderem mussten Reisepässe und die Entlassung aus der preußischen Staatsbürgerschaft beantragt werden. Dadurch verlören die Auswanderer jedoch ihre bisherige Staatsbürgerschaft. Es würde Monate dauern, bis alles erledigt und man reisefertig sein würde. Zwischenzeitlich war dem Ehepaar ein kleines Mädchen geboren worden. Nun bestand die Familie wieder aus sechs Personen. Man hatte noch einmal eine leidlich gute Ernte erwirtschaften können, was die Pläne für einen Augenblick zum Wanken gebracht hatte. Aber Magdalena war hart geblieben. Sie wollte und wollte nicht mehr in dieser Armut leben. Sie wollte und wollte nicht mehr das hungrige Weinen ihrer Kinder hören. Dann an einem der letzten Tage in der alten Heimat saß sie vor ihren Habseligkeiten und sortierte aus. Was war entbehrlich, was konnte man noch verkaufen, was musste man mitnehmen? Es war nicht viel, die paar Kleidungsstücke waren rasch zusammengetragen, Wäsche und Gebrauchsgegenstände wurden in Körbe verpackt oder zu Bündeln geschnürt. Dicke Tränen fielen in Magdalenas Schoß, als sie das Medaillon mit der Locke des verstorbenen Sohnes in Händen hielt. Nur an Sonntagen hatte sie es getragen. Sorgsam packte sie es ein. Entbehrliches Hab und Gut wurde verkauft und alles Geld zusammengekratzt, was sich nur irgendwie auftreiben ließ. Eines Tages war es dann so weit. Das Ehepaar besuchte Magdalenas Mutter, die im Dorf wohnte, und Pauls Onkel, der bei einem seiner Söhne lebte, um sich zu verabschieden. Auch den eigenen Geschwistern musste man Lebewohl sagen. Das waren schwere Stunden, wussten sie doch, dass sie sich niemals im Leben wiedersehen würden. Die Auswanderer-Familien stellten einen Treck aus Pferde- fuhrwerken zusammen, mit dem sie die weite Reise nach Bremerhaven antreten wollten. Von dort aus würde man mit einem Schiff in die Neue Welt aufbrechen. Und eines Tages standen die Aussiedler aus der Eifel am Kai und staunten die Brigg an, die dort vor Anker lag. Dieser Zweimaster sollte sie nach Amerika bringen. Magdalena stand neben ihrem Mann, das Kleinste auf dem Arm und die anderen Kinder dicht um sich geschart. Ihre Lippen bebten. „Ich will nicht mehr nach Amerika", flüsterte sie kaum hörbar, „ich will zurück in mein Dorf. Wer weiß, was in der Fremde auf uns zukommt. Ich fürchte mich." Magdalena, die immer so stark und fest geblieben war bei allem, was ihr im Leben begegnet war, hatte plötzlich Angst. Panik im Blick wollte sie sich umwenden und Hals über Kopf davonrennen. Die Heimat zu verlassen, erschien ihr auf einmal undenkbar. Jetzt plagten sie Verlustängste. Die Furcht vor dem Unbekannten nahm ihr fast den Atem. Ihr Mann fasste sie am Arm: „Wir sind so weit gekommen, jetzt werden wir auch die Überfahrt überstehen. Wir sind nicht allein. Fünfundzwanzig reisen mit uns, und der Pfarrer ist auch dabei. Uns kann nichts geschehen." Der Pfarrer, der Magdalena beobachtet hatte, trat herzu: „Gott wird helfen, dass wir eine neue Heimat finden. Du musst Vertrauen haben." Langsam fasste sie sich wieder. Gemächlich ging die Einschiffung vonstatten. Als alle Auswanderer das Schiff betreten und sich auf dem Zwischendeck eingerichtet hatten, stand Magdalena noch lange an der Reling und schaute in Richtung des entschwindenden Landes. „Jetzt sind wir heimatlos", ging es ihr durch den Kopf und eine letzte Träne rann über ihre Wange. Dann aber ballte sie ihre Fäuste und straffte die Schultern: „Aber ich will ein neues Zuhause finden für mich und meine Familie." Hierauf wandte sie sich um, einer neuen Zukunft entgegen, und vielleicht auch einer neuen Heimat.