Briefe aus Asuncion in die Eifelheimat

Wilma Herzog, Gerolstein

Aus Paraguay, wo - wie er es gern beschreibt - der Mond verkehrt herum hängt, sendet Leo Baum mir am 3. Mai 2001 diese Antwort auf meine vielen Fragen, die seinen Abschied als jüdischer Mitbürger aus seiner geliebten Heimatstadt Gerolstein und sein Leben seither in jenem fremden Land betreffen. Der Umschlag, von ihm selbst gemacht aus dünnem braunen Papier, enthält neben seinem vielseitigen Bericht einige ihm gewiss unersetzbare Erinnerungen, die er mir dennoch anvertraut und per Einschreiben sendet. Die Fotos zeigen ihn mit seinen Eltern auf der Rancho im Urwald, mal hoch zu Ross, mal als Kind mit seinem Bruder Sigmund und mit seiner Mutter. Das Passbild seines Vaters Ludwig trägt auf der Rückseite den Stempel, dass es im Fotohaus Anton Maucher in Gerolstein gemacht wurde, genau wie viele alte Fotos aus meiner Familie. Leo Baums Schriftzeichen sind fest geformt und unverändert typisch deutsch, wie die seiner Schulkameraden, die von Lehrer Brücker unter Rektor Martin Krock erst in der Gerolsteiner St. Anna- später in der St. Josef-Schule unterrichtet wurden. Seine Berichte enthalten keinen einzigen Tropfen Bitterkeit, sie sind vielmehr geprägt von inniger Liebe und Verbundenheit zur Heimat und von Dankbarkeit, dass sie ihn so formte, mutig in der zweiten Heimat Paraguay Fuß zu fassen. Er illustriert seine Briefe mit netten kleinen Zeichnungen, der Machete, der Maniokwurzel, auch mit dem verkehrt hängenden Mond. Auf Einladung von Elisabeth Faber besuchte Leo Baum 1988 erstmals nach 50 Jahren seine Heimat Gerolstein für zwei Wochen. Damals traf ich ihn zum ersten Mal. Seither tauschen wir Briefe. Lange bevor erste Weihnachtsgrüße von Verwandten und Freunden aus dem Inland eintreffen, liegt sein Weihnachtsbrief aus dem fernen Paraguay schon vor, mit christlichen Motiven und Briefmarken. Seit 1989 beginnen wir jedes Jahr mit seinem herzlichen Segenswunsch aus Paraguay. Leos tiefe Verbundenheit mit seinem Gerolstein und sein immer noch schmerzliches Heimweh veranlassten mich, den Antrag für eine würdige Erinnerung an die ehemaligen Mitbürger jüdischen Glaubens an die Stadt Gerolstein zu richten. Dafür ließ Leo mir vom jüdischen Museum in Paraguay eine Dankurkunde ausstellen, die er als letzter noch lebender Geflohener nach Südamerika unterzeichnete. Aus Leos Briefen erfuhr ich viel über ihn, auch dass auf den Gräbern seiner verstorbenen Eltern nunmehr Steine aus ihrer Gerolsteiner Heimat liegen. Aufmerksame Ge- schenke - wie das aus Eifeler Roggen gewundene Kränzchen, das diese gütige, inzwischen verstorbene Gerolsteinerin Elisabeth Faber ihm aus seiner geliebten Eifel übers Meer sandte. Leo Baum schreibt:
„Im Juni 1935 entschloss ich mich zur Auswanderung nach Paraguay. Es dauerte, bis ich die Papiere zusammen hatte. Es war ein langer Kampf. Denn neben dem Reisepass waren es insgesamt 21 Bescheinigungen, die ich benötigte. Ende Dezember 1936 verließ ich unser unvergessliches Gerolstein und meine Klassenkameraden und -kameradinnen und den Bekanntenkreis. Meine Reise ging nach Aachen, dort wurde der Zug verschlossen. Die Gestapo kam und kontrollierte meine Papiere, fragte wie viel Geld ich habe. Ich durfte für die Reise 50 Mark mitnehmen, ich hatte aber viel weniger. Da fragten sie, warum. Ich sagte, ich sei ein Armer und habe nicht mehr. Der Zug fuhr ab nach Brüssel, die Übernachtung war im Hotel der Schiffgesellschaft. Es war ein französisches Schiff, zu dem wir am nächsten Tag Richtung Antwerpen fuhren. Wir waren 350 Passagiere Richtung Portugal. Fünfzehn Tage sahen wir nur Himmel und Wasser. Dann sahen wir abends um sieben Uhr auf einmal das Lichtermeer von Rio. Um zwölf Uhr Mitternacht kamen wir an und am nächsten Morgen ging es nach Santos in Brasilien... In Montevideo hatte ich eine Cousine mit zwei Brüdern, sie waren schon ein Jahr lang dort. Ich blieb drei Wochen bei ihnen, weil mein Schiff zur Weiterfahrt noch nicht da war. Mir gefiel es dort auch sehr gut, aber mein Ziel war Paraguay. Es war ein kleiner Flussdampfer für nur elf Passagiere, der uns dorthin brachte. Nachts ankerte das Schiff, denn es fehlte Wasser im Fluss. Nach elf Tagen kam ich in meiner neuen Heimat an. Es war der 5. März 1937; es war Morgen; der Eindruck war groß. Ich hatte mich nicht getäuscht. Meine Tante, die Frau von Beni Baum, holte mich ab. Es ging sechs Stunden im Zug nach Villarika, 175 Kilometer von Asuncion entfernt. Dann ging es mit einem kleinen Lastwagen in die Colonie, es waren nur 50 Kilometer, aber eine Fahrt von fünf Stunden. Der Weg war schlimmer als der schlechteste Feldweg bei Euch. Wo ein Bach oder ein Graben war, lagen zwei dickere Bretter, da fuhr man drüber weg. Ja, es war ein Abenteuer für mich. Nun ging es wirklich für mich in den Urwald.... Im Oktober 1938 kamen meine Eltern nach Villarika, ich fuhr sie empfangen mit einer Karre mit einem Gespann mit sechs Ochsen ... Ich hatte schon mein Land, es waren 20 Hektar mit einem Bretterhaus und mit Petroleumbeleuchtung, aber man fühlte sich wohl dabei ... Mein Vater starb im Februar 1941 und meine Mutter am 31. Dezember 1942. Einige Wochen später ging ich nach Villarika und arbeitete in einer Konditorei, dort machte ich auch Speiseeis, 120 Liter am Tag mit einer handbetriebenen Maschine, denn Strom gab es nur wenige Stunden. Dann ging ich nach Asuncion und bekam gleich Arbeit in einem Delikatessengeschäft mit Speise- und Bierausschank. 1945 heiratete ich und hatte dieses Geschäft 18 Jahre. Ich gab den Laden auf und kaufte ein größeres Auto, ließ sechs Scheiben einsetzen und zwölf Sitze und arbeitete oft 18 Stunden damit pro Tag als Taxifahrer, an manchem Tag fuhr ich 260 Kilometer, was hier bei den Straßenverhältnissen viel war ... Auch litt ich zehn Jahre an Malaria. Das Fieber überfiel mich plötzlich und sehr hoch, am nächsten Tag, wenn's fort war, wurde wieder gearbeitet ... Ich kaufte das Land damals, damit ich meine Eltern aus Deutschland kommen lassen konnte. Zu der Zeit musste man fünf Jahre hier sein, aber weil ich das Land hatte, bekam ich die Erlaubnis meine Eltern früher kommen zu lassen ... Mein Land waren vier Hektar zum Bepflanzen und 16 Hektar Wald. Hier ist der Wald ganz dicht verwachsen mit Gestrüpp. Ohne Machete, das Messer mit der gebogenen 60 Zentimeter Klinge, kann niemand in den Wald. Erst muss man den Wald so weit frei schneiden, dass man an die Bäume kommt, die wurden gefällt und zwar mit der Axt, so in etwa einem Meter Höhe. Das Astwerk wurde abgeschlagen. Das ließ man alles gut einen Monat liegen, um es dann bei heißer Sonne und Wind anzuzünden. Da kannst Du mal ein Feuer sehen! Man wartet den ersten Regen ab und sät Mais; in zwei bis drei Tagen kommt er schon heraus. Später pflanzt man Manioka, das essen wir als Kartoffeln. Manioka ist eine Wurzel, sie kam aus China ... Ich rodete auch viel Wald für andere Leute. Heute geht das alles mit Traktoren. Ich hatte kein Vieh, denn dafür hätte ich zuerst Gras anlegen müssen. Ich hatte nur eine Hacke, damit hielt ich alles Unkraut fern. Pflügen kann man gerodeten Urwald erst nach zwei Jahren, wenn liegengebliebene Baumstämme trocken sind zum Verbrennen ... Angebaut werden hauptsächlich Baumwolle, Mais, Manioka, Bohnen, Bananen. Es gibt auch viele Apfelsinen und Mandarinen. Doch Apfelsinen, die im Wald wachsen, sind die besten. Man findet diese Waldapfelsinen nur dort, wo Affen sich aufhalten ... Yerber, der bekannte Mate, sind kleine Bäumchen, die nach vier Jahren erstmals geerntet werden können, danach jedes Jahr. Ja, ich habe viel gearbeitet, aber der liebe Gott hat mir immer geholfen - bis heute. Am 5. März waren es 64 Jahre, dass ich hierher gekommen bin, aber meine Heimat und meine Bekannten werde ich nie vergessen!"... Wir Gerolsteiner werden Dich auch nie vergessen, lieber Leo Baum! Leo Baum starb am 18.02 2005 in Asuncion, Paraguay.

Leo Baum mit seiner Familie

Dankurkunde aus Paraguay