Die Auswandererbrüder Veling aus Hillesheim

Mit der preußischen Uniform im Koffer nach Amerika

Dr. Gisela Veling-W arnke, Newton, MA, USA

Es ist das Jahr 1851. Es ist Dezember. Martin Joseph Veling ist 25 Jahre alt und hat gerade vor dem königlichen Prüfkollegium in Berlin sein Apothekerexamen mit „cum laude" bestanden. Er schickt von dort einen Brief an seine Geschwister, daß er der festen Überzeugung ist, „daß Ihr heute morgen das Däumchen recht fest für mich drücktet und, dadurch mein Glück wesentlich befördert wurde" und unterschreibt stolz mit Apotheker I. Klasse. Zuvor war er an der Universität in Gießen für das Fach Chemie immatrikuliert (1). Davor absolvierte er seit dem 16. Lebensjahr eine Apothekerausbildung in der Apotheke seines Vaters Hermann Joseph Veling (2). Er soll nun in die Apotheke seines Vaters in der Medicinalstrasse, heute Augustinerstraße, in Hillesheim miteinsteigen. Der Plan ist, daß er später die Apotheke übernimmt. Sein älterer Bruder, Lambert Joseph Veling, der ebenfalls als Apotheker ausgebildet ist, war eigentlich dafür vorgesehen, kam jedoch durch einen Ertrinkungsunfall im Rhein zu Tode, was für die Familie ein herber Schicksalsschlag war. Die Freude des Vaters war wohl groß, als Martin Joseph von seinem Examen nach Hillesheim zurückkehrte und die Tätigkeit in der „Veling'schen" Apotheke, heute Löwenapotheke, aufnahm. Die Dinge entwickelten sich jedoch ganz anders, als der Vater es sich gewünscht hatte. Martin Joseph hatte beschlossen, auszuwandern. Er wollte die Apotheke, Hillesheim, die Eifel und sein Land verlassen, um einem stärkeren Drang nachzugeben: seiner Abenteuerlust. Er wollte aber sicherlich auch der Strenge seines bürgerlichen Elternhauses, der verarmten | und geplagten Eifel, sowie den politischen Wirren entfliehen. Angeregt durch Berichte und Briefe anderer Auswanderer, sowie von Werbeplakaten und Annoncen diverser Schiffahrtsgesellschaften oder deren Agenten, die in die Städte kamen, inspiriert, ganz so wie in dem Filmepos ^ von Edgar Reitz „DIE ANDERE HEIMAT" dargestellt, trugen zu seinem Traum nach einer aufregenden Zukunft mit bei. ■ Möglicherweise kam Martin Joseph in seinem Gießener Studienort mit den begeisterten 1 Nordamerika Berichten des Arztes Gottfried Duden und seinem Buch, das sich in hoher Auflage verkaufte, in Berrührung. Auf Grund der Du-den'schen „Amerika-Werbung" wurde 1833 in Gießen die „Gießener Auswandergesellschaft" gegründet, die in Amerika eine neue und freie „deutsche Kolonie"gründen wollte, „die natürlich ein Glied der Vereinigten Staaten werden müsste, doch mit Aufrechterhaltung einer Staatsform, welche das Fortbestehen deutscher Gesittung, deutscher Sprache sichern und ein echtes, freies und volkstümliches Leben schaffen sollte."(3) Möglicherweise wollte Martin Joseph aber auch dem langen und strengen preußischen Militärdienst entfliehen, da er auf keiner offiziellen Auswandererliste zu finden ist. Dann wäre er zu den „heimlichen Auswanderern" zu zählen, die ohne gültige Papiere die Heimat verließen. Ob er den Vater über seine Pläne informierte bleibt offen, wenn überhaupt dann wahrscheinlich kurz vor seiner Abreise. Denn nur 10 Monate nach seinem Examen verließ er Hillesheim mit Ziel Amerika. Über Liverpool in England wollte er Europa verlassen. Der damals gängige Reiseweg führte mit Dampfschiffen über den Rhein bis nach Rotterdam, wo man wegen des Wetters manchmal viele Tage ausharren musste. Von Rotterdam ging es per Schiff weiter über die rauhe Nordsee nach Hull in England und weiter mit dem Zug nach Liverpool (4). Martin Joseph startete wahrscheinlich seine Reise in Koblenz. Das Ticket kostete die stattliche Summe von 120 Talern mit Anreise, Zwischenstopp und Unterbringung.

Schwäbischer Merkur 1853

Der Hafen von Liverpool war einer der größten Auswandererhäfen seiner Zeit. Die Stadt war überfüllt mit Auswanderern, die aus vielen europäischen Ländern dort zusammenkamen. In der Regel konnte man nicht sofort sein Schiff besteigen, sondern wurde zunächst in eine der bereitgestellten Massenunterkünfte untergebracht, die lediglich mit Holzpritschen ohne Decken ausgestattet waren. Je nach Wetterlage dauerte es tagelang, bislang auch wochenlang bis man an Bord gehen konnte. Die hygienischen Verhältnisse in den überfüllten Unterkünften waren katastrophal. Es lauerten überall ansteckende Krankheiten. Als es einmal zu einer Choleraepidemie in einem der „lodging houses" kam, wurden die Türen von den „lodging-house keepers" verschlossen und die potientell ansteckenden Cholerainfizierten der Straße überlassen. In spätern Jahren wurden Quarantänestationen eingerichtet (5). Auch die Gefahr, daß das Gepäck von den sogenannten „runners" gestohlen wurde, war groß. Diese steckten meist mit den Unterkunftsbesitzern unter einer Decke. Vor der Abfahrt mußte man sich einem Gesundheitscheck unterziehen. Allerdings waren diese nur sehr oberflächlich, wenn man sich vor Augen führt, daß circa 3000 Ausreisende täglich von nur drei Ärzten gesehen wurden (6).

Liverpool docks

Offensichtlich bei guter Gesundheit schaffte es Martin Joseph an Bord des Segelschiffs „MERIDIAN". Auf der handgeschriebenen Schiffsliste ist er als M. Joseph Veling aufgeführt, 26 Jahre, männlich, German (7). Mehr Informationen wurden von den Passagieren zu dieser Zeit nicht aufgenommen. Es handelt sich in der Regel um Angaben, die bei Ankunft in Amerika festgehalten wurden.

Schiffsliste Meridian 23. Oktober 1852

In spätern

Jahren kamen bis zu 40 Einzeldetails hinzu. Endlich kann es losgehen! Die Reise ins Ungewisse war nicht ungefährlich. Mit einem Segelschiff dauerte die Fahrt rund sechs Wochen, je nach Wetter auch leicht das Doppelte. Eine dreimastige Bark kann bis zu 250 Passagiere transportieren, von denen die meisten ihre Zeit auf den Zwischendecks verbrachten. Der Schlafraum ist eng bemessen, das Essen meist schlecht. Es brechen Infektionskrankheiten wie Thyphus und Cholera aus, es entstehen Brände oder Schiffe sinken bei Sturm und rauher See. Nicht jeder schafft es in die neue Heimat. Martin Joseph hat Glück und geht am 23. Oktober 1852 in New York von Bord der Meridian.

New York, 1854

Er wird sicherlich noch einige Zeit dort geblieben sein, um sich bei anderen deutschen Auswanderern zu informieren. New York war damals zu 78% von Deutschen bewohnt. Er muß sich bei der US Army registrieren lassen und wird schnell eingebürgert. Er nennt sich jetzt Joseph, heiratet schon bald die deutschstämmige Mary Schmitt, die 1847 mit ihren Eltern eingewandert ist. Die weiteren Stationen sind Illinois, Brownsville in Minnesota, Newport in Kenntucky. Mit Mitte 40 läßt er sich in Louisville, Kenntucky nieder. Das Ehepaar bekommt 8 Söhne (Joseph, William, Charles, Thomas, Richard, George, John, Eddie) (7). Zunächst arbeitet er als „phy-sician (Allopathie)", möchte dann aber an der allgemeinen Aufbruchstimung und am Handel teilhaben und wird Geschäftsmann. Er handelt mit Zigaretten (Kenntucky war das Hauptanbaugebiet für Burley tobacco), Alkohol und Zinnwaren, besitzt Saloons. Er hält engen Kontakt mit seinen Verwandten in Hillesheim. Sein sechzehn Jahre jüngerer Bruder Franz Friedrich Veling, von seinen Freunden Fritz genannt, Student der Ingineurwissenschaf-ten und Musik in Stuttgart (polytechnische Schule), ist fasziniert von dem Leben seines Bruders und entschliesst sich ebenfalls gleich nach dem Studium dem Bruder nach Amerika zu folgen. Er verläßt 1865 mit 23 Jahren seine Heimat und sticht mit dem Segelschiff „STELLA" von Bremen in Richtung New York in See. Er gibt als Zielort Chicago an (7). Er ist in Besitz eines Tickets II. Klasse, das ihm möglicherweise sein Bruder bezahlt hat. Zu dieser Zeit hatten sich die Bedingungen für die Auswanderer schon wesentlich gebessert. Die Unkünfte an den Auslaufhäfen unterstanden jetzt den Reedereien, es gab strengere Hygienevorschriften und durch die Einführung von Dampfschiffen war die Überfahrt wesentlich schneller. Franz Friedrich entscheidet sich mit einem Segelschiff den Atlantik zu überqueren, da dies im Vergleich zu einem Dampfschiff nur die Hälfte kostet. In New York geht er durch das Landungsdepot in „Castle Garden" an der Südspitze Manhattans an Land, das seit 1855 Sammelpunkt für Einwanderer wurde. Ab 1892 wurde Ellis Island die erste Anlaufstelle für Immigranten. Franz Friedrich ist der einzige Ingenieur auf dem Schiff; die meisten Mitreisenden sind Bauern oder Handwerker. Kurz nach seiner Ankunft läßt er sich in Philadelphia fotographieren. Das Foto zeigt ihn in preußischer Militäruniform, was die Verbundenheit zu seinem Heimatland zum Ausdruck bringt. Er schickt das Foto nicht ohne Stolz nach Hause. Sein Vater in Hillesheim hofft, daß er den Sohn überzeugen kann, wieder zurückzukehren und schickt seinen dritten Sohn Jacob Ve-ling, der dann später die heimische Apotheke übernimmt, nach Amerika „zur Beobachtung der Brüder", doch der kommt unverrichteter Dinge zurück. Angeblich soll Jacob 2 Jahre in Amerika verbracht haben (8). Franz Friedrich heiratet bald. Seine Frau Elisa geborene V(W)olpert stammt von Eltern aus der deutschsprachigen Schweiz ab, ist aber schon in Pennsylvania (Minersville) geboren. Das Ehepaar läßt sich in Pottsville, PA, nieder. Franz Friedrich nennt sich jetzt Francis oder Fred. Unter den fernen Verwandten wird von „Onkel Fritz" gesprochen. Das Ehepaar bekommt 5 Kinder: Lulu, May, Elsie, Vincent und Katie. Vincent verstirbt früh (7). Franz Friedrich hängt die Ingineuerslaufbahn an den Nagel und widmet sich ausschliess-lich seiner musikalischen Karriere. Er wird Musikdirektor, komponiert und arrangiert (9) spielt Geige in Orchestern (10), unterrichtet Klavier und Geige. Viele seiner Kompositionen und Texte sind als Copyright im „Catalogue of TITLE ENTRIES OF BOOKS" (Copyright Office, Washington) zu finden, wie zum Beispiel „Vergißmeinnicht in der Eifel" (11). Er ist auch literarisch aktiv und schickt seine Heimatliteratur, Gedichte und Lieder nach Hillesheim, wo sie im Hillesheimer Volksblatt veröffentlich werden. In vielen Texten kommt sein Heimweh und seine Sehnsucht nach der Eifel zum Ausdruck, ausführlich beschrieben von Herbert Wagner in Vulkaneifeljahrbuch 1985, „Dir, Eifel, mein Lied!" (13). Die älteste Tochter Lulu wächst zum Kinderstar heran und wird über die regionalen Grenzen hinaus als die Pianistin mit Zukunft gepriesen; prodigy = Wunder (14,15). Der Vater begleitet sie bei ihren Konzertreisen durch Städte wie Philadelphia, Washington, Boston, New York. Lulu wird im Januar 1880 ins Weiße Haus nach Washington eingeladen, um vor der gleichaltrigen Fanny Hayes, der Tochter von Rutherford B. Hayes, 19. Präsident der Vereinigten Staaten, vorzuspielen (16). Die Familie steht in Kontakt mit dem Deutschen Heinrich Engelhard Steinweg, der sich in Henry E. Steinway umbenennt und 1853 die erfolgreiche Klavierfirma Steinway & Sons in New York gründet. Lulu bekommt kostenfrei einen Steinway-Flügel fuer ihre Konzerte zur Verfügung gestellt. Als Witwer zog Franz Friedrich nach Cincin-nati in Ohio, von seinerm Bruder nur durch den Ohio River getrennt. Er wohnt zuletzt in der Race Street Nr. 1328 und arbeitet bis zu seinem Tod als Klavier und Geigenlehrer. Er stirbt nach kurzem Krankenlager am 28. Januar 1911 und wird auf dem Vine Street Hill Cemetery (Friedhof) bestattet.

Bremerhaven um 1875

Der „Deutsche Pionierverein" von Cincinnati hat ihm einen Nachruf gewidmet (17), indem allerdings einige biographische Fakten ungenau oder falsch sind. Die Namen der Brüder sind heute auf der „Wall of Honor" auf Ellis Island, panel 759 zu finden (18) Die Veling-Brüder haben ihren Traum gelebt, haben ein neues Land mitgestaltet und haben dabei nie ihre Heimat vergessen.

Quellen:
1. Berichte und Arbeiten aus der Universitätsbibliothek Giessen 25, von Franz Koessler, 1976, Seite 199, Nr. 3111
2. Landeshauptarchiv Koblenz, Bestand 442, Nr.1736
3. http://www.uni-giessen.de/cms/fbz/fb04/institute/geschichte/di-daktik/uebertrag/ bleiben-oder-gehen.pdf-1
4. http://www.bnmsp.de/home/e.huber/schulmuseum/tagebuch/
5. Liverpool 800, Culture, Character & History, John Belchem
6. http://blog.liverpoolmuseums.org.uk/2009/12/emigrant-lodgings/
7. ancestry. com
8. mündliche Information von Dr. Adolf Veling, Trier
9. http://search.lib.virginia.edu/catalog/uva-lib:1122438
10. gausschildren.org, p.323-234
11. Catalogue of Title Entries of Books and other Articles, 1903, V. 36, No. 3, 1002 p.263
12. Meditation, Special Collection, University of Virginia Library, Char-lottesville, Va. Catalogue Record: http://search.lib.virginia.edu/ catalog/uva-lib:1122438
13. http://www.jahrbuch-vulkaneifel.de/VT/hjb1985/hjb1985.58.htm, Herbert Wagner
14. Signale für die Musikalische Welt, Barthoff Senff, Leipzig, No. 46, 1880, S. 726
15. http://cdnc.ucr.edu/cgi-bin/cdnc?a=d&d=SDU18780525.2.12
16. Music At The White House: A History of American Spirit, Elise K. Kirk, 1986, S. 124
17. Vorstands-Bericht des Deutschen Pionier-Vereins von Cincinnati, Ohio, 1910/11 S.72
18. http://libertyellisfoundation.org/about-the-wall-of-honor

Anmerkungen:
- Martin Joseph und Franz Friedrich Veling sind die Onkel der Eifel-schriftstellerinnen Franziska Bram und Luise Schulze-Brück
- Hermann Joseph Veling ist der Begründer der ersten Apotheke im „Dauner Kreis" (Vulkaneifelkreis).
- zwischen 1830 und 1930 verließen ca. 40 Millionen Menschen Europa; ca. 9 Mill. von Liverpool und 7 Mill. von Bremerhaven. Über 5.5 Mill. Deutsche immigrierten in diesem Zeitraum in die Vereinigten Staaten. 1890 war jeder 9. Einwohner der USA direkter deutscher Abstammung, in manchen Gegenden jeder zweite. 1974 verließ das letzte Auswandererschiff Bremen.
- typische Siedlungsgebiete der deutschen Einwanderer war Pennsylvania, Maryland und New York, um die Jahrhundertmitte dann das German Triangle, das deutsche Dreieck, zwischen Milwaukee (Wisconsin), St.Louis (Missouri) und Cincinnati (Ohio).
- die Freiheitsstatue (Statue of Liberty) wurde 1886 auf Liberty Island eingeweiht.
- Dank an Ulrike Henn, die mir den „Berlin"-Brief zur Verfügung gestellt hat
- Dank an Jürgen Brauns, der mir den „Berlin"-Brief übersetzt hat Email: velingwarnke@hotmail.com Juni 2015