Ostpreußen -Meine verlorene Heimat

Ingrid Hees, Daun

Ich kam im März 1939 in Schwadtken/Ost-preußen zur Welt. Mein Vater stammte aus einer Beamtenfamilie, meine Mutter kam aus der Landwirtschaft. Ich hatte 4 Geschwister. Ein Bruder starb im Alter von 4 Jahren an Lungenentzündung. Wir lebten auf einem Gutshof als „Deputanten" (Landarbeiter), die auch „Instleute" genannt wurden. Auf dem Hofgelände hatten wir ein kleines Haus, eine Kuh, ein Schwein und Hühner. Meine Brüder und ich hatten dort ein schönes Leben, obwohl der Vater an der Front war. Wir tobten in der Scheune, wir suhlten uns mit den Schweinen im Modder. Unsere Mutter nahm es gelassen. Sie spülte uns im „Fleet" (Wassergraben) ab und lachte. Diese für uns Kinder unbeschwerte Zeit endete im Januar 1945 mit der Vertreibung aus unserer ostpreußischen Heimat. Meine Mutter zog mit ihren 4 Kindern los: mein ältester Bruder mit 9 Jahren, ich knapp 6 Jahre alt und die beiden Jüngsten 3 Vi bzw. 2 Vi Jahre alt. Wir waren zu Fuß unterwegs, zogen den mit den Habseligkeiten beladenen Handschlitten hinter uns her. Ich habe viele Erinnerungen an die Flucht, an Übernachtungen in einer Kirche, in einer Fabrikhalle und im Wald. Ich wurde sehr krank. Die Läuse krabbelten von meinem Kopf runter - ein Zeichen, dass ich bald sterben würde. Aber ich bin nicht gestorben. Unsere Mutter hatte einen sechsten Sinn und deshalb sind wir einige Male dem Tod entgangen. Weil Mutter zugewiesene Baracken nicht bezog und mit uns auch eine Nacht in einem Splittergraben verbrachte, entgingen wir einigen Bombenangriffen mit zahlreichen Toten. Man legte Bretter über die Leichen, und wir gingen dann darüber hinweg. Mein Bruder entdeckte auch die notdürftig mit Tannenzweigen zugedeckte Leiche eines kleinen Jungen auf einem Grab. Mutter zog mit uns weiter Richtung Frisches Haff (Teil der Ostsee südwestlich von Kaliningrad), wo wir über das Eis mussten. Wir hatten Hunger, wir waren erschöpft, die Kleinen konnten nicht mehr. Mutter fand ein Federbett und ein Seil, setzte die Kleinen hinein, band alles zusammen und zog so lange über das Eis, bis das Federbett durchgescheuert war und die Kleinen wieder laufen mussten. Einer fiel in ein Eisloch, konnte aber von meinem ältesten Bruder herausgezogen werden. Schlimm war auch der Beschuss der Flüchtlingstrecks durch russische Truppen. Vor unseren Augen versanken Pferdefuhrwerke im eisigen Wasser. Wir wurden irgendwann von Volkssturmleuten in einem Pferdewagen mitgenommen, und irgendwo an der Ostsee hievte man uns mit einem Lastenaufzug auf ein Lazarettschiff - das letzte Schiff, das nach Kiel ging und dort auch ankam. Die Gustloff, die ja vollbesetzt unterging, hatten wir zum Glück verpasst. Wir waren mit dem Schiff 7 Tage unterwegs. Ich kaute an einer Speckschwarte, die mir eine Frau gegeben hatte. Mutter organisierte in der Küche Kaffeesatz, den wir gegessen haben. Anfang Mai hieß es dann „Kapitulation". Alles, was irgendwie mit militärischer Ausrüstung zu tun hatte, musste über Bord geworfen werden, sonst hätte die Versenkung des Schiffes gedroht. Endlich waren wir in Kiel. Müde und halb verhungert verließen wir das Schiff, das uns aus der geliebten Heimat in die Fremde gebracht hatte. Nach einer Odyssee in Kiel, bei der wir gute, aber auch unfreundliche Menschen kennengelernt haben, fand die Familie wieder zusammen. Vater kam 1946 aus der Gefangenschaft. Die Freude war verhalten, der Mann war uns fremd. Ich erinnere mich an Weihnachten bei einer Familie, die mich eingeladen hatte. Dort war es warm, es gab genug zu essen, und ich bekam eine Trainingshose geschenkt. Ich wurde in Kiel eingeschult, kam dort auch in einem Holzbarackenlager zur 1. Hl. Kommunion. Dank Mutters Fleiß ging es ganz langsam aufwärts. 1948 war die Währungsreform mit einem „Kopf-Geld" von 40 DM. 1950 mussten sich meine Eltern entscheiden, in den Schwarzwald oder die Eifel zu ziehen, weil die Lager in Schleswig-Holstein überfüllt waren. Sie wählten die Eifel, und so kamen wir nach Gransdorf (bei Spangdahlem). Meine Eltern und mein ältester Bruder arbeiteten bei Bauern. Ich versorgte die Kinder und half in der Hauswirtschaft, ging ja noch zur Schule. 1955 endete meine Schulzeit, suchte mir Arbeit, war in Luxemburg und Metz beschäftigt und gab selbstverständlich das verdiente Geld zu Hause ab. Es gab gute Arbeitsstellen mit netten Leuten, aber ich spürte in Luxemburg auch den Hass auf die Deutschen wegen des Krieges. Ach, ich hatte doch auch unter diesem Krieg gelitten. Als das von uns bewohnte Haus in Gransdorf verkauft wurde, fanden wir 1958 in Schalkenmehren eine neue Bleibe. Dort habe ich bis 2013 gelebt, geheiratet, Kinder bekommen und eine neue, liebenswerte Heimat gefunden. Vergessen werde ich Ostpreußen nie. Inzwischen habe ich meine alte Heimat dreimal besucht und ein Säckchen Heimaterde sowie einen rohen Bernstein mitgenommen. Mit diesen Erinnerungen möchte ich einmal begraben werden - dann bin ich wieder in meinem geliebten Ostpreußen. Was ich als Kind erlebte, bleibt für immer in meiner Erinnerung: die Schrecken der Flucht, die schlimmen Erlebnisse, Tod, Angst, Hunger und Grausamkeiten, die damals für uns Kinder Alltag waren. Man lernt zu schätzen, wie gut es uns heute geht, weil wir ohne Angst vor dem Krieg leben können.