Zurück in die Heimat!

Hans Gräfen, Darscheid

Allenthalben gibt es im Jahr 2015 einen historischen Termin nach dem anderen. Der Grund ist: Vor 70 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Auch meine Erzählung hat mit diesem Termin zu tun. Grundlage ist die Aufzeichnung meiner Mutter Christina Gräfen (f 1989) aus dem Jahr 1985. In einem neun DIN-A4 Seiten umfassenden Bericht hat sie ihre Erlebnisse zum Kriegsende erzählt. Dies nun alles hier wiederzugeben, wäre zu umfangreich. Getreu dem Motto dieser Ausgabe des Heimatjahrbuchs beschränke ich mich auf den Teil des Berichtes, der ihren beschwerlichen Fußweg zurück in die Heimat beschreibt. Sie war als Luftwaffenhelferin in Barkhausen untergebracht und musste ihre Arbeit in einem Stollen unter Tage im Berg unterhalb des Kaiser-Wilhelm-Denkmals an der Porta Westfalica verrichten. Man fertigte Teile für die Panzerfaust. Dies geschah unter strenger Kontrolle der SS. Zirka zwei oder drei Wochen vor Ostern 1945 - der genaue Zeitpunkt ist nicht überliefert - entschloss sie sich, zusammen mit zwei Kolleginnen und einem jungen Mann mit Vornamen Jupp, der aus St. Vith stammte, den beschwerlichen Heimweg anzutreten. Jupp besaß eine Taschenuhr, diese wurde gegen einen Handwagen eingetauscht. Nun ging es daran, das Gepäck und die Verpflegung auf diesem Wagen zu verstauen. Zur Orientierung nutzten sie eine uralte Bahnreisekarte. Eine Kollegin - Gerda - war aus Aachen, was somit zum ersten Grobziel wurde. Auf Schusters Rappen ist man bekanntlich nicht allzu schnell unterwegs. Sie versuchten, wo immer möglich, auf Bauernhöfen zu übernachten. Da sie nichts geschenkt haben wollten, boten sie jeweils ihre Arbeitskraft an und konnten so für eine Übernachtungsmöglichkeit und etwas Essen sorgen. Mancher Aufenthalt unterwegs dauerte dann schon mal zwei bis drei Tage, bevor es wieder weiter ging. Welche Strapazen und Einbußen sie hinnehmen mussten, kann man kaum erahnen. Schließlich gab es ja noch vereinzelte Gefechte und vor allem Truppenbewegungen der Alliierten. In Duisburg wurden sie von den Amerikanern aufgegriffen. Mit vielen anderen mussten sie sich wie eine Herde Schafe einer Entlausung unterziehen. Dies erfolgte mit dem damals gebräuchlichen DDT-Puder. Ihre Sachen wurden ihnen gelassen. Mittlerweile hatten sie als zusätzliches Transportmittel ein altes Fahrrad bekommen. Dies wurde ebenfalls mit Gepäckstücken beladen. Danach ging es über die Rheinbrücke auf die linke Seite nach Rheinhausen. Wichtig war es, rechtzeitig eine Bleibe für die Nacht zu haben, da man nach 19 Uhr nicht mehr auf der Straße sein durfte. Je näher sie Aachen kamen, desto mehr erkundigten sie sich bei der Bevölkerung nach der Lage in der Umgebung. Ansässige Menschen waren meist sehr hilfsbereit, erklärten den Weg oder gaben ihnen im Tausch Dinge, die sie benötigten. An einer Straßenkreuzung in Richtung Mönchengladbach fragten sie eine Frau nach dem Weg. Da die Fußgruppe offenbar einen vertrauenswürdigen Eindruck machte, wurden sie von ihr nach Hause eingeladen. Dort erzählte ihnen die Frau, dass ihr Mann und ihr Sohn noch im Krieg seien, sie aber nicht wisse, wo. Das war am Gründonnerstag 1945. Meine Mutter und ihre Weggefährten blieben bis Dienstag nach Ostern. Zum Dank gaben sie einen Großteil ihrer Lebensmittelvorräte an die Frau ab. Weiter ging es Richtung Aachen. Dort angekommen, konnte die Freude, sich wieder in die Arme nehmen zu können, für Gerda und ihre Angehörigen kaum größer sein. Nach einer Übernachtung setzten meine Mutter und der Weggefährte Jupp ihren Weg fort. Es war nicht mehr allzu weit bis zur belgischen Grenze. Jupp stellte das Fahrrad an einem Zaun ab, und nach der Verabschiedung machte er sich zu Fuß auf den Weg über die Grenze in seinen Heimatort St. Vith. Der Straßenverlauf ging unmittelbar an der Grenze entlang. Es waren für Jupp noch zirka 120 Kilometer bis nach Hause. Nun war meine Mutter mit ihrem Handwagen alleine unterwegs. Noch keine zwei Kilometer weiter wurde sie von belgischen Soldaten angehalten. Man vermutete wohl, sie wolle über die Grenze. Dem war allerdings weiß Gott nicht so. Aber alles Reden half nichts, es kam ein Militärfahrzeug und meine Mutter wurde samt Handwagen aufgeladen. Sie wurde in einen Ort, der ihr nicht bekannt war, gebracht, und vor einem großen Haus musste sie aussteigen. Inklusive ihrer Habseligkeiten führten sie zwei Soldaten mit Gewehr im Anschlag ins Haus. Es stellte sich als Ortskommandantur der belgischen Armee heraus, die hier nun das Sagen hatte. Es erfolgte eine Überprüfung der Papiere. Das war eine lustige Sache, schreibt meine Mutter, denn außer dem Entlausungsschein der Amerikaner hatte sie keine Papiere. Im Anschluss erfolgte eine Durchsuchung der Habseligkeiten. Nach diesem Prozedere führten sie die zwei Soldaten, wieder mit Gewehr im Anschlag, durchs Dorf in ein anderes Haus. Hier erwartete sie schon eine uniformierte Frau, die sie in ein Zimmer führte. Es stellte sich heraus, dass es ein Gefängnis war. Aber es gab zu essen und zu trinken, und ein Bett war vorhanden. Der Zwangsaufenthalt dauerte vier Tage. Ein Dolmetscher erklärte meiner Mutter am vierten Tag, dass ihre Anga- ben überprüft seien und sie nun weiterziehen könne. Sie bekam sogar das Angebot, mit einem Laster nach Schleiden mitzufahren. Wieder zehn Kilometer, die nicht zu Fuß gemacht werden mussten, und die sie ihrer ersehnten Heimat ein Stückchen näher brachten. Nun orientierte sie sich Richtung Gerolstein. Am folgenden Tag traf sie einen Förster, der sich am Straßenrand ausruhte. Auch er war zu Fuß unterwegs, eines der Haupttransportmittel jener Zeit. Bei einer Durchsuchung seines Hauses hatte man Schusswaffen gefunden und ihn daraufhin verhaftet. Nach Klärung der Angelegenheit war er nun wieder auf dem Heimweg. Er lud meine Mutter freundlich ein, doch mit ihm nach Hause zu kommen. Dort könne sie auch die nächste Nacht verbringen. Gesagt, getan. Beide wurden freudig von der Ehefrau des Försters begrüßt. Diese war überglücklich, ihren Mann wieder zu Hause zu wissen. Für meine Mutter war es ebenfalls ein Glücksfall, sie konnte sich noch einmal satt essen und in einem richtigen Bett schlafen. Am nächsten Tag war das Ziel Dockweiler nicht mehr sehr weit. Der Zufall half auch auf den letzten Kilometern weiter. Ein Bauer kam mit seinem Pferdefuhrwerk des Weges und erkannte meine Mutter als eine Tochter aus dem Wirtshaus Marx in Dockweiler. Wenige Kilometer vor dem Elternhaus - das Pferdefuhrwerk hatte ein anderes Ziel - nahm sie nun die letzte kurze Etappe unter ihre Füße. Zwei Mädels mit Fahrrädern, die sie kannten, kamen vorbei. Sie bat diese, zuhause Bescheid zu geben, dass sie auf dem Weg war. Die Mädels gaben diese Nachricht natürlich gerne weiter mit den Worten: „Die Christina ist mit einem Wägelchen auf dem Heimweg." Als ihr Elternhaus schon in Sichtweite war, kamen ihr eine Schwester und ihr jüngerer Bruder freudig entgegen gelaufen. Ihr Vater erwartete sie wie versteinert auf der Haustreppe. Die Familie war sehr froh, sie unbeschadet nach den Kriegswirren in ihre Arme nehmen zu können. Und meine damals 19-jährige Mutter konnte ihr Glück kaum fassen. Sechs Wochen waren seit dem Start des 450 Kilometer langen, beschwerlichen Fußweges zurück in die Heimat vergangen. Mir bleibt anzumerken, dass sich ihr Wägelchen auch 70 Jahre später noch in meinem Besitz befindet.