1943: Richtiger Winter in Gerolstein

Helmut Großmann, Köln

Blühende Gärten und Wiesen im Frühling, strahlende Sonne im Sommer, bunte Laubbäume und eine reiche Obsternte im Herbst, viel Schnee und eisige Kälte im Winter. So stellt man sich von jeher das Wetter in der Eifel vor. Als Kinder waren wir damit verwöhnt. Wir konnten davon ausgehen, dass es Anfang November zu schneien begann und das Winterwetter bis April des nächsten Jahres anhielt. Tiefer Schnee bedeckte die Wiesen, Fichten und Tannen, die im Herbst ihre Nadeln nicht abwarfen, krümmten sich unter der dicken Schneelast und ihre Äste hingen schneebeladen bis zur Erde. Es war kalt, aber die Landschaft sah herrlich aus. Die Jahreszeiten machten ihren Namen alle Ehre. Unsere heutige durch sauren Regen geschädigte Umwelt kennt solche klaren Winterverhältnisse nicht mehr.

Wir wohnten früher am Rother Weg, außerhalb Gerolsteins. Heute heißt die Straße „Zum Sandborn". Nur wenige Häuser standen damals in dieser noch abgelegenen Gegend. Wir Kinder hatten einen sehr langen Schulweg, der besonders im kalten Winter noch viel länger schien. Die Gemeinde Gerolstein besaß einen Schneepflug, der vor einen Traktor montiert werden konnte und von einem Gerolsteiner Bauern gefahren wurde. Bei starken Schneefällen räumte er zuerst die Hauptstraßen. Das war wichtig für einen reibungslosen Autoverkehr. Nebenstraßen, zu denen auch unsere gehörte, kamen erst später dran. Das war aber für uns Kinder, die früh zur Schule mussten, viel zu spät. Ich erinnere mich noch ganz genau daran, dass es damals in einer Nacht besonders stark geschneit hatte. Der Schnee war bis zur Haustür so stark verweht, dass wir kaum aus dem Haus kamen.

Deshalb hatten wir auch im Winter direkt hinter der Haustür im Flur Schaufel und Besen platziert. An diesem Morgen, besorgt durch den heftigen Schneefall, war meine Mutter besonders früh aufgestanden. Sie schaufelte erst einen Pfad von der Haustür zur Straße. Als sie aber sah, dass der Schneepflug die Straße noch nicht geräumt hatte, zog sie sich eine Jacke über und begann von unserem Haus bis zur Straßenmündung einen Fußweg freizuschaufeln. Diese Straße war eine der ersten, die vom Schneepflug geräumt wurde. Bis zur Kreuzung war es bestimmt einen Kilometer weit. Meine Mutter war mit dem Pfad im hohen Schnee gerade fertig, als es für mich Zeit war zur Schule zu gehen. Zusammen mit den Nachbarskindern konnten wir im Gänsemarsch durch diese schmale Gasse bis zur geräumten Hauptstraße gehen. Meine Mutter tat das von da an des Öfteren, denn in dieser Zeit schneite es noch regelmäßig und stark. Es war eine schwere Arbeit für eine Frau, die sie für ihre Kinder ganz selbstverständlich leistete. Nie habe ich sie klagen gehört. Der Schnee musste weg, sonst wären wir Kinder zu spät in die Schule gekommen. Das war für sie undenkbar, das ließ sie nicht zu. Ich glaube heute würden allerlei Ausreden gesucht und gefunden werden, um an einer solch schweren Arbeit vorbeizukommen. Man würde beim Amt anrufen, vielleicht auch die Kinder vom Unterricht entschuldigen. Meine Mutter war stets guter Dinge bei der schweren Arbeit. Sie war abgehärtet und trotzte dem kalten Winterwetter.

Wer kann das heute noch von sich behaupten? Ich kann heute nur darüber staunen und bin ihr für ihre guten Taten unendlich dankbar.