En Eeefeler fühlt Heimat knüppeldick

Herbstliches Viehhüten „on der Alverbaach" (am Alfbach)

Manfred Schmitz, Flußbach

Auf der Heimfahrt vom Besuch des Grabes meiner Eltern auf dem Friedhof Weinfeld wurden meine Augen magisch von dem in strahlender Herbstsonne liegenden langen Wiesental angezogen, das sich von Udler bis hinauf nach Mehren hinzieht. Da war er wieder, der Stich im Herzen, das Heimatgefühl, das so stark ist, dass es weh tut! Obwohl 70 Jahre her, sah ich die Bilder von damals plastisch vor Augen: Die Gruppe von Jungen zwischen 10 und 15 und unser Vieh (Kühe und Rinder), das frei und unbegrenzt im Tal weiden durfte. Ich sah den Alfbach, wie er früher einmal war, wie seine stellenweise mit Schilf und Binsen bewachsenen Ufer sich in vielen Windungen und tiefen „Gumpen" (vertieften Stellen) gemächlich mitten durch die Wiesen schlängelte

- heile Welt! Für Augenblicke durchlebte ich

- wie wenn es erst gestern gewesen sei - das wilde, grenzenlose Gefühl von Freiheit, war mittendrin in der quirligen Jungengruppe, die sich mit den ganz speziellen Spielen der Landkinder laut und kreativ die Zeit vertrieb. Ich roch den Rauch des großen Feuers, in dem die geklauten „Krumperen" (Kartoffeln) im Inneren des angehäuften Gluthaufens bruzzelten, bis die Schale sich in eine dicke, schwarze, verkohlte Kruste verwandelte. Es ging hoch her, und es gab zwischendurch Gezänk, Prügelei, Versöhnung, Rivalitäten und natürlich auch Unterdrückung der Jüngeren durch die Älteren. Aber nichts schmeckt einer wilden Gesellschaft so gut, wie „en Eefeler Krumper" (eine Eifeler Kartoffel) der Sorte „Ackersegen"

- geklaut, verkohlt und direkt aus dem Feuer! Zum Verständnis für die, die damals noch nicht gelebt haben: Die Bauerndörfer in der Vulkaneifel waren von jeher arm, jeder Fetzen der kargen Lavaböden wurde genutzt, weil das „Land" (Äcker und Wiesen) alles hervorbringen musste, was Mensch und Vieh das ganze Jahr - vor allem über den meist harten Winter

- an Nahrung und Futter brauchten: Getreide,

Kartoffeln, Runkelrüben, Kohlraben, Klee, Heu und Weide - das musste reichen, es gab sonst nichts! Jedes der kleinen Gehöfte bewirtschaftete um die zwanzig bis dreißig Morgen Land, besaß drei bis sieben Stück Vieh, ein bis zwei Schweine, die für die Schlachtung im Herbst gemästet wurden, und ein paar Hühner mit Hahn. Die Milchkühe waren zugleich Zugtiere, nur zwei bis drei „dicke" - allseits beneidete - Bauern im Dorf hatten mehr Land und Vieh, konnten sich Pferde als Zugtiere leisten. Die meist zahlreichen Kinder mussten hart mitarbeiten, Schule war Nebensache, Kirche und Pastor Hauptsache. Bis zum Herbst durfte das Vieh nur auf den meist kleinen hofeigenen Wiesen oder gepachteten Feldwegen geweidet bzw. gehütet werden. Das war Aufgabe der Jungen. Aber im Herbst, wenn Getreide, Heu und „Kromet" (Grummet = 2. Heuschnitt)) daheim in der Scheune waren, die Herbstzeitlosen auf den Wiesen leuchteten und morgens meist schon Nebel und Raureif über den Wiesen lagen, dann war es endlich so weit: Nach uraltem Dorfbrauch „joafen de Wissen objedohn" (wurden die Wiesen aufgetan)! Will heißen: Auf dem zusammenhängenden Wiesenland innerhalb der Dorfgemarkung wurden für den Rest des Jahres die Eigentumsgrenzen aufgehoben, so dass die gesamte Wiesenfläche von jedermanns Vieh im Dorf freizügig und grenzenlos beweidet werden durfte. Darauf hatten wir Jungen das ganze Jahr sehnsüchtig gewartet. Dann war endlich Schluss mit dem pingeligen, langweiligen Aufpassen auf das Vieh auf den eigenen Weiden, dann konnten wir das Vieh endlich „laufen lassen" und uns unserem wilden Treiben auf der großen Gemeinschaftswiese unbeschwert hingeben. Kaum konnte man den Morgen erwarten, nach einem hastigen Frühstück sein Vieh durch's Dorf in Richtung „ob der Liir" (auf der Löhr) zu treiben, und schon unterwegs dorthin trafen die einzelnen Vieh- und Jungengruppen auf-

einander, kam es zwischen den „Viechern" zu ersten Keilereien, bei denen so manches Kuhhorn durch die Luft flog, einen blutigen Stummel auf dem Kopf der Kuh hinterlassend. Angekommen, wurden zuallererst Reisig und Holz haufenweise zusammengetragen, um ein großes Feuer zu machen, und immer hatte einer der Jungen ein kostbares „Schäschteltjen" (Kästchen) Streichholz oder gar ein Benzinfeuerzeug zum Anzünden dabei. Rädelsführer waren die Älteren, die sehr autoritär bestimmten, wer von den Jüngeren was zu tun hatte, z. B. Holz holen und Kartoffeln klauen, in mehr oder weniger weit entfernten Wäldern und Äckern. Mit Worten kann man nicht annähernd schildern, was in einer Horde von zwanzig adrenalingedopten Jungen abging, wenn tausend kreative Ideen zur Gestaltung des anstehenden „Wahnsinnstags" aufeinander trafen. Einen derartigen Reichtum an wilder Spontanität, Kreativität und Phantasie - und das bei einfachsten Ressourcen und Mitteln -habe ich mein ganzes Leben nicht mehr erlebt. Es war unglaublich turbulent und spannend und es gab Spezialisten, die in den tieferen „Gumpen" des Alfbachs nach dicken Barschen, Hechten und Weißfischen tauchten oder sie mit einer provisorischen Angel herausholten. Die Fische und so mancher Frosch wurden am Feuer gebraten, wurden - zusammen mit den höllisch heißen, verkohlten Kartoffeln aus der Glut - meist redlich verteilt und verzehrt! Aus frisch gemolkener Milch und daheim stibitztem Zucker wurden „Kamellen" über dem Feuer geröstet, eine Delikatesse. Niemals hat mir wieder etwas so gut geschmeckt, wie die wilde Mahlzeit, damals am Feuer! Und ab und an fuhr ein Zug mit Dampflok durchs Tal auf der ehemaligen Bahnstrecke zwischen Daun und Wengerohr. Dann legten wir vorher Münzen -manchmal auch Größeres - auf die Schienen, um hinterher die platt gefahrenen Gegenstände zu begutachten. Wen wundert's, dass einer selbstvergessenen Jungenhorde, die von einem Exzess in den anderen taumelt, die von den Eltern aufgetragene Aufgabe, nämlich auf das eigene Vieh aufzupassen - „daat se sech joot voll frääßen" (dass sie sich gut voll fressen), „sech net stissen (sich nicht stoßen) unn „keene Schodden maachen" (keinen Schaden ma-

chen) - alles aus dem Ruder läuft? Es kam wie es kommen musste: Das Vieh hatte vor lauter „Stisserei" (Keilerei) keine Zeit, sich voll zu fressen, die Hörner flogen durch die Luft, und so manche „Rummel" (Rübe) von verbotenem Feld landete illegal in den Kuhmägen. Und wie immer im Leben hat auch ein Tag, von dem man nicht genug bekommen kann, ein Ende: Zusammenpacken, das eigene Vieh heraus sortieren und heim treiben - beklommen und mit schlechtem Gewissen vor dem Vater, der schon am Stall wartete und die ganze „Bescherung" mit einem Blick erkannte: Blutige Stümpfe wo morgens noch gebogene Hörner waren, blutige Schrammen an nicht voll gefressenen Kuhbäuchen, was hieß, die Kuh gab weniger Milch! Man musste froh sein, wenn man „de Oasch" (den Hintern) nicht gleich „ jehauen" (geschlagen) bekam, begab sich „stikum" (heimlichverschämt) rein in die Schutzzone der Mutter, die - im Spagat zwischen Sohn und Gatten - beschwichtigend ihren Jungen der Strafe entzog. Der ließ sich vor dem Einschlafen den rauschhaften Tag noch mal buchstäblich „auf der Zunge zergehen", und ein total glücklicher Junge schlief selig ein. Und nichts in der Welt konnte ihm diesen Tag wieder nehmen, auch wenn der Vater Tage danach noch grummelte. Fazit: Em Eeefeler (einem Eifeler) muss man nicht mit vielen Worten erklären, was Heimat ist: Er fühlt es knüppeldick. Ich wünsche mir, „daat die Alverbaach" (der Alfbach) wieder krumm und nicht so langweilig geradeaus fließt wie jetzt, dass er wieder tiefe „Gumpen" hat, mit Fischen drin und Schilf und Binsen an seinen Rändern. Ich wünsche mir auch die Herbstzeitlosen auf die Wiesen zurück, die das üppige Düngen und das viermalige Mähen im Jahr nicht aushalten. Vor allem aber wünsche ich mir glückliche, vor Lebensfreude strotzende Jungen, die - ohne pausenlose Anstöße von außen - allein aus dem Reichtum ihres Innenlebens mit einfachsten Mitteln tiefe Erlebnisfähigkeit entwickeln können. Ich wünsche, wünsche, wünsche viel zu viel, weil es illusorisch ist, sich dem Zeitgeist zu verweigern. Aber ich wünsche mir - bis an mein Lebensende - die wilde, heile Zeit zurück, mit den Hütejungen am Kartoffelfeuer auf der grenzenlosen Viehweide „on der Alverbaach"!