Das schwere Eisenbahnunglück bei Gerolstein vor 120 Jahren

Ein Augenzeugenbericht aus dem Nachlass eines Betroffenen

Norbert Knauf, Euskirchen

Am Kyll-Radweg bei Gerolstein, trifft man unterhalb der Kasselburg auf einen Wegweiser und eine Bildtafel, die auf ein Denkmal hinweisen. Dieses befindet sich ein Stück weit abseits des Weges, unmittelbar an der Bahnlinie nach Trier. Das Denkmal aus rotem Sandstein erinnert an ein Eisenbahnunglück, das in der Nacht vom 18. zum 19. Mai 1897 zehn Todesopfer forderte und sich 2017 zum 120. Mal jährt. Es waren überwiegend Soldaten, welche diesem Geschehen zum Opfer fielen. Bereits unmittelbar danach wurden Ablauf und Ursache des Unglücks bis ins Einzelne untersucht und juristisch aufgearbeitet. Zahlen und Fakten können aber niemals die Gefühle und das Leid der Betroffenen wiedergeben.

Denkmal an der Bahnlinie beim Schloss-Brunnen von Pelm. Foto: N. Knauf, Euskirchen

Nur die Betrachtung eines Einzelschicksals kann einen solchen Einblick vermitteln. Durch glückliche Umstände tauchte kürzlich ein Augenzeugenbericht auf, der nun nach 120 Jahren, das Bedrückende dieser Tragödie wieder lebendig werden und die Traumatisierung der Betroffenen erahnen lässt. Die ausführliche Schilderung von KARL DECKER, der bei diesem Unfall nicht nur selber schwer verletzt wurde, sondern auch noch seinen Kameraden und Schwager JOH. AUG. KRAUSE verlor, wird im Folgenden in Auszügen wiedergegeben.

Auf dem Weg zum Manöver in den Tod

Auf der zum Bahngleis hin ausgerichteten Frontseite des Denkmals ist zu lesen: „Dem Andenken der am 18. Mai 1897 im Dienste des Vaterlandes hier verunglückten Krieger". Auf der Rückseite wird an den einzigen Bahnbediensteten erinnert, der bei diesem Anlass zu Tode kam: „Bremser Apollinarius Merzbach aus Trier". Seitlich sind links die Namen von drei Musketieren aus Barmen, je einem Musketier aus Elberfeld und aus Velbert aufgeführt. Auf der gegenüberliegenden Seite werden vier Gefreite genannt, davon zwei aus Elberfeld, darunter der „Gefr. Joh. Aug. Krause", sowie einer aus Barmen und ein weiterer aus Zollhof, vermutlich ein Ort in Württemberg. Sie gehörten zu einem Truppentransport von militärischen Einheiten aus Westfalen, dem Rheinland und anderen Gebieten des Deutschen Reiches, der zu einem 16tägigen Manöver nach Metz unterwegs war. Solche Truppenbewegungen per Eisenbahn in Richtung Südwesten waren an der Tagesordnung, nach dem in Folge des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 Lothringen und das Elsass vom Deutschen Reich annektiert wurden. Man wollte die neuen Grenzen gegenüber Frankreich behaupten.

Denkmal-Inschrift mit zwei der Toten aus dem Abteil des KARL DECKER. Foto: N. Knauf, Euskirchen

Ein Eisenbahnunglück mit ungeklärter Ursache

Was war an jenem Unglücks-Dienstag geschehen? Eine knappe sachliche Auskunft darüber gibt ein Auszug aus der Anklageschrift, welche einem Prozess in Trier zur Aufarbeitung des Unglücks zu Grunde lag, zitiert nach der „Eifeler Volkszeitung": „Am 18. Mai 1897fuhr vom Bahnhofe zu Barmen ein Militär-Sonderzug mit 562 Reservisten nach Metz. Premier-Lieutenant von Goretzky war Führer dieses Transportes. Zu letzterem gesellten sich unterwegs noch mehrere andere Transporte, so dass sich schließlich im Zug fünf Offiziere und 1124 Mannschaften befanden. Der Zug ... bestand aus 33 Wagen. Von Köln sollte der Zug über Jünkerath nach Trier gehen. In Jünkerath fand sowohl ein Wechsel des Zugpersonals, als auch der Maschinen statt. . Nachdem der Stationsvorsteher Schiffer den Befehl zur Abfahrt gegeben hatte, fuhr der Zug langsam aus Jünkerath ab. Kaum hatte der Zug die Station Hillesheim passiert, da wurden die Passagiere durch zwei kurz hintereinander erfolgte heftige Stöße erschreckt. Der im Zuge befindliche Lieutenant Meier machte, die Gefahr erkennend, sogleich den Versuch, auf dem Trittbrett zu der Maschine zu gelangen, musste jedoch unverrichteter Sache wieder umkehren, da er vom Trittbrett aus die Plattform eines Wagens nicht erreichen konnte. Premier-Lieutenant von Goretzky war inzwischen vergebens bemüht, den Hebel der Carpenterbremse umzulegen. Lieutenant Meier sah nun, als er zum Offizierswagen zurückgegangen war, dass der Zug auseinander gerissen war, und meldete dies dem Premier-Lieutenant von Goretzky. Nunmehr versuchte dieser zur Maschine vorzudringen und traf dabei auf den in einem Bremserhäuschen befindlichen Bremser Mary, den er auf die Gefahr aufmerksam machte. Mary gab sofort nach der Maschine zu das Haltesignal mit Laterne und Pfeife, worauf der Zug langsam anhielt. Premier-Lieutenant von Goretzky ging darauf zum Offizierswagen zurück und sah, wie der Teil des abgerissenen Zuges in einer Entfernung von nur 50 Metern auf den haltenden Zugteil losraste. Er sprang infolgedessen kurz entschlossen ab und rief den übrigen Zuginsassen zu, schleunigst dasselbe zu tun. Inzwischen war auch der Lokführer . auf die furchtbare Gefahr aufmerksam geworden. Er gab sofort Volldampf nach vorn, es gelang ihm aber nicht, den haltenden Zugteil wieder in Bewegung zu bringen. In demselben Augenblick erfolgte der Zusammenstoß beider Zugteile, der zur Folge hatte, dass 10 Personen, darunter der Bremser Merzbach, getötet, 18 Personen schwer und 20 leicht verletzt und eine große Anzahl Wagen zertrümmert wurden. Die eigentliche Ursache dieses Unglücks konnte nicht ermittelt werden. ..." (EV vom 9.4.1898) Bei der sog. „Carpenterbremse" handelte es sich um eine 2-Kammer-Luftdruck-Bremse, die von der preußischen Staatseisenbahnverwaltung ab 1883 für Personen- und Schnellzüge der Hauptbahnen eingeführt wurde. Diese hätte beide auseinandergerissenen Zugteile automatisch abbremsen müssen. Es wurde aber bei der Untersuchung des Unglücks festgestellt, dass dieses Bremssystem nicht vollständig eingeschaltet war. In der Anklage wurde dieses Versäumnis den beiden Bremsern Mary und Merzbach, dem Lokführer Höhner und dem Jünkerather Stationsvorsteher Schiffer zugerechnet. Da die Verantwortlichkeit aber nicht eindeutig zu klären war, wurden alle Beklagten freigesprochen (TLZ vom 16.4.1898).

Das Eisenbahnunglück von 1897 bei Gerolstein. Foto: Archiv L. Brück

Der Versuch, das Unfassbare literarisch zu verarbeiten

Das Manuskript, welches diesem Aufsatz zu Grund liegt, stammt aus der Feder von KARL DECKER und ist Teil seines Nachlasses. Es wurde von seiner Familie zur Verfügung gestellt.

Der Gefreite KARL DECKER, selber bei diesem schrecklichen Unglück schwer am Unterschenkel verletzt, versuchte vermutlich durch die Niederschrift seiner Erlebnisse mit sich und seinem Schicksal ins Reine zu kommen. Schon die Einleitung zu seinem handschriftlichen Augenzeugenbericht zeigt, dass er keinem die persönliche Schuld für das schlimme Geschehen gab:

Titel und erste Seite des undatierten Manuskripts von KARL DECKER. Foto: Archiv: B. Keffer

„In unserer verkehrsreichen Zeit lässt es sich trotz aller Vorschriften nicht vermeiden, dass sich von Zeit zu Zeit, sei es nun durch Verkettung unglücklicher Zufälle, wie: Dichter Nebel, Unterwasserung des Oberbaus, durch Pflichtversäumnis eines mit Arbeit zu sehr überhäuften Beamten, diese grässlichen Eisenbahnkatastrophen ereignen, welche in den meisten Fällen zahlreiche Opfer an Menschenleben fordern." (DECKER, 1)

KARL DECKER wählte als

literarische Form für die Schilderung des Unglücks

eine Rahmenhandlung, die im Kurort Wiesbaden spielt. In diese bettete er seinen Augenzeugenbericht ein. Dadurch gelang es KARL DECKER die nötige Distanz zu dem Geschehen aufzubauen, die es ihm offenbar erleichterte, das Erlebte zu Papier zu bringen. Einem fiktiven Zufallsbekannten überließ er dabei die Rolle des Chronisten:

„Der Schreiber dieser Zeilen machte im vorigen Jahr in dem schönen Wiesbaden, wo er sich zur Kur aufhielt, auf seinen Spaziergängen die Bekanntschaft mehrere Herren". Zu diesen gesellte sich bald der Bruder eines dieser Herren hinzu. Er litt an einem „Knochenleiden am linken Unterschenkel. Derselbe hoffte sich durch fleißiges Baden Erleichterung zu verschaffen." Dieser Bruder mit dem Beinleiden war also

in Wirklichkeit KARL DECKER selbst, der in

Wiesbaden einen seiner anderen Brüder traf. Es dauerte dann nicht lange bis die Wiesbadener Männergesellschaft in Erfahrung brachte, dass das Knochenleiden „die Folge einer Verletzung bei einem Eisenbahnunfall sei". Sie baten daraufhin den Versehrten um „seine genaue Schilderung der entsetzlichen Katastrophe". Der fiktive Berichterstatter erzählt dann, wie es angeblich zur Niederschrift des Geschehenen kam: „Nachdem der Kellner uns mit einem guten Trunk versorgte, begann der betreffende Herr seine Erzählung. Sie war schlicht und einfach gehalten und ergriff

Ein Bild aus glücklichen Tagen (v. r.): Karl Decker (1869-1959), Emil Decker, Bertha Decker (Ehefrau von Joh. August Krause). Foto: Archiv. B. Keffer, Ausschnitt

uns alle sehr stark. Um nun auch mehreren Personen den genauen Hergang des Unglücks und seine Folgen zugänglich zu machen, hatte ich mir mit Erlaubnis des Erzählenden einige Notizen gemacht. So hören wir was der Herr erzählte:" (DECKER, 2-4) KARL DECKER war offenbar sehr daran gelegen, dass die furchtbaren Ereignisse, die sein Leben veränderten, einem breiteren Publikum bekannt wurden und nicht in Vergessenheit gerieten! Dieser Aufsatz ist somit auch ganz in seinem Sinne.

Mit „verwegenen Gesellen" unterwegs

KARL DECKER war damals 28 Jahre alt und befand sich in jener denkwürdigen Nacht von 18. zum 19.Mai 1897 im hinteren Drittel des Unglückszuges hinter dem Offizierswagen. Neben ihm saß sein „Jugendfreund und unzertrennlicher Gefährte in Zivil- und Militärjahren A. Krause", der inzwischen auch zu seinem Schwager geworden war. Beide blickten erwartungsvoll auf das bevorstehende Manöver in Metz: „Nun, ich muss es offen gestehen, dass mein Freund und ich die militärische Übung sehr gerne leisten, denn wir hatten die landschaftlich schöne Gegend noch nicht kennengelernt." (DECKER, 5) Noch bevor die beiden in Barmen den Militärzug bestiegen hatten, konnten sie sich allerdings davon überzeugen, dass ihre Kameraden ganz andere Interessen hegten:

„Da manche der eingezogenen Reservisten oder deren Angehörige ... den Getränken schon zu stark zugesprochen hatten, spielte sich manche widerliche Szene ab.... Die Wächter der Ordnung hatten ziemliche Mühe, ihren Pflichten nachzukommen." (DECKER, 8) KARL DECKER schildert dann ausführlich, wie es bei dieser Eisenbahnfahrt ins Manöver zuging: „In Köln-Süd kamen wir gegen 5 V2 Uhr an. Hier hatten wir eine Zeit Aufenthalt. Dass bisher kein Unglück geschehen, ist ein Wunder. Einzelne Menschen, welche offenbar den Getränken zu stark zugesprochen, benahmen sich sehr roh und ausgelassen. Während der Zug in voller Fahrt dahinbrauste, sah man verwegene Gesellen auf den Trittbrettern an den Waggons entlanglaufen und hier und dort einsteigen. Überhaupt ließ das Verhalten einzelner Mannschaften an den Aufenthaltsorten manchmal zu wünschen übrig.

Furchtbares Gebrüll erfüllte gewöhnlich die Luft. Ein anderer sehr beliebter Sport war das Zertrümmern leerer Flaschen an den Pfeilern der Bahnhöfe." ... (DECKER, 13)

Als der Abend hereinbrach machte der Zug in Jünkerath kurz halt. „Trierer Personal und Maschinen übernahmen die Weiterführung des Zuges.... Trotzdem kein Signal zum Aussteigen gegeben, verließen sehr viele Reservisten ihre Abteile. ... Der Wirt machte jedenfalls ein gutes Geschäft, denn viele der Mannschaften wollten sich noch für die Nacht stärken oder noch Getränke einkaufen."(DECKER, 18)

Der Zug zerreißt

Als der Zug kaum einige Minuten die Station verlassen hatte gab es einen heftigen Ruck. Karl Decker bemerkte, dass der Zug auseinander gerissen war: „Vor unserem und dem vorfahrenden Wagen befand sich ein Zwischenraum von mehreren Metern.... Wir benachrichtigten vom Fenster aus - so gut wir konnten - die Kameraden im Nebenabteil und baten sie, die Nachricht doch weiterzugeben. . Doch schneller und schneller raste unser Zugteil den Berg hinab. . Es waren grässliche Augenblicke. Näher und näher kamen wir dem vorfahrenden Teil. . Da - ein furchtbarer Schrei - „Festhalten" gellte durch das Abteil. . Ein heftiger Krach, ein Beben und Wanken unseres Waggons, welcher sich gleichsam bäumte. Doch glücklicherweise hält sich unser Waggon auf den Schienen. . Mit fürchterlicher Geschwindigkeit raste der vordere Zugteil die Strecke hinab. Er entschwand im Nebel und Dunkelheit bald unseren Blicken. Wir waren lokomotiv- und führerlos auf abfallender Bahnstrecke unserem Schicksal preisgegeben. . Durch keine Bremse gehalten, rasten die 13 besetzten schwarzen Waggons schneller und schneller die steile Strecke hinab.... Ohnmächtig rasten wir dem Verhängnis entgegen. Es waren grässlich Augenblicke, die ich mein ganzes Leben nicht vergessen werde. Kein Wort wurde unter uns sechs Kameraden mehr gewechselt. Jeder war mit sich selbst beschäftigt und strengte sich aufs Äußerste an, einen Weg der Rettung zu finden.

Als ich einmal in das Abteil zurück blickte, sah ich meinen lieben Freund (Joh. Aug. Krause) noch bleich und rußig in der Mitte desselben stehen. Seine erhobene rechte Hand hielt noch fest den Hebel der Handbremse umspannt. Wir sahen uns einen Moment an, doch sprechen konnte keiner mehr von uns beiden. Es war dies das letzte Mal, dass ich ihn in diesem Leben von Angesicht zu Angesicht sah. Seinen traurigen, ernsten Blick werde ich nie vergessen. Armer geliebter Freund - doch jetzt so reich. (DECKER, 19-24)

Das Inferno

„Da, plötzlich - wir durchfahren gerade eine große Kurve - sehe ich dicht vor uns aus dem Nebel auftauchend die hinteren Umrisse eines Eisen bahnwaggons. Ich rief den Kameraden zu sich festzuhalten, denn ich glaubte, ein ähnlicher Zusammenstoß wie vorher würde stattfinden. Doch noch im Zurufen begriffen, stießen wir mit furchtbarer Gewalt auf den still-und feststehenden Teil des Zuges. Bei dem Zusammenstoß hatte ich die Empfindung, wie wenn zwei ungeheure Glaskörper gegeneinander prallen, zerschellen und nach beiden Seiten in sich selber zurückfallen. Erst entsetzliches Krachen und dann unheimliche Grabesstille. Im Moment des Zusammenstoßes erhielt ich einen heftigen Schlag gegen den Kopf und die rechte Schläfe. Ich muss wohl die Besinnung für einige Augenblicke durch den heftigen Schlag verloren haben. Ich fand mich auf dem Bahndamm sitzend oder rutschend wieder. . Durch ein heftiges Schmerzgefühl in der linken Schulter erwachte ich und als ich die Augen öffnete, gewahrte ich einen Menschen, welcher im Begriff war über mich wegzuschreiten. Beim Ton meiner Stimme sprang er entsetzt zurück und verschwand in der Finsternis. . Ich wollte mich nun aufrichten und versuchte die Beine anzuziehen, doch es ging nicht. Da erst bemerkte ich zu meinem maßlosen Entsetzen, dass ich mit den Beinen und Gesäß vollständig eingeklemmt war. Der Schrecken über diese Wahrnehmung drohten mir die Sinne zu rauben. ... An der rechten Seite quer über meine Beine lag der Waggon - schräg über mich geneigt. (Abb. 6) Wie eine Harmonika zusammengedrückter Puffer drückte er stark auf

Schaulustige beim Eisenbahnunglück von 1897. Foto: Archiv L. Brück

meinen rechten Oberschenkel. ... An den festgeklemmten Beinen verspürte ich am Anfang wenige Schmerzen. Dasjenige was schmerzte, glaubte ich dem Druck der auf meinen Gliedmaßen liegenden Last zuschreiben zu müssen. . Bemüht den starken Druck zu mildern, versuchte ich ... mit meinen Händen die Erde wegzuscharren. Ich scharrte und kratzte in meiner Angst, bis die Hände bluteten. ... Doch ich konnte nicht mehr.... Ringsum herrschte Grabesstille. Mir vergingen die Sinne." (DECKER, 25-28)

Die Bergung

„Wie ich erwachte, fühlte ich heftige Schmerzen in den Beinen. Zu meiner linken weiter zurück sah ich ein großes Feuer brennen. Ich rief so laut ich konnte um Hilfe. Nach einiger Zeit sah ich verschieden Personen, darunter auch aktive Soldaten, auf mich zukommen. Ich rief nochmals und vorsichtig kamen die Leute heran, da sie in der Dunkelheit wenig oder nichts sehen konnten. . Einer der Soldaten zog auf meine Veranlassung sein Seitengewehr und versuchte, mit der Klinge die Erde unter

mir wegzuarbeiten, während die anderen Leute mit Fingern und Messern gruben. Nach einiger Zeit musste jedoch die Arbeit eingestellt werden, denn der Untergrund war felsig. Es wurde nun versucht, mittels großer Holzteile, die als Hebebäume verwandt wurden, die auf mir ruhende Last zu heben. . Weil aber die gehobenen Teile nicht fachmännisch unterlegt wurden, so sanken dieselben mit doppeltem Druck auf meine Glieder zurück. . Durch die großen Schmerzen, welche von den in ihre Lage zurücksinkenden Lasten verursacht wurden, verlor ich die Besinnung. Mittlerweile waren die Bewohner des Eifeldörfchens Pelm von den dort hingekommenen Hornisten, welche Alarm bliesen, und durch ihre eigene Feuerwehr aus dem ersten Schlaf geweckt und von dem stattgefundenen Unglück benachrichtigt. Unter ihnen befand sich der Schmiedemeister Pech und Stellmacher Keul. . Pechfackeln wurden herbeigebracht und unter dem Schein derselben begannen die zwei wackeren Männer ihr Werk. . Ich muss wieder sehr lange ohne Bewusstsein gelegen haben, denn - wie ich erwachte - war der wackere Schmiedemeister an der

Arbeit. ... Er selbst arbeitete mit einigen anderen Männern an der mittelschweren Winde. ... Zahn um Zahn wurden die Trümmer langsam aufgewunden und gesichert. Nach langer, anstrengender Arbeit... war ich endlich frei. ... Inzwischen waren Leinentücher auf dem Boden ausgebreitet worden und meine Retter wollten mich behutsam darauf legen. Wie es nun kam, weiß ich nicht. Einer der Helfenden fasste mich anstatt an den Knien unten an den Füße, um mich auf das Leintuch zu legen. Die dadurch entstandenen Schmerzen raubten mir die Besinnung. Als ich die Augen aufschlug, fing der neue Tag an zu grauen. Ich lag auf Stroh. Neben mir stand eine Frau in den mittleren Jahren mit ihrem Töchterchen an der Hand. Ich hörte noch, wie sie im Vorbeigehen zu ihrem Kind sagte: „Das ist ein toter Mann, der dort so still liegt." Wie froh war ich, mir selbst sagen zu können, dass Gott in seiner großen Barmherzigkeit mich bis dahin noch einmal verschont hatte und ich noch Leben in mir hatte. . Ich muss häufig bewusstlos gelegen haben, denn ich kann mich über nichts besinnen. Nur einmal wurde ich in der Ruhe gestört durch heftige Schmerzen und Kälte an meinen Beinen. Ich sah zwei Ärzte neben mir knien, welche meine Wunden mit Gerolsteiner Sprudel auswuschen und einen Verband anlegten.. Als das linke Bein entblößt vor ihnen lag, mit den grässlichen Wunden, schauten sich die Herren Ärzte stumm und verständnisvoll an; ich gewahrte den Blick und wusste ihn mir zu deuten." (DECKER, 28-32)

Das Schicksal der Kameraden

„Da ich von Einbruch der Katastrophe an genügend mit mir selbst zu tun hatte, so wusste ich von keinem der Kameraden, wie es ihm ergangen war.

Unser Waggon musste etwas seitlich auf den feststehenden Waggon aufgestoßen sein, denn in unserem Abteil waren die Personen an der linken Seite getötet und im nachfolgenden Coupé wurden drei junge Männer an der rechten Seite erdrückt. Die Verletzungen der getöteten Kameraden waren teilweise fürchterlich. Mein Freund (Joh. Aug. Krause, Elberfeld), welchen ich noch kurz vor dem Zusammenstoß in der Mitte des Abteils stehen sah, muss wohl

„Die Skizze veranschaulicht, welche Plätze meine Kameraden im Abteil inne gehabt." Foto: Archiv B. Keffer, Ausschnitt

bei dem Aufprall durch den Boden auf die Schienen gefallen und von den aufstürzenden Trümmern erdrückt worden sein. Nach einem anderen Bericht soll ein Wagenrad auf seiner Brust gestanden haben. Dem Kameraden E. (Joh. Abrah. Ernestus, Elberfeld) aus unserem Abteil wurden beide Beine dicht am Oberkörper fast abgefahren. Er soll noch eine volle Stunde in den fürchterlichsten Schmerzen gelegen haben, ehe der Tod eintrat. Der dritte Reservist war der Landwirker K. (Kuhn) Derselbe war ebenfalls entsetzlich verstümmelt. Ein Arm und ein Bein und ein Teil des Kiefers waren weggerissen. Endlich D. (Dormiden) wurde, obwohl er hinter mir stand, nach der entgegengesetzten Seite seines Standortes geschleudert. Ihm wurden der linke Arm und das linke Bein zerquetscht. Der Fuß wurde ihm später im Lazarett abgenommen. A. (Asbeck) wurde beim Zusammenstoß der Kopf zwischen den Luftschächten gequetscht. Ein Auge hing ihm fast vor dem Kopf. Die Gesichtsknochen waren verletzt, zudem hatte er noch einige Verletzungen an den Beinen. Dies waren die Toten und Verletzten in unserem Abteil. (Abb. 7)

Ein Augenzeuge schrieb: „Die aufgehende Sonne beleuchtete ein grässliches Bild des Todes und der Zerstörung. Hier lag ein Bein, dort ein kopfloser Rumpf. Einen besonders schrecklichen Anblick gewährten zwei Leichen, von denen einer mit seinen Füßen im Bauch des anderen steckte. Ein Schwerverwundeter be-

fand sich mit einem Fuß in derselben Lage und nur mit Mühe konnte er befreit werden. Unter dem Rad eines Wagens lag mit zerquetschter Brust, stierem Blick, die Leiche eines kräftigen Mannes." (DECKER, 33-34)

Fürs ganze Leben gezeichnet

„Wir Verwundeten wurden, nachdem wir in Gerolstein angelangt, von den offenen Wagen heruntergehoben und in gut mit Stroh ausgelegte geschlossene Wagen gebracht.... Hier am Bahnhof sah ich zuerst ein bekanntes Gesicht. Ein früherer Dienstkamerad beugte sich über mich und erkundigte sich teilnahmsvoll nach meinem Befinden. Er selbst war gänzlich unversehrt davongekommen. Auf meine Frage nach dem Schicksal meines Freundes antwortete er ausweichend . .Er erzählte dann, wie mein Freund gefunden und dass derselbe tot sei. Die Sinne drohten mir zu versagen wie ich alles hörte. ... Gegen 9 Uhr morgens wurde unser Waggon an einen nach Trier fahrenden fahrplanmäßigen Personenzug angehängt, um nach dem Garnisonslazarett Trier überführt zu werden. Es war für mich eine schreckliche Fahrt. An jeder Weiche glaubte ich würde der Zug aus den Schienen geraten und so sich ein zweites Unglück ereignen. . Das Wundfieber kam zum Ausbruch und ich litt entsetzlich. Wie ich später hörte, war der Wadenmuskel meines linken Beines vollständig zerrissen, der Schienbeinknochen verletzt und die Knochenhaut auf einer Ausdehnung von 14 cm vollständig abgestoßen. Die Ärzte haben zuerst versucht, den Wadenmuskel anzunähen, doch es trat heftige Eiterung ein und um kalten Brand zu verhüten, wurde alles Losgerissene abgeschnitten. Der Schienbeinknochen lag völlig frei - von beiden Seiten. ... Es wurde schlimmer und schlimmer mit meinem Bein. Die Eiterung nahm stets zu. Die Ärzte wollten, wenn es so weiter ginge, mir das Bein abnehmen. Ich weigerte mich meine Einwilligung zu geben. Es wurden noch einige Tage Zeit gegeben .. Der bestimmte Tag kam heran und als die Ärzte den Verband gelöst, sahen sie, dass ein wenig Besserung eingetreten war. Der allmächtige Gott hatte dem Leiden Einhalt geboten und das Schlimmste war abgewendet. . An den Folgen des Unglücks werde ich wohl

mein ganzes Leben zu tragen haben. Nach Ausspruch der Ärzte, in deren Behandlung ich bis jetzt gewesen, werde ich die volle Bewegungsfähigkeit wohl niemals wieder erhalten. In verschiedenen Bädern, wie auch jetzt hier in Wiesbaden, habe ich mich aufgehalten und die heilkräftigen Wässer benutzt, doch bis jetzt habe ich nach Ausspruch der Ärzte noch keinen nennenswerten Erfolg zu verzeichnen gehabt. .

Doch nun meinen Herrn mache ich Schluss. Ich danke Ihnen herzlich für Ihre liebenswürdige Ausdauer im Zuhören und bitte Sie gütigst zu entschuldigen, dass ich meine Erzählung so lange gedehnt habe". (DECKER, 36-40) KARL DECKER, von Beruf Kaufmann, wurde am 31.12.1869 in Essen geboren und verstarb am 17.05.1959 in Bad Godesberg fast auf den Tag genau 62 Jahre nach dem Eisenbahnunglück. Er wurde 90 Jahre alt.

Danksagung

Mein besonderer Dank gilt der Enkeltochter von Karl Decker, Frau Barbara Keffer aus Bonn und deren Familie, welche den Augenzeugenbericht und Fotos zur Veröffentlichung bereitgestellt haben sowie Herrn Lorenz Brück aus Birresborn, der mich bei gemeinsamen Ei-fel-Wanderungen auf das Eisenbahndenkmal aufmerksam machte und mir bereitwillig sein umfangreiches Archiv zu Verfügung stellte.

Quellen:

DECKER, K. (O.D.): Die Eisenbahn-Katastrophe zu Gerolstein in der Nacht vom 18./19. Mai 1897. - Manuskript aus dem Nachlass von Karl Decker, transkribiert von BARBARA KEFFER, broschiert, 41 Seiten, Bonn (unveröffentlicht).

EV Eifeler Volkszeitung: Prümer Zeitung vom

9.4.1898 - Tageszeitung (1884-1939), Prüm.

TLZ Trierische Landeszeitung vom 16.4.1898-

Tageszeitung (1875 -1974), Trier.

Literatur:

ARND, H. (1997): Für Volk und Vaterland, Chronik der Eisenbahnkatastrophe bei Pelm am 18. Mai 1897. - Heimatjahrbuch, Kreis Daun; Kreisverwaltung Daun (Hrsg.), 75-79, Monschau. BRÜCK, L. (1991): Ein „schwarzer Tag" für die Eisenbahn. -Heimatjahrbuch, Kreis Daun; Kreisverwaltung Daun (Hrsg.), 174-175, Monschau.

KNAUF, N. (2015): Als Soldaten noch „Krieger" hießen - Das schwere Eisenbahnunglück von1897 bei Gerolstein und sein Denkmal - Eifel Jahrbuch 2015 des Eifelvereins, Eifelverein Düren (Hrsg.), S. 38-45, Düren.