Eine heimatlose ausgebombte Familie bei uns im Dorf

Tamara Retterath, Lirstal

Mein Vater, Ernst Retterath, schilderte mir folgende Kindheitserinnerung. Die Geschichte wird aus seiner Sicht erzählt:

In den Kriegsjahren gab es viele Menschen, die besonders in der Großstadt ausgebombt waren und keine Wohnung mehr hatten. Sie wurden aufs Land geschickt, wo ihnen eine Wohnung oder ein Zimmer zugewiesen wurde. Ich kann mich daran erinnern, dass sich bei uns in der Mitte des Dorfes ein kleines Fachwerkhaus befand. Dieses Haus stand, seit ich denken konnte, leer. Die Besitzer wohnten schon seit Jahrzehnten in einem neuen Haus im gleichen Ort und verwendeten das alte Haus als Abstellraum für Kleingeräte, als Lagerraum für Brandholz und nutzten auch den alten gemauerten Backofen in dem kleinen Haus zum Brotbacken. Damals besaß jede Familie des Dorfes einen eigenen aus Stein gemauerten Backofen, entweder im Haus oder außerhalb des Hauses als separates Backhaus. Hier wurde alle 14 Tage selbst Brot gebacken. Bei dem alten Haus handelte es sich um ein typisches Eifler Wohnhaus aus Fachwerk und Lehm. Durch die Außentür trat man sofort in die Küche. Dahinter befand sich der Raum mit dem Backofen. Links ging man in die „gute Stube", die sich eine Stufe höher als die übrigen Zimmer befand, und durch die „gute Stube" kam man in die Kammer, die man heute Schlafzimmer nennt. Zur Aufbewahrung von Kartoffeln und Rüben war das Haus teilunterkellert.

Mich wunderte, dass dieses alte Haus plötzlich wieder hergerichtet wurde. Einige Holzfenster wurden repariert, andere gänzlich ausgetauscht. Das fand ich als Kind ungewöhnlich in diesem doch sehr alten Gebäude. Heute weiß ich, dass damals viele Heimatvertriebene, Flüchtlinge und Ausgebombte händeringend eine Unterkunft suchten. So wurden solche Häuser, Wohnungen oder auch einzelne Zimmer ausfindig gemacht und die Eigentümer gezwungen, diese zur Verfügung zu stellen.

Teilweise protestierten die Besitzer dagegen, weil sie das Haus, die Wohnung oder das Zimmer in anderer Weise nutzen wollten, aber da die Lösung der Wohnungsnot wichtiger war, mussten sie ihre Interessen zurückstellen und das Haus, die Wohnung oder das Zimmer hergeben. Die Heimatlosen hatten schließlich keine andere Möglichkeit irgendwo unterzukommen.

Als das kleine Fachwerkhaus jetzt wohnlich war, dauerte es nicht lange und es zog eine Familie aus dem Ruhrgebiet dort ein. Das war für mich als Kind eine kleine Sensation: Fremde Leute in unserem kleinen Dorf! Ich fragte mich, wie diese Leute über die Runden kommen sollten, da sie ohne Ländereien keine eigene Landwirtschaft betreiben konnten. In unserem kleinen Dorf lebten alle Familien vom Ackerbau.

Beim Einzug standen wir Kinder des Ortes Spalier und schauten dem Umzug zu. „Ach, schau mal da", redeten wir untereinander, „eine Familie mit Kindern. Sogar im gleichen Alter wie wir." Es stellte sich heraus: Das Mädchen hieß Brigitte, sie war genauso alt wie ich und ihr Bruder Hugo war vier Jahre älter. Wir Kinder freuten uns über unsere neuen Spielkameraden. Auch auf dem Fußweg zur Schule in den 2 km entfernten Nachbarort, den wir Kinder alle gemeinsam in einem Grüppchen bewältigten, hatten wir nun zwei neue Gesprächspartner, mit denen man sich unterhalten konnte und sich freute, Neues zu erfahren. Meine Mitschülerin Brigitte konnte wunderbar zeichnen. Sie hatte ein besonderes Geschick, ganz speziell für Gesichter. Ich selbst habe auch gerne und gut gemalt, aber Gesichter waren für mich immer ein schwieriges Unterfangen. Brigitte hingegen zeichnete ein paar Striche und schon hatte sie ein wunderschönes Gesicht gemalt, und das ohne großes Radieren oder Ändern.

Schade, dass ich später als Erwachsener nichts mehr von ihr gehört habe, so dass ich nicht weiß, was aus ihr geworden ist. Ob sie Modellmalerin oder Portraitmalerin geworden ist, wie sie es immer vorhatte? Ihr älterer Bruder Hugo hatte als Stadtkind viele Ideen. Er brachte uns einige neue Spiele bei, die wir vorher noch nicht gekannt hatten. Die meiste Zeit waren wir damals draußen unterwegs.

In einem heruntergekommenen verlassenen Schuppen fand Hugo ein 1,50 m großes auseinandergefallenes Eichenholzfass mit durchgerosteten Eisenbeschlägen. Hier zeigte sich sein Erfindungsreichtum. Aus zwei gewölbten Brettern dieses früheren Fasses baute er sich Skier und betrieb Wintersport. Wir taten es ihm nach und hatten somit die ersten Skier unseres Lebens. Diese Eichenskier erzielten auch ohne Wachsen eine sehr hohe Geschwindigkeit. Unsere Skier waren zwar halbrund gewölbt, doch waren sie vorne nicht so extrem gekrümmt wie gekaufte Skier. Deshalb überschlugen wir uns oft und landeten in hohem Bogen im Schnee. Zum Glück ist nie etwas Ernsthaftes passiert.

Später besorgte Hugo sich ein paar Brieftauben und baute einen Taubenschlag. Hier zeigte er uns ab und an wie zahm die Tiere waren indem er sie bei ihrem Namen rief und sie ihm auf Kopf und Schulter flogen. Dann ließ er sie Körnerfutter aus seiner Hand picken. Von dieser Vorführung waren wir Kinder natürlich begeistert, denn wir kannten zwar Hühner und Vögel, hatten jedoch bisher keine zahmen Tauben kennen gelernt. Tauben gelten im Ruhrpott ja bekanntlich als Rennpferd des kleinen Mannes. Daher hatte Hugo vermutlich das Interesse hieran mitgebracht. Der Vater der Familie fand schnell Arbeit. Er war Zimmermann von Beruf und war fortan im Sägewerk eines 4 km entfernten Nachbarortes tätig. Da es zu dieser Zeit keinen Busverkehr gab und er keinen fahrbaren Untersatz besaß, musste er die Strecke jeden Tag zu Fuß bewältigen. Weil er sich mittlerweile umgehört hatte, gaben wir ihm einen Tipp wie er querfeldein eine Abkürzung nehmen konnte,was er auch tat.

Das ist das kleine Fachwerkhaus in unserem Dorf, in das die heimatlose ausgebombte Familieaus der Großstadt einzog.

So sparte er sich ungefähr die Hälfte der Strecke und wir Kinder sahen ihn öfter abends, wenn wir beim Kühehüten waren und der Vater der Familie auf seinem Rückweg nachhause war. Später konnte er sich ein Fahrrad leisten, so dass er seine Arbeitsstelle noch schneller erreichen konnte. Die Mutter war Hausfrau wie damals üblich. Die Familie lebte aber nicht sehr lange in dem kleinen Fachwerkhaus, denn inzwischen war durch einen Sterbefall eines älteren Ehepaares eine bessere und schönere Wohnung im gleichen Ort freigeworden, die auch im Winter besser beheizbar war. So zogen sie innerhalb des Dorfes um.

Hier wohnten sie noch circa acht bis neun Jahre, bevor sie sich entschlossen, wieder in ihre alte Heimat, das Ruhrgebiet, zurückzukehren. In der Zwischenzeit waren die zerbombten Häuser wieder aufgebaut, so dass dort nun genügend Wohnungen zur Verfügung standen. Ich hoffe, dass sie die gelebte Zeit in der Eifel in guter und schöner Erinnerung behalten haben.