E Bärmesenser Schlabbeflicker in Klein-Sibirien

Peter Fricke, Daun

Diese satirisch und besinnlich gefärbten Erinnerungen sind ein Loblied auf die Eifel. Aber Vorsicht, es kann sein, dass man dies nicht sofort bemerkt!

Ich bin geboren und aufgewachsen in Pirmasens/Pfalz. Schon in frühester Kindheit lernte ich durch die Wanderungen mit meinen Eltern die Naturschönheiten meiner Heimat kennen, den Pfälzer Wald mit dem Dahner Felsenland. Die herrliche Weinstraße mit den reichen Winzerdörfern und den lieblichen roten Dächern, den legendären Teufelstisch bei Hinterweidenthal und vieles mehr. Jedes Wochenende zog es uns zwischen 1950 und 1960 in unser sonnenverwöhntes kleines Paradies. Zugegeben, meine Heimatstadt Pirmasens, zu dieser Zeit durch die blühende Schuhindustrie ein Ort mit über 60.000 Einwohnern, war nicht sonderlich attraktiv. Wir wohnten auf dem Horeb, auf einem der zahlreichen Hügel der Stadt und blickten auf die vielen großen Schuhfabriken, die das Gesamtbild maßgeblich prägten. Doch es gab neben der reizvollen Umgebung noch etwas, was dieses wenig ansehnliche Panorama mehr als ausglich - die Leidenschaft für den Fußball, neben der Liebe zur Natur meine große Passion. Dazu muss man wissen, dass der Fußballklub Pirmasens (kurz FKP) damals zu den besten Mannschaften Deutschlands zählte, von diversen Nationalspielern durchsetzt. Spiele um die Deutsche Meisterschaft oder später Bundesligaaufstiegs-spiele waren am Saisonende an der Tagesordnung. Der Fußball bestimmte mein noch junges Leben maßgeblich - zum Leidwesen meiner Eltern, denn die gemeinsamen Wochenendausflüge in den Pfälzer Wald wurden immer seltener, fielen schließlich ganz aus und wurden durch Fußballaktivitäten ersetzt. So war ich ein Heimat verbundener, glücklicher Mensch, zumal ich nach Abitur und Bundeswehr in meiner Region bleiben konnte,

denn ich studierte in Landau/Pfalz die Fächer Deutsch und Geschichte, um später Lehrer zu werden. Natürlich wollte ich nach dem ersten Staatsexamen 1974 meiner pfälzischen Toskana treu bleiben. Etwas anderes kam für mich überhaupt nicht in Frage, ich konnte doch Fußball, Familie und Freundeskreis nicht einfach verlassen, da gab es keine Kompromisse, ich MUSSTE einfach Glück haben! Von wegen! Das Glück verließ und das Schicksal traf mich - und zwar mit voller Wucht! Das kleine ferne Eifelstädtchen Daun benötigte meine pädagogischen Anfängerqualitäten gegen meinen Willen, doch meine Proteste verhallten unerhört. Notgedrungen holte ich aus zuverlässigen und vorurteilsfreien Quellen, meinem großen Freundeskreis, weitere Informationen über die Eifel bzw. Daun ein. Danach mussten Daun und seine Umgebung ein abgelegener, windiger, kalter, schnee- und regensicherer Ort mit vielen „Teichen" und nur wenigen, aber dafür unzugänglichen Menschen in Klein-Sibirien sein. Man konnte schon fast von einer Drohung oder Warnung sprechen. Nein, das war eigentlich untertrieben, das war Mitleid pur! So reiste der Mann ohne Vorurteile Anfang Juli 1974 (Schulbeginn 01. August) vom warmen Süden in den kühlen Norden, um sich eine vermeintlich vorübergehende Junggesellenbleibe in Daun zu suchen, denn meine Freundin und spätere Ehefrau studierte noch in der Pfalz. Also wollte ich meinen Zwangsaufenthalt in der Eifel nicht unnötig verlängern. Völlig überraschend schien jedoch am Anreisetag die Sonne, und, was ich damals noch nicht wusste, sie schien symbolisch für die kommenden Jahrzehnte meines Lebens. War die Warnung meiner Freunde und Kommilitonen doch vielleicht übertrieben gewesen?

Die Wohnungssuche zu diesem bewusst spät gewählten Zeitpunkt gestaltete sich selbst verschuldet schwierig, doch fand ich schließlich eine kleine Kammer bei einem Vermieterehepaar mit großem Herzen, sodass die ersten Tage ohne Schule und Bekannte zu verschmerzen waren. An einem Augustwochenende überraschten mich die beiden mit einem opulenten Mittagsmahl. Meinem fragenden Blick begegneten sie mit der Bemerkung: „Ja, wissen Sie denn nicht, wir haben Kirmes!" Ich wusste natürlich nicht.

Dieses Highlight im Dauner Jahreskalender beschied mir wenige Tage später mittwochs einen peinlichen Auftritt im noch fremden beruflichen Terrain. Ich ging wie immer dienstbeflissen zu meiner Arbeitsstelle, der damaligen Dauner Hauptschule (heute Grundschulgebäude), musste jedoch feststellen, dass weder Schüler noch Kollegen präsent waren. Erfolglos irrte ich, der Neuling, durch das Labyrinth der Klassenzimmer, wurde jedoch nicht fündig. So saß ich endlich im Lehrerzimmer, einsam und allein, und wartete auf eine Eingebung, die in Gestalt des Hausmeisters schließlich kam. Da hörte ich innerhalb weniger Tage zum zweiten Mal: „Ja, wissen Sie denn nicht, wir haben Kirmes!" Schüler und Lehrer hatten schulfrei, ich, der Unwissende, war zutiefst beeindruckt, denn ein solches bedeutungsvolles und folgenreiches Fest kannte ich aus der Pfalz nicht. Unabhängig von diesem Zwischenfall war ich in einem tollen Lehrerkollegium gelandet, wir arbeiteten und feierten gemeinsam, erste Freundschaften keimten schon nach wenigen Wochen, und auch die Schüler waren klasse - einfach anders, als ich erwartet hatte. Mein festgefügtes Eifeler Menschenbild begann zu bröckeln und bekam weitere Risse. In mir erwachte ein LERNPROZESS! Doch nun sollten auch sportliche Aktivitäten folgen. Gab es hier in der Stadt einen Fußballverein, der meinem FKP nur annähernd das Wasser reichen konnte? Die Antwort lautete kurz und humorlos „Nein!" Eigentlich bemühte ich mich und besuchte im ersten Jahr die Heimspiele des heimischen TUS, beendete dieses Unterfangen jedoch schon bald frustriert, ich beging den Fehler zu vergleichen, außerdem fehlte der Heimatbezug, die emotionale Bindung.

So wandte ich mich dem Handball zu, der wohl deutlich dramatischer, aber ganz einfach nicht meine Sportart war. Inzwischen war auch meine Pfälzer Freundin in Daun gelandet, wir mussten mehrfach eine gemeinsame größere Wohnung suchen, wobei diese Versuche von den jeweiligen Vermietern mit Misstrauen beäugt wurden, wir führten schließlich eine „Wilde Ehe" - und das in den Siebzigern! Erst die Versicherung, dass ich meine „Verlobte" ja bald heiraten würde, brachte den gewünschten Erfolg, eine schöne Neubauwohnung auf dem Dauner Kreuzberg, dem vermutlich höchsten Punkt in Daun. So saß der Bärmesenser Schlabbeflicker, der Mann mit den aufgeweichten Vorurteilen, Ende der 70er Jahre mit seiner Ehefrau auf der Eifel-Terrasse, unter sich die Stadt Daun. Er schloss die Augen und dachte zurück an seinen Horeb mit den vielen Schuhfabriken, und er sah die roten Dächer der Pfalz. Er erinnerte sich an FKP und Pfälzer Wald und beendete schließlich seine Reise in die Vergangenheit mit ein wenig Wehmut. Der Blick auf Daun wurde klar, und ICH erkannte ein hübsches Eifelstädtchen, meine geliebte Schule, an der ich noch heute hänge, aber auch Häuser mit grauen Dächern. Ganz am Horizont realisierte ich die urwüchsige Landschaft, erahnte die mystischen sagenumwobenen Maare. Durch zahllose Wanderungen in dieser Region wurde mein botanisches Interesse geweckt, ich entdeckte die einzigartige Eifelflora und fand darüber zu einem neuen Hobby, der Kultur von Frauenschuhorchideen aus aller Welt in meinem Garten.

So sitze ich jetzt als Pensionär knapp 40 Jahre später zusammen mit meiner Frau vor unserem Holzhaus mit ziegelrotem Dach, so viel Pfalz muss sein, beobachte die vorüber ziehenden Kraniche, und wir beiden Pfälzer sind wie immer begeistert von diesem grandiosen Naturschauspiel. Nun haben wir zwei Drittel unseres Lebens in Daun und Umgebung verbracht. Daun war meine erste und einzige Lehrerstelle, auch ein Beweis dafür, wie sehr ich die Eifel und ihre Menschen schätzen GELERNT habe, liebe aber meine Pfälzer Heimat, dies wird man wohl verstehen, noch ein klein wenig mehr.