Gemeinsam waren die Lirstaler stark

Tamara Retterath, Lirstal

Früher bildeten mehrere Bauernhöfe eine Rott. Eine Rott konnte aus fünf oder sechs Gehöften bestehen. Die Bewohner der Gehöfte einer Rott haben sich immer gegenseitig in allen Lebenslagen geholfen, wenn Not am Mann war. So zum Beispiel, wenn ein Kind geboren wurde. Die Frauen der jeweiligen Rott betreuten nach der Geburt Mutter und Kind, solange die Mutter noch bettlägerig war, bis zu dem Tag, an dem sie wieder fit war. Bei der Geburt an sich half die Hebamme, doch beim Führen des Haushalts und der Pflege waren die Rottfrauen zur Stelle.

Eine Taufe wurde früher sehr schnell nach der Geburt gefeiert, stets zwei bis drei Tage danach, da es früher noch eine hohe Säuglingssterblichkeit gab und man Angst hatte, dass das Kind ohne Gottes Segen sterben könnte. Das war früher deshalb besonders schlimm, weil das Baby ohne christliche Taufe nicht einmal auf dem Friedhof beerdigt werden durfte und das Beerdigen in nicht-kirchlicher Erde eine große Schmach war. Nach damaligem Glauben käme das Kind ohne Taufe nicht in den Himmel. Verständlicherweise war die Mutter des Neugeborenen so kurz nach der Geburt noch geschwächt und konnte die Tauffeier mit der Kaffeetafel nicht alleine bewältigen. Deshalb organisierten alle Frauen der Rott den Taufkaffee im Elternhaus des Neugeborenen.

War nun die Mutter wieder arbeitsfähig, lud sie als Dankeschön für die Hilfe der Rottfrauen während der Geburtszeit diese zu einem sogenannten „Tantenkaffee" bei sich zuhause ein. Da in jeder Familie Kinder geboren wurden, ging der „Tantenkaffee" reihum. Dieser „Tantenkaffee" war noch bis nach dem Ersten Weltkrieg üblich.

Auch wenn früher eine Kuh kalbte und bei einer Familie aufgrund von Todesfällen oder Kriegseinsatz kein Mann im Haus war, kam die Nachbarin zu Hilfe. Hier waren bestimmte Kenntnisse notwendig. Man konnte nie wissen, ob das Kälbchen im Bauch der Kuh

richtig lag und die Kuhgeburt problemlos vonstatten ging. Setzte die Geburt trotz heftiger Wehen nicht ein, lag die Vermutung nahe, dass das Kälbchen falsch im Mutterleib lag. Dann musste es noch im Leib der trächtigen Kuh gedreht werden. Bei einem normalen Geburtsvorgang kam der Kopf des Kälbchens (kurz nach den Vorderklauen) voran aus dem Geburtskanal. Man konnte die Kuh beim Kalben unterstützen, indem einer der Kuh gut zusprach. Ein anderer befestigte ein Seil an der bereits herausgekommenen Vorderklaue und unterstützte die Kuh dahingehend, dass, wenn wieder eine Wehe einsetzte, am Seil und damit am Bein des Kälbchens gezogen wurde. Man musste genau wissen, wann man ziehen durfte, manchmal musste man das Kälbchen wieder ein Stück zurückgehen lassen, bis die nächste Wehe einsetzte und man es ganz herausziehen konnte. Das Ziehen sollte mit der Wehe, das heißt mit der Natur, einhergehen. War aber die Hüfte des Kälbchens stark gebaut und diese steckte im Geburtskanal fest, musste mit allen Mitteln versucht werden, das Kalb schnellstens aus dem Becken der Mutter zu befreien. Sonst wären die meisten Kälber in solch einer Situation durch Ersticken gestorben. Gelang dies nicht rasch genug, schüttete man dem Kälbchen mit einem Becher kaltes Wasser über den Kopf, wodurch das Kälbchen einen kurzen Schock bekam und sofort nach Luft schnappte. Die schnelle Atmung rettete dem Kalb das Leben. Diese Hilfsmaßnahme wurde auch „Kälbchentaufe" genannt. Bei der Dreschmaschine half man sich auch gegenseitig. Josef Schneider aus Lirstal besaß eine eigene Dreschmaschine, mit der er in Lohnarbeit auf anderen Gehöften tätig war. Diese eisenrädrige Maschine musste aber von Hand gezogen werden, dann hieß es: „Die Dreschmaschine wird gerückt!" Sofort liefen alle hin und zogen die Dreschmaschine mit Stricken. Einige steuerten, drei oder vier Personen liefen, wenn es bergauf ging, hinter der Maschine her und legten nach etwa einem Me-

ter bergauf Keile unter, damit die Maschine nicht zurückrollte. Die Dreschmaschine wurde von Scheune zu Scheune gerückt, je nachdem wer sie benötigte. Das Helfen war eine Selbstverständlichkeit. Jede Familie brauchte die Maschine mal und war dann auch dankbar, wenn alle anderen beim Rücken halfen. Auch beim Dreschen wurde Mithilfe benötigt und gegeben. Wurden ein Haus, ein Stall oder eine Scheune gebaut, war jede Arbeitskraft der jeweiligen Rott zur Stelle, um zu helfen. Jeder, der ein Pferdefuhrwerk oder -gespann besaß, übernahm den Transport einer Fuhre Steine oder Sand. Man fuhr damals bis nach Ahrhütte, um dort ungebrannten Kalk zu holen. Leute ohne Pferdegespann halfen einfach so durch ihre Arbeitskraft, denn im Steinbruch wurde auch Hilfe benötigt. In Lirstal gab es einen Basaltsteinbruch und eine Lehmkaule (Lehmgrube), woraus Baumaterialien gewonnen wurden. Auch Sand aus einer Sandgrube wurde gesiebt und dann zum Bauplatz gekarrt. Diese Art der Dorfhilfe kam in der jüngeren Vergangenheit in Lirstal noch einmal zum Tragen, als der Familie Werner Weber am 23. November 1992 Stall und Scheune abbrannten. Die Scheune war noch voll mit Winterfutter wie Rüben und Kohlrabi. Durch den Brand dampfte alles. Das und auch die Reste von verkohltem Heu und Stroh mussten rausgefahren und entsorgt werden. Auch beim Abriss der verbliebenen Grundmauern halfen die Lirstaler in großer Zahl. Frau Weber sagte anschließend: „Wir haben nur gestaunt, wie viele Leute kamen!"

Auch als Familie Jonas 1982 ihr Wohnhaus baute und der Dachstuhl aufgebaut werden sollte, waren die Lirstaler zur Mithilfe bereit. Nachbar Josef Klasen hatte den Zeitpunkt des Dachstuhlaufbaus bei Familie Jonas beobachtet und vielen Leuten im Dorf Bescheid gesagt. Peter Jonas, der Bauherr, staunte nicht schlecht, als aus jeder Ecke von Lirstal jemand kam und half. Hier wurde diese alte Tradition noch mal so richtig in die Praxis umgesetzt. Die Bewohner einer Rott und später die des Dorfes waren eine langsam gewachsene Gemeinschaft. Jeder benötigte den anderen mal. Die Leute haben sich früher weniger verkracht, haben auch schon mal Ärger herunter geschluckt, weil sie wussten, dass sie den anderen schon bald wieder brauchen würden. Dieses gegenseitige Helfen hat die Gemeinschaft zumindest nach außen zusammenhalten lassen. Denn jeder konnte mal in eine Notlage geraten, es gab früher nicht so viele Versicherungen, und Bargeld war bei den Landwirten früher ebenfalls immer knapp. Die Dorfgemeinschaft hielt zusammen.

Wenn es hieß „Die Dreschmaschine wird gerückt!", waren die Dorfbewohner zur Mithilfe bereit.