Familienband

Gisela Bender, Deudesfeld

Wir erwarten Besuch, und weil es kein beliebiger Besuch ist, sind wir konzentriert und angespannt. Man kann sagen, wir erwarten ein kleines „Cousinentreffen". Eine Cousine ist mit ihrem Mann aus Koblenz angereist, und wartet mit uns auf den Besuch aus Amerika. Der Großvater, Heinrich Weber ist 1899 nach Amerika ausgewandert. Darüber habe ich im Heimatbuch 2000 unter dem Titel „Ein Deudesfelder wird Amerikaner" berichtet. In den Nachkriegsjahren hat Heinrich von Amerika aus viel für die Familie seines Bruders Wilhelm getan. Zahlreiche Pakete mit Bekleidung und Konsumgütern kamen in diesen Jahren ins heimatliche Elternhaus. Dort versammelten sich, sobald die Kunde vom Eintreffen eines Paketes kam, alle fünf Töchter von Wilhelm. Die Kleidungsstücke wurden hin- und hergereicht, an- und ausgezogen, bis sie schließlich zu einer Figur passten. Auch nach dem Tod von Heinrich, er starb am 17.01.1968, fast 92jährig, riss der Kontakt zu seiner Familie nicht ab. Heinrich hatte zwei Söhne und zwei Töchter. Die Töchter hielten über Jahrzehnte den Kontakt. Schwierig war es für beide Seiten, hier sprach man kein Englisch und dort kein Deutsch. 1995 machten sich zwei Urenkelinnen von Wilhelm auf dem Weg, um die Cousinen ihrer Oma in Amerika zu besuchen. Herzlich wurden sie aufgenommen.

Im vergangenen Jahr besuchte eine weitere Urenkelin von Koblenz aus die Verwandten in Amerika.

Die Großtanten sind zwischenzeitlich verstorben. Automatisch trat die nachfolgende Generation, eine Enkelin von Heinrich in den Fokus, Donna Rae. Die Urenkelin von Wilhelm lud diese zu einem Besuch in der Heimat ihres Großvaters ein.

Zu bewundern ist, wie professionell und planvoll sie die knapp bemessene Besuchszeit der Gäste mit vielen Stationen ausfüllte. In Deudesfeld stand an erster Stelle die Besichtigung des Elternhauses der beiden „Tubaks-Brüder" (Tubaks ist der Hausname). Natürlich hat sich das Outfit des Hauses gründlich verändert, aber die Gäste konnten sich einen bleibenden Eindruck davon machen. Hier wurde ihr Großvater geboren.

Und nun sind sie bei uns vorgefahren. Ein wenig zaghaft bleiben sie im Türrahmen stehen. Alle Augenpaare richten sich auf die ältere Frau. Ist es denn die Möglichkeit, diese Frau könnte ohne weiteres eine von Wilhelms Töchtern sein. Ein typisch „Tubaksgesicht". Ich bin mir sicher, dass alle im Raum den gleichen Gedanken haben. Obwohl ich eine „Eingeheiratete" bin, also keine Blutsverwandte, so übte diese Frau eine mir nie gekannte Anziehungskraft auf mich aus. Dann rückt ihr Sohn Steve und seine Frau Oriane in den Vordergrund. Auch sie haben sogleich alle Sympathien. Viel wird gefragt, und die beiden Urenkelinnen übersetzen. Aber Steves Frau Oriane ist „deutschstämmig" und hilft mit. Donna Rae hat ihren Großvater Heinrich noch gut gekannt. Eine Begebenheit die alle Familienmitglieder in Amerika erlebt haben gibt sie wieder. Während des zweiten Weltkrieges und noch Jahre später, wäre der Großvater wütend geworden, wenn Essensreste auf den Tellern hin- und hergeschoben wurden, ohne sie zu essen. Im Deudesfelder „Platt" würde das heißen „et gohwen Ohtzeln gemaach!" Dann hätte Heinrich wütend gesagt, „meine Familie zu Hause hungert während ihr Überfluss habt". Die Gäste, die wir heute bewirten durften, die wir heute zum ersten Mal gesehen und auch zum ersten Mal gesprochen haben, sind uns in der kurzen Zeitspanne die wir miteinander verbrachten, so familiär und vertraut gewesen. Kein Zweifel, es besteht ein starkes Band zwischen den Familien diesseits und jenseits des Atlantiks.

Steve zeigt seiner Mutter Donna Rae (l.) und seiner Frau Oriane das Jahrbuch

Steve äußert den Wunsch den landwirtschaftlichen Betrieb zu sehen. Ohne Übersetzung hat unser fünfjähriger Enkel Paul ein paar Arbeitsstiefel für Steve parat. Wo er die wohl hergeholt hat, sie sehen nämlich nicht gerade gepflegt aus. Er will Steve den Betrieb zeigen, dass hat er wie wir später erfahren sehr gründlich gemacht. Zwischenzeitlich hatte ich Steve das Jahrbuch 2000 mit dem Bild und dem Bericht über die „Tubaks-Brüder" gezeigt.

Er zeigte viel Freude daran, dass ich es ihm zum Geschenk machte. Dann kam unweigerlich die Zeit des Abschieds. Wir gehen schon mal bis zum Auto. Immer wieder wollte man noch was wissen. Als dann die Frauen im Auto saßen, sprang Steve nochmal raus und lief zum Haus zurück. Gleich war er wieder da, in seinen Händen hielt er das Jahrbuch, und drückte es an seine Brust. Wie mich diese Geste anrührte! Wir schauen dem Auto nach solange wir die Schlusslichter sehen können. Dann drehe ich mich um und schaue in den Sternenhimmel, dort oben mögen die „Tubaks-Brüder" ebenfalls ihre Freude gehabt haben. Sicher wird Wilhelm, der zu Lebzeiten schon einen trockenen Humor hatte, seinem Bruder auf die Schulter geklopft und gesagt haben: „Siehste Heinrich, alles ist dort unten nicht anders geworden. Blut ist immer noch dicker als Wasser!"