Blick auf die Welt

Bastiaan Verhorst, Mürlenbach

Einen Eimer brauchen wir. Ich glaube der steht beim Hühnerstall. Noch eine halbe Stunde, dann kommt meine Enkeltochter mir putzen helfen. Wenn man 81 Jahre alt ist, braucht man einen ganzen Tag fürs Bügeln und fürs Staubsaugen, während meine 18-jährige Susanne das in 2 Stunden meistert. Meine Enkelin verdient gerne was extra, weil sie seit einem Monat ihren Führerschein hat und sich jetzt einen Wagen kaufen möchte. Und ich spare so meine Energie für .wichtigere' Sachen, wie Karten spielen mit meinen Freundinnen.

Das mache ich schon seit einer Ewigkeit und noch immer mit denselben Mädels. Nun ja, wir waren damals Mädchen. In der Zwischenzeit

haben wir jetzt alle so unsere Einschränkungen.

Aber im Kopf sind wir noch immer junge Mädel. Und mit elastischen Strümpfen, Brillen und Hörgeräten kann man noch prima Karten spielen und die letzten Erfahrungen austauschen. Über 40 Jahre haben wir einander Lieb und Leid geteilt.

Ich habe meine Enkelin letztes Mal gefragt: „Hast du keinen Freundeskreis mit dem du Karten spielst, und..." Da hat die Susanne mir gesagt: „Ach Oma, das war früher so. Wir haben heutzutage Whats-app". Whats-app? Und dann hatte sie mir auf ihrem Handy gezeigt wie das funktioniert. Sie hat verschiedene Whats-App-Freundinnen, mit

denen sie beinahe täglich Kontakt hat und Lieb und Leid teilt. Und sie hat auch einen Mini-Computer, wie heißt so ein Ding doch wieder?

Nun ja, so ein Gerät mit verschiedenen Programmen darauf, Skat zum Beispiel, und das spielt sie dann manchmal. „Nein Oma, nicht mit meinen Whats-app-Freundinnen, sondern mit anderen Freundinnen." Eigentlich sind die jungen Leute mit ihren Geräten sozial sehr aktiv, bilden Freundeskreise, tauschen sich aus und schreiben E-Mails. Tablett! So heißt das Ding, dieser kleine Computer. Darüber haben wir alten KarteSpiel-Mädels noch so gelacht. Weil in unserer Zeit, in der Vorgeschichte, wenn Frau Bürgermeister einen Brief bekam, wurde dieser vom Butler auf einem Tablett der gnädigen Frau präsentiert. Heutzutage bekommen die jungen Leute keinen Brief, sondern eine E-Mail... aber noch immer auf einem Tablett! Was hatte ich doch gleich wieder gesucht? Ach ja, den Eimer. Heute soll meine Enkeltochter die Fenster putzen. Wenn ich mir selber dann noch die Brille putze, dann haben wir wieder freien Blick auf die Welt. Und mit Welt meine ich selbstverständlich meine kleine Welt, mein Dorf.

Viel weiter bin ich nie gereist. War auch nie mein Wunsch. Hier im Ort gibt es alles was ich brauche, einige Geschäfte, meine Nachbarn, meinen Kartenclub und meine drei Hühner. „Nein Oma, so können wir Jugendliche nicht mehr leben" hat Susanne mir erklärt. „Wir sind Weltbürger und haben überall unsere Freunde." Deswegen braucht sie ja Geld für einen Wagen, damit sie ihre .Weltbürger' besuchen kann.

Letztes Wochenende hatten wir Kirmes hier im Dorf. Ach, so groß wie früher wird das nicht mehr gefeiert. Aber es war schön. Man hat die Möglichkeit, mit Bekannten hier im Ort Kaffee und Kuchen zu genießen. Und abends gab es auf dem Dorfplatz Musik und ein großes Feuer. Ja, ich habe sogar noch getanzt mit Heinrich Holzbein... nein offiziell heißt er Schmitz, aber weil sein linkes Bein... Haha, wir haben noch gelacht; einen Moment hatten wir in der Nähe des Feuers getanzt und die Leute haben gerufen: „Heinrich, Heinrich, pass doch auf mit

deinem Holzbein!" Ja es war wirklich schön. Junge Leute sieht man kaum noch bei solchen Festivitäten. Meine Enkelin war auch nicht hier im Dorf, sondern mit ihren Freundinnen in Köln. Und zu Weihnachten war sie mit ihrem Skiklub in der Schweiz. In einem Monat werde ich 82, aber auf meinen Geburtstag fährt sie nach Hamburg auf ein Tanzfest. Oder nein, sie hatte mich letztes Mal noch korrigiert: „Oma, es ist kein Tanzfest mit einer Blaskapelle, es ist ein Dance-Event mit einem DJ; so etwas hast du noch nie erlebt. Warum fährst du nicht mit? Ich kaufe dir eine Eintrittskarte für deinen Geburtstag!" Aber nein, das mache ich selbstverständlich nicht. Ich bin zufrieden mit meinem Leben hier im kleinen Dorf, einmal im Jahr Kirmes und tanze mit Heinrich Holzbein. Na endlich, da steht er. Mein alter Zinkeimer. Susanne kann jeden Moment da sein. Dann putzen wir die Fenster und haben wieder einen freien Blick auf die Welt.