Auf Schatzsuche im „Strohner Märchen"

Heidi Probst, Gommersheim

Gerne denke ich an die schönen Sommertage meiner Jugend zurück, an denen ich mit meinen Verwandten ans „Strohner Märchen" gefahren bin, wo wir uns mit den schmackhaften Preiselbeeren, wie wir sie nannten, für einige Monate eindeckten. Die Expedition war für uns immer sehr abenteuerlich. Schon bei der Ankunft waren wir verzaubert von dem Anblick, der sich uns bot. Was für eine Augenweide. Eine Natur wie gemalt - die reinste Postkartenidylle. Wir bewaffneten uns alle mit Sammelgefäßen. In jeder Hand trugen wir einen Eimer, denn wir hatten uns viel vorgenommen. Immerhin war die Verwandtschaft groß, die mit den leckeren Moosbeeren durchgefüttert werden musste.

Die flauschigen Mooskissen luden zum Verweilen ein und waren übersät von reifen Beeren. Hier war Geduld und Ausdauer gefragt. Ach, herrje! Dies waren nicht gerade meine größten Stärken, das war jedem von uns klar. Vielleicht sollte ich mir für alle Fälle schon mal ein kuscheliges Plätzchen suchen. Ausweichmöglichkeiten gab es ja genug. Da ich so zierlich war, schnappte ich mir einen Behälter, der meiner Statur entsprach. Ich wollte mich doch nicht überanstrengen. Hier sollte unsere Feinmotorik zum Einsatz kommen. Jede Beere musste einzeln aus dem Moos und Heidekraut herausgepickt werden. Wir verteilten uns in alle Richtungen und jeder suchte sich einen weichen und bequemen Platz zum Arbeiten. Wir durften uns aber nur in den Bereichen bewegen, die für uns keine Gefahren bargen, dort, wo es einigermaßen trocken war. Es war schon beeindruckend, mit was für einer Entschlossenheit die Erwachsenen an ihre Aufgabe gingen. Sie waren ja wie besessen. Irgendwann waren wir „Kleinen" so in unsere Arbeit vertieft, dass wir das Geplapper um uns herum gar nicht mehr wahr-

genommen haben. Es war faszinierend, was die Natur so alles zu bieten hatte. Wir fanden es interessant, unser Gleichgewicht auf dem weichen Moos zu trainieren. Umgeben von duftenden Blüten und Sträuchern lauschten wir inspiriert dem Gezwitscher der Vögel. Gespannt beobachteten wir die Insekten, die in den Fängen des fleischfressenden „Sonnentau" zappelten. An was die Natur doch so alles gedacht hat. Besonders fasziniert waren wir von den Libellen, die wie kleine Hubschrauber über unseren Köpfen kreisten. Zu gerne hätten wir die Zeit angehalten und stundenlang dem Treiben der Natur zugesehen, aber man hatte uns ja eine große Verantwortung auferlegt. Hin und wieder kamen einige Touristen vorbeispaziert, die verwundert stehen blieben. Da gab es die einen, die sich für unsere Leidenschaft interessierten, und dann waren da noch die anderen, die uns einreden wollten, dass wir die heimischen und wertvollen Gewächse zerstörten. Aber Pflanzen sterben doch nicht aus, nur wenn man auf sie tritt. Unsere weiblichen Führungskräfte ließen sich aber in keinster Weise davon beeindrucken. Nein, nicht unsere Mütter! Sie folgten ihrem Instinkt. Es wäre doch eine Schande gewesen, hätte man diese Früchte der Vegetation überlassen und die Nachwelt wäre niemals in den Genuss dieser Köstlichkeit gekommen. Ich vergesse nie, als mein Cousin einen Alleingang startete und verbotenes Gebiet erkundete. Mit einem Gummistiefel steckte er schon ziemlich tief in einem Wasserloch. Bei seiner Rettungsaktion geriet aber nicht nur er ins Schwitzen, denn immerhin hatte dieser Knabe eine stattliche Figur vorzuweisen. Oje! Wir hatten schon unsere Mühe, ihn aus den Fängen des Sumpfes zu befreien. Ja ja, das kommt davon, wenn man sich als Stadtkind maßlos überschätzt und so war er uns „Buure", wie er uns des Öfteren betitelte, wortwörtlich

einen Schritt voraus. Das hätte ganz schön in die Hose gehen können. Zum Glück haben die Erwachsenen von diesem kleinen Zwischenfall nichts mitbekommen.

Nach einem anstrengenden und aufregenden Nachmittag hatten wir endlich unser Pensum erreicht. Das war aber schon eine Masse von Beeren, die „wir" gesammelt haben. Zufrieden begaben wir uns zu unserem Fahrzeug. Wir waren beladen wie Packesel. Voller Stolz trugen wir die Ernte zu unserem Chauffeur, der sich schon freute, diese in Empfang nehmen zu dürfen.

Unsere Eimer waren bis zum Rand gefüllt, auch meiner. Doch was war das??? Ich wollte ja nicht glauben, was sich da vor meinen Augen abspielte. Alle meine Beeren purzelten zu Boden und in Windeseile verloren sie sich im Gras der saftigen Sommerwiese. Ein ganz klarer Fall von Übermüdung! Dabei hatte ich mir doch solche Mühe gegeben. Da rief plötzlich eine männliche Stimme im Hintergrund mit Kölner Dialekt: „Ja, isset denn mööchlich?" Das fragte ich mich allerdings auch. Für einen Augenblick hielt ich den Atem an. War das nicht der junge Mann, mit dem wir vor gar nicht allzu langer Zeit einen Reinfall erlebt hatten? Da ist mal wieder sein rheinländisches Temperament mit ihm durchgegangen. Aber Dank der helfenden Hände war nun doch nicht alles „im Eimer" und mein Ferientag nahm eine glückliche Wende. Ich drehte mich noch einmal um und warf einen letzten Blick auf die romantische Idylle. Alles wirkte so still und friedlich. Die roten Früchte schimmerten wie Perlen im Glanz der untergehenden Sonne. Onkel Erich startete seinen roten Renault 4 und wir konnten endlich die Heimreise antreten, bevor mich noch ein weiteres Malheur ereilte. In das kleine Auto sollen wir alle(s) unterbringen? Es funktionierte. Die Fahrt nach Immerath ging erst einmal über unebenes Gelände, darum drückten wir unsere Eimer fest an uns und hielten schützend die Hände über die kleinen „Perlen" - nicht, dass uns noch eine entwischt. Ich hatte einen Riesenhunger. Oma wartete bestimmt schon mit dem Essen auf uns. Sicher hatte sie etwas Leckeres gekocht - ganz sicher. Was sie wohl zu diesen kleinen Schätzen sagen würde? Ungeduldig

naschte ich aus meinem Eimerchen. Na ja, süß ist anders, aber sauer macht lustig, kann ich da nur sagen.

Als wir in die Hofeinfahrt einbogen, saß Opa schon auf der Bank und erwartete uns. Schmunzelnd blinzelte er unter seinem Hut hervor. Er genoss die letzten Sonnenstrahlen nach einem arbeitsreichen Tag. Stolz präsentierten wir unsere Leckereien. „Meine Herren!" waren seine Worte und er schaute ganz verblüfft. Oma kam uns freudestrahlend entgegen. Ihre Begeisterung war nicht zu übersehen. Das Ergebnis war eindeutig: Allein können wir wenig, zusammen viel! Dann konnte es ja bald ans Einmachen gehen. Oma freute sich schon darauf, denn es gab für sie nichts Schöneres, als für ihre Lieben zu sorgen. Nach einem reichhaltigen Abendessen trafen wir noch die letzten Vorbereitungen für den nächsten Tag. Da wurden die Beeren eingekocht, die an einem Sonntagnachmittag die Kaffeetafel auf einem belegten Tortenboden abrunden durften.

Meine Tante Anneliese hat sich bis heute noch ein solches Glas aufbewahrt und hütet es wie einen Goldschatz. Das Haltbarkeitsdatum ist nach all den Jahren mit Sicherheit schon lange abgelaufen. Doch mit dieser Rarität verbindet sie bis zum heutigen Tag eine wertvolle Erinnerung an den Ort, der uns über lange Jahre so vertraut war.

Ein Märchen - doch es war einmal.