Else

Brigitta Westhäusler, Hillesheim

Sie hielt den Hörer noch ein paar Sekunden in der Hand, ehe sie ihn behutsam auf die Gabel zurücklegte. Ein leiser Seufzer entrang sich ihren Lippen und ihre Mundwinkel verzogen sich nach unten. „Schon wieder", dachte sie leicht verbittert. „Es ist immer dasselbe. Erst verspricht er mich besuchen zu kommen, dann sagt er mit einer fadenscheinigen Begründung ab."

Seit drei Jahren hatten sie sich nicht mehr gesehen. Horst war ihr einziges Kind, das sie alleine großgezogen hat, nachdem Paul, ihr Ehemann, tödlich verunglückt war. Acht Jahre war Horst damals alt und hing sehr an seinem Vater. Es war eine schwere Zeit. Jetzt lebte er in der Stadt, die nur etwas über 80 km entfernt ist, also keine Strecke, die unüberwindbar wäre! Natürlich akzeptierte sie, dass er nun sein eigenes Leben führte. Beinahe zu lange hatte es gedauert, bis er sein Studium abgeschlossen hatte. Wie viel Sorgen hatte sie sich gemacht! Wie oft hatte sie ihm Geld zugesteckt, wenn es knapp wurde, obwohl sie selber nur knapp bei Kasse war. Und dann hatte er das Glück, in der neu gegründeten Export-Firma eine Stelle zu finden. Die Arbeit gefiel ihm, und er war zufrieden. Er konnte sich eine schicke Wohnung leisten und einen großen Wagen fahren. „Aber gezeigt hat er mir die Wohnung noch nicht", dachte sie wieder leicht verbittert. Seit dem Schlaganfall konnte sie kein Auto mehr fahren und sie brauchte auch eine Hilfe im Haushalt. „Er wartet wohl auf meinen Tod", ging es ihr durch den Kopf. „Ich bin nur ein Stolperstein, ein Klotz am Bein, zu nichts mehr nütze." Eigentlich verbot sie sich solche negativen Gedanken, aber die Enttäuschung war zu groß. Und jetzt rollte ihr doch tatsächlich eine Träne die Wange hinunter. Zum Glück klingelte es an der Haustür, und sie musste sich zusammenreißen. Mit ihrem Rollator schritt sie langsam zur Tür. Man hatte ihr eine Kamera installiert, so dass sie sehen konnte, wer vor der Tür stand. Eine junge Frau mit einem sympathischen Gesicht stand davor und hielt eine Aktenmappe in der Hand. „Ja bitte?", fragte sie durch die Sprechanlage, „wer sind Sie?" „Guten Tag Frau Winter. Ich komme von der Gemeinde. Es geht um ein neues Projekt, bei dem wir Ihre Mitarbeit brauchten. Darf ich hereinkommen?" Else Winter überlegte noch. „Wenn das ein Trick war?". Es wurde immer wieder davor gewarnt, keine Unbekannten in die Wohnung zu lassen. „Ich habe einen Ausweis", sagte jetzt die junge Dame und hielt ein DIN A5-Blatt in die Höhe. Frau Winter schloss die Tür auf und öffnete sie einen Spalt, der durch die Kette vorgegeben war. Die junge Dame reichte Frau Winter das Schreiben. Diese nahm es in ihre Hand, setzte ihre Brille auf, die an einer goldenen Kette hing und begann zu lesen. Ihre Hand zitterte leicht. Der Bürgermeister der Gemeinde bestätigte darin, dass Elisa Dahmen ein Praktikum absolvierte und berechtigt war, Befragungen in der Gemeinde durchzuführen. Es sei geplant, einen neuen Heimatverein zu gründen.

Frau Winter war immer noch etwas misstrauisch. „Kann ich Ihren Personalausweis sehen?" fragte sie nun noch. Elisa Dahmen zückte ihre Geldbörse und fischte ihren Ausweis heraus. Frau Winter reichte ihr das Schreiben des Bürgermeisters und nahm ihren Ausweis entgegen. Der Name stimmte, das Foto schien auch echt zu sein. „Na gut", sagte sie endlich. Sie schloss die Tür, um die Kette aus dem Verschluss zu ziehen und öffnete die Tür. Sie rückte ihren Rollator etwas zur Seite, ließ die junge Dame eintreten, gab ihr den Ausweis zurück, schloss die Haustür wieder und drehte den Schlüssel herum. Die Kette ließ sie unten. „Entschuldigen Sie bitte", sagte sie. „Ich lebe allein und muss vorsichtig sein." „Oh, dafür habe ich Verständnis", erwiderte Elisa. Frau Winter rollte mit ihrer Gehhilfe ins Wohnzimmer und bot dem Gast einen Sessel an. Elisa schaute sich bewundernd um. „Oh, so viele Bücher und so viele Bilder! Haben Sie die Bücher alle gelesen?" „Fast alle. Einige habe ich geerbt, die anderen habe ich im Laufe meines Lebens erworben. Lesen bedeutet mir alles. Zum Glück sind meine Augen noch einigermaßen gut. Ich kann nicht schlafen, ohne ein paar Zeilen gelesen zu haben. Von diesen E-Büchern halte ich gar nichts. Ich muss ein Buch anfassen und die Seiten umblättern können."

Es entstand eine kurze Pause. Sie musterte ihren Besuch und fragte dann: „Also, weshalb sind Sie hier?" Elisa konnte kaum ihren Blick von den Regalen abwenden, so fasziniert war sie. Jetzt blickte sie ihr Gegenüber an und begann zu erklären: „Wie Sie gelesen haben bin ich Studentin und mache gerade ein Praktikum hier in der Gemeinde. Ich interessiere mich für das Zusammenleben der Menschen in einer kleineren Gemeinde und wie Gemeinschaftserfahrung umgesetzt wird. Wie organisiert sich die Jugend? Was wird für die ältere Generation gemacht? Gibt es Möglichkeiten der Begegnung aller Generationen? Wie ist es mit Ihnen Frau Winter? Kümmert sich jemand um Sie? Nehmen Sie an irgendwelchen Aktivitäten teil?"

Inzwischen hatte sie ihre Tasche geöffnet und nahm ihren Laptop heraus. Schnell klickte sie sich in ihre Datei und schaute erwartungsvoll zu Frau Winter hinüber. „So was wie Stift und Papier kennen die heute gar nicht mehr", ging es der alten Dame durch den Kopf, während sie Frau Dahmen beobachtete und nicht mehr an deren Fragen dachte. „Was können Sie mir erzählen?", fragte noch einmal die Besucherin. „Nun", begann Frau Winter, „viel ist da nicht. Seit ich den Schlaganfall hatte, sind meine Aktivitäten natürlich eingeschränkt. Abgesehen vom Pflegedienst besucht mich eine Nachbarin regelmäßig, die Gemeindeschwester der evangelischen Kirche kommt einmal im Monat vorbei; wenn in der Bücherei eine Veranstaltung ist, versuche ich dorthin zu kommen. Es gibt auch bestimmte Kirchenabende, an denen ich schon mal teilnehme, vor allem, wenn es musikalische Veranstaltungen sind. Aber es ist jedes Mal beschwerlich dahin zu kommen. Ich muss mir ein Taxi nehmen."

Frau Winter wirkte auf einmal abwesend; sie hatte offensichtlich ihre Gedanken auf Reisen geschickt und seufzte leise. Frau Dahmen schaute einige Sekunden zu ihr hinüber. „Sehen Sie, hier greift nun unsere Idee! Es ist höchste Zeit, dass das Wissen und die Erfahrung - Verzeihung - der Alten bewahrt und weitergegeben wird. In einem Kulturverein, früher hätte man vielleicht Heimatverein gesagt, können ältere Menschen dazu beitragen, dass für nachkommende Generationen oder neu Hinzugezogene Informationen zu Geschichte, wichtigen Persönlichkeiten, Brauchtum, Techniken und vieles mehr gesammelt, gespeichert und bewahrt werden. Wir dachten an eine Art Museum, ein täglich geöffnetes Cafe für Lesungen und Begegnungen. Da steckt noch viel mehr an Gestaltungsmöglichkeiten drin."

Ihre Begeisterung war ansteckend. Vor Eifer hatten sich ihre Wangen gerötet, und nun schaute sie erwartungsvoll Frau Winter an. „Hätten Sie Lust, nein, könnten Sie sich vorstellen, bei der Gründung eines solchen Vereins mitzuwirken?" Frau Winter blickte starr geradeaus, aber man merkte, dass es innerlich in ihr arbeitete. Dann schaute sie Elisa in die Augen und lächelte. „Ja", sagte sie einfach. „Ich glaube, es würde mir große Freude bereiten." Und dann lächelte sie. Und Elisa lächelte zurück.

„Das finde ich großartig. Ich hole Sie übermorgen um 16 Uhr ab, und dann treffen wir uns zu einer ersten Vorbesprechung. Vielen Dank Frau Winter. Sie packte ihren Laptop wieder ein, stand auf und half Frau Winter beim Aufstehen. Langsam schritten Sie zur Tür, und Frau Winter schloss auf. Sie reichte Elisa die Hand und sagte ,Auf Wiedersehen'. „Ach, nennen Sie mich doch Elisa", sagte diese und hielt noch eine Weile die Hand der älteren Dame. „Und ich heiße Else", sagte sie und lächelte wieder. Erst als sie die junge Frau nicht mehr sehen konnte, schloss sie die Tür und legte die Kette vor. „Übermorgen um vier", murmelte sie vor sich hin, während sie noch immer lächelnd ins Wohnzimmer zurückging.