Kirmes vor 50 Jahren

Rosi Nieder, Herforst

Es ist Kirmes. Feierliches Hochamt, volle Kirche, fein herausgeputzte Dorfbewohner, jede Menge neuer Mäntel. Der Kirchenpatron wird gefeiert und zum Schluss singt man das Lied vom heiligen Soundso, das nur einmal Jahr gesungen wird, das aber alle kennen. Im Anschluss an die Messe beeilen sich die Frauen, nach Hause zu kommen. Keine Zeit für den obligatorischen Friedhofsbesuch, denn wenn der Besuch kommt, sollte das Kirmesessen fertig sein. Der männliche Teil der Dorfbevölkerung lässt es eher gemütlich angehen. In Schlips und Kragen sucht man den Weg ins Gasthaus. Die Kinder schleichen bereits um den einzigen Kirmesstand und die kleine Schiffschaukel herum und freuen sich darauf, nach dem Essen ihr Kirmesgeld zu verprassen. Zur Mittagszeit trudeln sie ein, die Kirmesgäste. Tante Mia mit den spitzen Knien, dem spitzen Kinn und oft mit eben solch spitzen Bemerkungen; Onkel Ferdinand mit dicken Bauch und Zigarre, aus dem Ruhrgebiet angereist im Ford 17 M. Tante Margret und Onkel Peter mit Kusine Inge und Vetter Fred, zu Fuß aus dem Nachbarort und Opas Bruder Hans, der Ordenspater in Kutte. In der guten Stube hat man den Tisch gedeckt mit Mutters gutem Essservice aus ihrer Aussteuer, das nur an solch hohen Feiertagen wie Kirmes, Weihnachten und Ostern in Gebrauch genommen wird. Oma ärgert sich, dass Onkel Ferdinand mit seinem Zigarrendampf das kleine Wohnzimmer verpestet, Mutter ärgert sich, dass Vater immer noch nicht aus der Wirtschaft zurück ist. Helga, die jugendliche Tochter, mit hoch toupierten Haaren, im Sonntagskleid mit weißer Schürze, hilft Mutter mit dem Essen, fiebert aber bereits dem abendlichen Tanzvergnügen entgegen. Jochen, der Kleine, rennt mit Fred im Hof herum und fängt sich von Oma ein paar Ermahnungen ein: „Macht euch ja nicht dreckig, sonst gibt es keinen Pudding." Als Vater endlich eintrifft, sitzt die ganze Verwandtschaft schon am Tisch. Es ist eng in der guten Stube, die Suppe dampft aus der Terrine, die einmal im Jahr zum Einsatz kommt. Onkel Hans stimmt das Tischgebet an und Onkel Ferdinand verdreht die Augen, als nach dem Dankgebet noch ein Vaterunser und ein Gegrüßt seist du Maria folgt. „Mach mal den Wein auf", spricht Mutter und Vater hat Glück, dass sie ihren Unmut über seine so späte Rückkehr aus der Wirtschaft nur in Blicken äußert. Schließlich hat sie ihm noch vor der Messe eingeschärft, ja pünktlich zum Essen daheim zu sein.

Gekochtes Rindfleisch mit Remouladensoße ist Tante Mias Lieblingsessen und auch Onkel Ferdinand greift kräftig zu. Trotzdem verzehrt er hinterher auch noch eine große Portion Schweinebraten. Jochen hofft, dass keine Petersilie mehr auf den Kartoffeln liegt, wenn die Schüssel an ihm vorbei gereicht wird. Fred nimmt sich so viel Soße auf die Kartoffeln, dass Tante Margret sagt: „Jetzt ist es aber genug". Den Soßenfleck, den ihr Sohn auf die weiße Tischdecke gemacht hat, überdeckt sie rasch mit ihrer Serviette. Inge möchte überhaupt kein Fleisch, weil... die armen Schweine und die armen Rinder..., aber Onkel Hans sagt, sie solle froh sein, wenn sie überhaupt etwas zum Essen hätte, während die armen Kinder in Afrika hungern müssen. Er hungert an diesem Tag jedoch absolut nicht. Es ist noch eine Zeit, in der Leute am Tag vor der Kirmes extra wenig essen, damit sie sich an so einem Tag tüchtig zuschlagen können.

Vater würde nach dem Essen furchtbar gerne sein sonntägliches Mittagsschläfchen halten. Daran ist natürlich nicht zu denken angesichts des vollen Hauses. So sitzt man dann beim Pudding und danach noch bei einer weiteren Flasche Wein, bis die Kinder keine Ruhe geben, endlich „auf die Kirmes" zu gehen. Aber nicht, ehe der Engel des Herrn gebetet wird und die Jungs sich bei dem nicht enden wollenden Singsang vor Langweile unterm Tisch gegenseitig auf die Füße treten. Dann endlich macht man einen kleinen Gang ins Dorf und begrüßt andere Kirmesgäste, viele Bekannte, die man von früher kennt. Onkel Ferdinand zeigt seine Schießkünste und schießt den Kindern ein paar Plastikblumen, einen MiniSchraubenzieher und ein paar Wattemännchen. Keine Frage, er ist auch der spendabelste Kirmesgeldspender und so kann sich Jochen eine Wasserpistole, Inge ein silbern glänzendes Gummibällchen und Fred ein kleines Autochen am Kirmesstand kaufen. Und alle wollen auf die Schiffschaukel. Auch Helga, die beim Abwärtsschaukeln immer ihren Rock festhalten muss, damit die unten Stehenden nicht ihre Strumpfbänder sehen. Derweil spült Mutter daheim das Porzellan.

Zum Kaffee gibt es Mutters schön verzierten Cremekuchen, Omas Streuselkuchen und Helgas modernen Käsesahnekuchen. Kaffee aus den Sammeltassen, aus denen sich der Kaffee wegen ihrer kegelförmigen Beschaffenheit bei einigen den Weg aus den Mundwinkeln nach unten sucht. Der Soßenfleck von mittags ist mit einer weißen Stoffserviette zugedeckt, dazu gesellen sich jetzt so einige Kaffeeflecken und Kuchenkrümel. Pater Hans verschenkt Heiligenbildchen und verabschiedet sich, Tante Mia hilft Mutter den Tisch abzuräumen und während die Kinder ihre letzten Groschen bei den Buden loswerden müssen, muss Helga helfen, aus den Resten vom Mittagstisch ein paar leckere Salate für das Abendessen zu zaubern. Sie weiß, dass Mädchen im Haushalt helfen müssen und sie macht es sogar gerne, denn abends darf sie endlich mit zum Kirmestanz. Wenn nur die Verwandten nicht allzu lange bleiben.

Als endlich alle verabschiedet sind, hat Vater keine Lust mehr, zum Tanzen zu gehen. Obwohl Mutter zwei Tage auf den Beinen war und sich keine Minute lang ausruhen konnte, lässt sie das aber nicht durchgehen. Nein, auf den Kirmestanz freut sie sich das ganze Jahr. Helga steht ihr zu Seite: „Nein, Vatter, du gehst mit! Keine Widerrede!" Mutter zieht ihr bestes Kleid an und macht ein paar Spritzer 4711 hinter die Ohrläppchen, Helga hat ihre hoch toupierten Haare mit so viel Haarspray eingesprüht, dass sie ihren Kopf rollen könnte, ohne dass auch nur ein Haar im Wind flattern würde. Rosa Lippenstift und schwarze Lidstriche über den Augen veranlassen Vater zu murren: „Su holen eych dich net mat, gieh wasch dich." Ihre Stöckelschuhe klacken über die holprigen Steine im frühen Abenddunkel. Ihr Herz klopft. Wer wird sie wohl heute zum Tanz auffordern?