Sieben Schmerzen sind einer zu viel

Christine Kaula, Wipperfürth

Theres' war am Morgen zur Wiese oberhalb der Kollegasse gelaufen, um das Heu zu wenden. Die Kollegass ist die Straße, die von Bodenbach nach Bongard führt. Heuwenden mit dem Rechen ist eine schwere körperliche Arbeit. Wer sie im Leben getan hat, weiß, wie sie in die Knochen geht. Deshalb richtete sie sich ab und zu auf, reckte sich und schaute über die Wiesen hinüber zur Straße. Von ferne konnte sie die sieben Heiligenhäuschen erkennen, die entlang der Straße standen, und die ein Vorfahr von ihr im 18. Jahrhundert errichtet hatte. Undeutlich erinnerte sie sich der Begebenheit, die immer wieder und immer etwas verändert erzählt wurde. Auf einem Gedenkstein an den Heiligenhäuschen waren folgende Worte eingemeißelt: „Die sieben Bildstöcke zur Verehrung der sieben Schmerzen Maria wurden 1816 auf Grund eines Gelübdes durch den Bodenbacher Schäfer Lorenz Heintz errichtet und 1916 erneuert." Sie erinnerte sich, dass eine alte Großmutter aus der Nachbarschaft ihr und anderen Kindern in der Jugendzeit Grausiges erzählt hatte von marodierenden Horden, die Dörfer überfallen, Menschen Böses angetan und Vieh gestohlen hatten. Und dieser Lorenz Heintz, einer ihrer Vorfahren, hatte einst die Schafherde des Dorfes vor einem dieser Überfälle in Sicherheit gebracht und gerettet. Die Geschichte geht so:

Im Lenze Haus an der Schulstraße kam Lorenz Heintz (1767-1843) zur Welt. Lenz ist die Abkürzung des Vornamens Lorenz, daher stammt auch der Hausname. Lenz wurde ein Schafhirt. Zugleich stellte er auch Pottasche her. Diese Pottasche (Kaliumcarbonat) diente zur Herstellung von Waschmitteln, Glas und vielem Anderen mehr. Noch heute steht vor dem Haus ein Kessel, den Lenz damals für die Pottascheherstellung gebraucht hat. Der Schäfer lebte zur Zeit der Französischen Revolution. Damals hatten französische Truppen die Eifel besetzt. Schwere Frondienste und hohe Abgaben waren den Bewohnern auferlegt. Häuser, Vieh und Vorräte wurden beschlagnahmt. Dann erreichten schlimme Nachrichten das Dorf. Es hieß, dass Soldaten in der Gegend herum schwärmten und alles raubten, dessen sie habhaft werden könnten. Als Lenz das hörte, versteckte er eilends die Herde des Dorfes in den Wäldern und bewachte sie. Trotzdem fand er nachts keinen Schlaf, betete zur Schmerzhaften Mutter Gottes und zum heiligen Antonius. Er tat folgendes Gelübde: Wenn es ihm gelänge, die Herde vor den marodierenden Horden zu retten, dann würde er sieben Heiligenhäuschen erbauen. Es gelang ihm, die Schafherde zu retten. Im Jahr 1816, nachdem Friede eingekehrt war, ließ er diese Häuschen errichten. Sie stehen auf einer schönen Anhöhe des Dorfes. Weit geht der Blick rundum zur Hohen Acht, zur Nürburg und zum Aremberg. Das alles ist lange her. Geblieben ist der Glaube, dass die Schmerzhafte Muttergottes den Menschen in großer Not geholfen hat und auch weiterhin hilft. Die Fußfälle beten, ist eine alte Sitte, die es an vielen Orten gibt. In Bodenbach hat sie eben diese besondere Vorgeschichte.

Und Theres' betete viel, das tägliche Gebet gehörte zum Tagesablauf dazu wie das Essen und Trinken. So selbstverständlich war das. Ein Stoßgebet murmelnd, beugte sie sich wieder über ihren Rechen und arbeitet weiter. Als sie die ganze Wiese gewendet hatte, machte sie sich auf den Heimweg. Auf dem Rückweg kam sie am Kollepütz vorbei, einem uralten Brunnen, mit dessen Wasser die Frauen des Oberdorfs gern ihre Wäsche spülten. Im Haus wartete schon ihre Schwägerin mit einer traurigen Nachricht auf sie. Ein Neffe hatte einen schweren Motorradunfall gehabt und lag im Krankenhaus. Es hieß, dass es schlecht um ihn stünde. „Heute Abend gehen wir alle die Fußfällchen beten", berichtete sie weiter. Das war der alte Brauch, dass sich die Frauen des Dorfes in Notfällen zusammenfanden, um an den Heiligenhäuschen zu bitten und zu beten. In der Zwischenzeit hatten sich die anderen Frauen schon untereinander verständigt, wann sie miteinander zu den Bildstöcken gehen wollten. So müde sie auch war, Theres' eilte sofort zu ihrer Schwester, um ihr zur Seite zu stehen und Genaueres über den Unfall zu hören. Zur vereinbarten Zeit trafen sich die Frauen am Lenze Haus, dem Elternhaus von Theres', und liefen gemeinsam zu den Heiligenhäuschen. „Ach", dachte Theres', „heute Morgen hätte ich noch nicht gedacht, dass dieser Tag mit solch einem Schrecken enden würde." Schon unterwegs betete sie ein Ave Maria nach dem anderen, die Angst um ihren Neffen krallte sich wie eine kalte Hand um ihr Herz. In der untergehenden Sonne beteten sie am ersten Bildstock. Dieser zeigt die Darstellung Jesu im Tempel und der Weissagung des Simeon. Mit sieben Ave Maria mit dem Zusatz „Jesu, den du mit Schmerzen im Tempel aufgeopfert hast" flehten die Beterinnen um Genesung des verletzten jungen Mannes. Am zweiten Bildstock, der die Flucht nach Ägypten zeigt, hieß das zweite Geheimnis: „Jesu, den Du auf der Flucht nach Ägypten mit Schmerzen getragen hast". Im dritten Heiligenhäuschen ist der zwölfjährigen Jesus im Tempel zu sehen. Der Ausruf „Jesus, den Du verloren und drei Tage lang mit Schmerzen gesucht hast" begleitete die wiederum gebeteten sieben Ave Maria. Die vierte Darstellung zeigt Jesus auf seinem schweren Gang mit dem Kreuz. „Jesus, der Dir mit dem schweren Kreuz beladen begegnet ist", beteten die Frauen siebenmal. Am fünften Bildstock, der Jesus am Kreuz hängend zeigt, lautete der Ausruf „Jesus, den Du am Kreuz hast sterben sehen". Die Dämmerung war hereingebrochen und ein leichter Wind strich durch die wenigen Bäume am Straßenrand. Einige Frauen schluchzten auf, so nahe ging ihnen das Geschehen um das Schicksal des so schwer verletzten jungen Mannes. „Jesus, den Du vom Kreuz in Deinen mütterlichen Schoß aufgenommen hast", lautete der sechste Ausruf vor dem Bildnis, das den Leichnam Jesu im Schoß der Mutter zeigt. Am siebten und letzten Heiligenhäuschen beteten die Frauen „Jesus, den Du mit dem größten Herzeleide zu Grabe getragen hast". Das Relief im Bildstock zeigt die Grablegung Jesus. Den Abschluss bildete ein steinernes Kreuz, an dem man noch weitere drei Ave Maria betete mit dem Zusatz „Jesus, dessen Leiden Du mit bitteren Tränen beweinet hast." Still verließen die Frauen den Ort ihres Gebets und gingen nach Hause. Man würde am nächsten Abend wiederkommen und noch einmal beten, insgesamt neunmal, wie es der Brauch verlangte. Am anderen Morgen erreichte jedoch schon eine weitere Botschaft das Dorf. Der junge Mann war seinen schweren Verletzungen erlegen. Das ganze Dorf trauerte.

Aber man bittet ja nicht nur um das Leben des Kranken. Man legt dessen Leben in die Hände Gottes und unterwirft sich seiner Entscheidung. Daran glaubte Theres' felsenfest und ließ sich auch durch nichts und niemanden davon abbringen. An der Beerdigung, an dem das ganze Dorf teilnahm, stand Theres' neben der weinenden Mutter. Tröstend legte sie ihr die Hand auf den Arm. Sie war sich sicher, dass ihr Neffe in ein besseres Leben vorangegangen war. Aber für die Mutter, die ihr Kind zu Grabe tragen musste, waren schon einer der sieben Schmerzen zu viel.

Bildstock Kollegass: Jesus unter dem Kreuz Foto: Thorsten Krämer, Bodenbach