Morgenfrühe

Ingrid Schumacher †, eingereicht von Lissy Stieber, München

So gegen vier Uhr standen wir auf, meine Mutter und ich. Zweiundzwanzig Kilometer Schulweg lagen vor uns - eine Wanderung von Rengen nach Gerolstein. Diesen Weg war ich in umgekehrter Richtung oft gegangen, zuletzt im Januar 1945, durch tiefen Schnee, als Flüchtling und in Angst vor Bomben und Tieffliegern. Jetzt war Frieden, und in Gerolstein hatte die Schule wieder angefangen. Montags ging der Zug nicht, der an Wochentagen doch immerhin so etwa bis Hohenfels fuhr. Also mussten wir uns früh auf den Weg machen, denn Zuspätkommen gab es nicht. Wir fanden das nicht schrecklich, wir beide. Ganz leise schlichen wir uns aus dem Haus, in dem unsere Betten standen, und gingen die Dorfstraße hinauf. Dort war in den letzten Kriegswochen eine Panzersperre errichtet worden. Als Generalmajor Holsdorf, „Der Löwe von Wilna", Anfang März 1945 die Verteidigung auch dieses Dorfes befohlen hatte, wurde sie geschlossen und mit Soldaten besetzt. Wir mussten in anderen Zimmern im Haus meiner Großeltern auf dem Boden schlafen. Als dann die Amerikaner kamen, wurden wir nach der Ausgangssperre am Abend mit militärischer Bewachung ins Bett gebracht: rechts und links von uns ein bewaffneter GI.

Es gab nur einen Schlüssel zum großelterlichen Haus, und der steckte innen in der verschlossenen Tür. So warfen wir kleine Steine an das Fenster der Kammer, in der sie schliefen. Obwohl sie sich stets mit Klagen über ihre Schlaflosigkeit gegenseitig überboten, dauerte es oft sehr lange, bis einer wach wurde und uns hereinließ. Das Frühstück war knapp und eilig. Dann machten wir uns auf den Weg. Über die stille Gasse - außer uns war noch niemand auf - ging es über die Felder Richtung Waldkönigen und Dockweiler Wald. Es war noch dämmrig, wenn wir „Maria", das frühere Munitionslager, erreichten. Hier hatte ich während des Krieges so allerlei gefunden. Einmal hatte ich eine Handvoll grauer „Rädchen" mit nach Hause gebracht, von denen sich dann herausstellte, dass es Schießpulver war. Ein anderes Mal hatte ich fast einen „Füllfederhalter" mitgenommen, der an einem Baum hing. Mein Vater riss mich in letzter Sekunde zurück, es war eine Mine gewesen. Nun gingen wir ungehindert über den weichen Waldboden. Einträchtig setzten wir unseren Weg fort, meist schweigend, aber manchmal sangen wir auch: „Und in der Morgenfrühe, das ist unsere Zeit" oder auch „Wem Gott will rechte Gunst erweisen...". Weiter ging's nach Dreis und dann den Weg hinauf zum „Kirchweiler Kreuz". Von hier hatte mein Vater 1945 das Aufblitzen der Artillerie beobachtet.

Inzwischen war es sechs Uhr geworden, die Sonne war aufgegangen, alles glänzte im Morgenlicht. Bis jetzt waren wir niemandem begegnet. Erst jetzt stiegen in Kirchweiler die ersten Rauchsäulen aus den Schornsteinen. Nun war es Zeit für meine Mutter zurückzugehen. Jede von uns hatte noch etwa zwei Stunden Weg vor sich. Sie ging zurück, und ich setzte meinen Weg fort. Ich winkte ihr noch nach, als sie den Berg wieder hinunter ging, schnell und ohne zu rasten. Vor mir lag die Eifellandschaft und - wie ich glaubte - die Welt. Nie wieder habe ich den Beginn eines Tages so strahlend erlebt wie damals. Zehn Minuten Pause. Ich nahm das Brot aus meinem Schulranzen, setzte mich ins Gras und fühlte mich wie eine Gestalt aus Eichendorffs Erzählungen. Bald würde ich in Pelm sein. Im Weitergehen sagte ich laut Gedichte auf, beobachtete die Lerchen und sang vor mich hin. In Pelm hatte das Leben begonnen: Scheunen waren auf, das Vieh wurde gefüttert. Ich grüßte alle und jeden und lachte über die erstaunten Blicke. Pintens Mühle! Ich näherte mich Gerolstein. In der Mühlenstraße ging ich an dem Haus vorbei, in dem ich während der Woche ein winziges Zimmer hatte. Die Vorhänge waren zugezogen. Ich konnte nicht hineingehen, denn das Zimmer wurde am Wochenende anderweitig genutzt. Also weiter über die Brücke und die Anhöhe zum Dolomit hinauf, wo die Knabenschule war, an der wir Mädchen nur geduldet waren. Manchmal war ich etwas früh, aber nie zu spät, um acht begann der Unterricht.