Frühmesse und Milchlieferung

Helmut Großmann, Köln

Frühmesse und Milchlieferung waren für meine Mutter untrennbare Ereignisse. Wir zuhause hatten in der Nachkriegszeit eine Kuh, ein Schwein und natürlich Katzen und viel Federvieh. Mit den mageren Erzeugnissen wie Milch, Butter, Eier und hin und wieder ein mit eigener Hand geschlachtetes Huhn, kamen meine Oma, meine Mutter und ich recht und schlecht über die Runden. Aber wir waren mit unserem Leben zufrieden.

Meine Mutter hatte zu Frau Wollwert, ihrer Schulkameradin, den alteingesessenen Gerolsteinern besser als „Maldeners Erna" bekannt, ein gutes Verhältnis. Sie und ihr Mann hatten, wie wir vom Rother Weg - heute Zum Sandborn - zu sagen pflegten, „hinne im Flecke" ihre Backstube und das Geschäft. In einer Bäckerei, mit deren Verdienst eine Großfamilie ernährt werden musste, wurde immer frische Milch benötigt. Unsere Kuh Frieda war recht fleißig und gab am Tag regelmäßig mehrere Liter Milch. So kam es, dass wir als Klein-, besser Nichtbauern, jeden Morgen zwei Liter Milch in Wollwerts Bäckerladen brachten. Hierfür benutzten wir vier Milchkannen aus Weiß- oder Zinkblech mit Deckel, von denen jede einen Liter fasste. Zwei von ihnen waren täglich gefüllt mit Milch im Einsatz. Die beiden anderen Kannen kamen am nächsten Tag sauber ausgewaschen zurück und dann wieder zum Einsatz. Sie konnten auch schon mal eine kleine Beule vertragen, ohne dass sie zerbrachen. Von dem so erwirtschafteten Milchgeld konnten wir uns auch mal andere Lebensmittel kaufen. Von Wollwerts Bäckerladen gingen meine Mutter und ich direkt zur Kirche und kamen noch rechtzeitig zur Sieben-UhrFrühmesse. Das machten wir viele Jahre. Nachdem - wie viele andere - auch Wollwerts ausgebombt waren und Backstube und Bäckerei in Schutt und Asche lagen, zogen sie mit der ganzen Familie in die Sarresdorfer Straße. Dort backten sie abwechselnd mit Bäcker Körperich in dessen Backstube Brot, Brötchen und Kuchen. Beide Familien hattenim gleichen Haus ihre eigenen Läden, die eine rechts, die andere links vom Eingang. Jeder bot seine eigenen Erzeugnisse zum Verkauf an. Konkurrenzdenken war zu dieser Zeit nicht angesagt, obwohl es sicher nicht immer leicht war, miteinander auszukommen. Alle arrangierten sich und waren froh, dass beide Familien genügend zu essen hatten.

Die Milchlieferung erfolgte auch in der Zeit, als die beiden Bäcker zusammen in der Sarresdorfer Straße wohnten. Für meine Mutter und mich war der tägliche Weg mit den beiden Milchkannen etwas kürzer geworden. Wir gingen meistens vom Rother Weg kommend, am Auberg vorbei Richtung Friedhof, bogen bei der Drahtfabrik ab und gingen die Lindenstraße entlang, dann die Gartenstraße hinunter, und schon waren wir beim Bäcker Wollwert. In der Frühe war natürlich das Geschäft noch nicht geöffnet. Deshalb gingen wir durch den Hintereingang direkt in die Backstube und gaben dort die Milch ab. In der warmen Backstube wärmten wir uns auf und manchmal bekamen wir auch ein oder zwei frisch gebackene, herrlich duftende Brötchen mit nach Hause.

Wir waren durchtrainiert und gewohnt früh aufzustehen. Wie meine Mutter das fertigbrachte, mich jeden Morgen rechtzeitig aus dem Bett zu locken, war ganz einfach. Mit viel Liebe, aber auch mit Entschlusskraft zog sie jeden Morgen um viertel vor sechs mit einem Ruck die Bettdecke weg und rief: „Es ist Zeit aufzustehen!" Das war ein Befehl und schon sehr hart, plötzlich aus seinen schönsten Träumen gerissen zu werden. Oft wäre ich noch gerne im warmen Bett liegen geblieben, aber mir blieb nichts anderes übrig als aufzustehen. Später hatte ich mich an das Frühaufstehen gewöhnt. Es machte mir nicht mehr so viel aus und ich stand gerne auf. Ob man heute, wo es uns allen gut geht, noch diese Energie aufbringen würde? Ich glaube sicher nicht. Aber eines habe ich daraus gelernt: Disziplin, vor allem gegen sich selbst, hat noch niemandem geschadet.