„Ran an den Speck!"

Längst überholt oder doch wieder „in"?

Heidi Probst, Gommersheim

Es war wieder einer dieser Tage, an dem meine Oma für einige Stunden das Weite suchte. Ihr ging es jedes Mal zu nahe, wenn einer unserer grunzenden Stallbewohner unfreiwillig aus dem Leben scheiden musste. In einem unbeobachteten Moment ging sie einfach „stiften".

„Es" muss gespürt haben, dass seine letzte Stunde geschlagen hat, denn Unruhe machte sich in den spärlich beleuchteten Räumlichkeiten unseres Hinterhofes breit. Die persönliche Stippvisite des Hausherrn mit seiner männlichen Begleitung sorgte auch nicht unbedingt für ein körperliches Wohlbefinden - zumal einer von ihnen noch so seltsam gekleidet war. Nervös verfolgte unsere Wutz die hastiges Schritte, die sich immer schneller auf sie zubewegten. Barsch wurde das kleine Gatter aufgerissen und jeder Widerstand war zwecklos. Das Leben stand sozusagen „auf des Messers Schneide".

Ein Spießrutenlauf über den lehmigen Scheunenboden begann. Alle Beteiligten gaben sich die allergrößte Mühe, mit dem Koloss nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Zum Hof waren es nur noch ein paar Schritte. Dann ging alles ganz schnell...

Unser Allesfresser lag nun regungslos am Boden. Nach seiner „Hinrichtung" wurde er auf die graue Zinkwanne gehievt, die ihn mit einer Holzleiter stabilisierte. Doch bevor der Metzger voller Elan ans Werk gehen konnte, wetzte er erst einmal sein Messer mit dem schwarzen Holzgriff. Jeder Samurai hätte ihn um diese Klinge bewundert.

Der Begriff „Schlitzohr" bekam für mich plötzlich eine völlig neue Bedeutung. Willi bewegte sich mit einer solchen Wendigkeit, dass ich oft befürchtete, er könnte sich in seiner langen Gummischürze verheddern und unserer Wutz in der Wanne Gesellschaft leisten. Doch dazu ist es zum Glück nie gekommen.

Nun wurde unser Doppelzentner heiß abgeduscht. Übelriechender Wasserdampf stieg mir in die Nase. Meine Neugier hielt mich jedoch davon ab, dem Schlachtfeld den Rücken zu kehren. Nach einer ausgiebigen Nagelpflege und Ganzkörperrasur sah er aus wie ein „begossener Pudel". Um ein Haar wäre er uns noch ungeschoren „davongekommen". Mittlerweile hatten sich die ersten Schaulustigen um das Geschehen versammelt. Unter die Zuschauermenge gesellte sich auch ein kleiner Spitzbub aus der Nachbarschaft, der es liebte, anderen einen Schabernack zu spielen. Er schenkte dem Szenario große Aufmerksamkeit. Ganz besonders fixierte er das kleine „Ringel"schwänzchen - immerhin hatte es doch nun seinen Anschluss verloren. Schwuppsdiwupps packte er die Gelegenheit beim „Schopf" und konnte unbemerkt - so dachte er jedenfalls - der Zuschauermenge entkommen. Selbstbewusst marschierte er die Dorfstraße hinunter und nutzte die Gelegenheit, um einer älteren Dame einen kleinen Streich zu spielen.

Huch! Ob Tante Lena wusste, welcher kleine Übeltäter ihre diese Trophäe vor die Haustür gelegt hat? Sicher hätte sie ihm die Ohren langgezogen. So ein kleiner Schelm! Er war aber auch ein ver"schmitz"tes Kerlchen, doch ihm konnte niemand wirklich böse sein. Unaufhaltsam durchdrangen die ersten Sonnenstrahlen die morgendlichen Nebelschwaden, die auf dem idyllischen Ort lagen. Eigentlich war es ja ein schöner Tag zum Sterben. Die Organentnahme neigte sich langsam dem Ende zu. Und da ja alles „Hand und Fuß" haben musste, fixierte man unser Prachtexemplar sicher an der Leiter. Hoffentlich hatte es sich zu allem Übel nicht auch noch eine Sehnenzerrung zugezogen. Völlig motivationslos lehnte es nun an der graublauen Tür der Waschküche und wartete auf seine Weiterverarbeitung. Es ließ sich ganz schön hängen. Kaum zu glauben, dass es Stunden zuvor noch genüsslich aus seinem Futtertrog geschmatzt hat. Dieses „Event" lockte auch die kleinen Vierbeiner aus ihrem Versteck. Voller Erwartung tigerten sie auf ihren weichen Samtpfötchen an. Mit Geduld und Ausdauer umzingelten sie „ihre" Beute mit gierigen Blicken. Hofften sie doch immer noch, ein paar Häppchen zu ergattern. Aber keine Chance - denn es gab da jemand, der es gar nicht gerne sah, wenn unsere Wutz vernaschtwurde. Letztendlich sollte doch nicht alles „für die Katz'" gewesen sein. Hoppla! Wer kam denn da wieder zum Vorschein? Das konnte doch kein Zufall sein, dass Oma ausgerechnet in dem Moment auftaucht, als unser Doppelzentner offiziell für tot erklärt werden konnte. Da hat sie aber nochmal „Schwein gehabt".

Am nächsten Tag stattete uns, beziehungsweise unserem Prachtexemplar, der Fleischbeschauer aus Gillenfeld einen Besuch ab. Er hatte die verantwortungsvolle Aufgabe, es ganz genau auf Herz und Nieren zu prüfen. Seinen Hut und seine heißgeliebte Zigarre hatte er immer im Gepäck. Ohne sie war er wie Kojak ohne Lolly. Mit seinem geschulten Auge musterte er es von allen Seiten. Nachdem er seine Duftmarke überall hinterlassen hatte, wurde es mit seinem Gütesiegel für den weiteren Verzehr freigegeben. Es war sozusagen „abgestempelt".

Das gute Stück durfte jetzt im Sicherheitsbereich des Kühlhauses sein Dasein fristen. Fröstelnd hing es da in seinem fahlen Speckmantel. Durch eine Glastür konnten wir es noch für einige Zeit betrachten, bevor es dann in seine Einzelteile zerlegt wurde. Man ging nicht gerade zimperlich mit ihm um, denn sie hackten ganz schön auf ihm herum. Das ging einem ja durch „Mark und Bein". Schön sortiert und verpackt legten wir es in dem Schließfach mit der Nummer „25" für einige Monate auf Eis.

Geschafft! Der große Tag war gekommen. Immerhin ging es um die Wurst. Opa feuerte schon früh am Morgen den großen Ofen in der Waschküche an, denn es dauerte doch einige Zeit, bis sich der Wasserkessel aufgeheizt hatte. Nach und nach verteilte sich eine wohlige Wärme durch den sonst so eisigen Raum. Unserem Schwein wurde an diesem Tag aber ganz schön eingeheizt. Bald purzelten die ersten Fleischstücke in das siedende Wasser. Alles Verwertbare kam mit hinein: Ohren, Schnauze und das kleine ...? Ach stimmt, es hat sich ja auf leisen Sohlen davongeschlichen. Durch den aromatischen Duft der herzhaften Fleischbrühe wurden auch die Mäusefänger wieder angelockt und stellten Besitzansprüche. Das große Sprossenfenster war durch den Kochdunst völlig beschlagen und um den Durchblick nicht zu verlieren, mussten wir hin und wieder die Tür einen Spalt öffnen. Sie verursachte jedes Mal ein solch schleifendes Geräusch, dass die kleinen Biester am Ende doch noch das Weite suchten.

Ich bekam die verantwortungsvolle Aufgabe zugeteilt, den Fleischwolf zu bedienen, der auf dem dunklen Holztisch befestigt wurde. Die Freude meinerseits war groß, denn Durchdrehen wollte ich immer schon. Ob meiner Oma bewusst war, was sie sich da „eingebrockt" hatte? Mit der großen Fleischgabel fischte sie die ersten Fleischstückchen aus dem Sud. Des Öfteren mussten sich diese jedoch einer ausgiebigen Qualitätskontrolle unterziehen. Aber schnell bekam ich „mein Fett weg", denn dieser Frau entging nichts. Sie verfügte über ein peripheres Sehvermögen. Sie konnte auch Dinge wahrnehmen, die sich außerhalb ihres Blickwinkels abspielten. Als sich Willi die frisch gebügelte Schürze umband, hatte das Warten endlich ein Ende. Nachdem der meterlange Schweinedarm gründlich gereinigt und in Salzwasser eingelegt war, überprüfte er ihn noch auf dessen Qualität. Er ließ sich aber nicht aus dem Konzept bringen, auch nicht, wenn Oma ihre alten Geschichten wieder auftischte. Wie ein Freiluftakrobat wirbelte er die gefüllten Hüllen und verknotete sie sorgfältig mit einer Wurstkordel. Er hatte alles „geschickt eingefädelt". Im Nu lagen dann massenweise Blut- und Leberwurstringe auf dem Tisch. Ich fragte mich, wer die alle essen sollte. Auf Stielen wurden sie zum Trocknen aufgereiht und über zwei Stuhllehnen gestützt. Ein Teil davon kam in die Räucherkammer, doch auch die Verwandtschaft sollte nicht zu kurz kommen. Die Nachkommen aus der Stadt bekamen auch noch einige Leckerbissen mit der Post zugeschickt. So ging unser Schwein wortwörtlich auf seine letzte Reise. An dem Verlust hatten wir alle noch einige Zeit zu knabbern. Endlich ging es in die kulinarische Endrunde. Traditionell wurde die Verwandtschaft aus der näheren Umgebung zum Wurstessen eingeladen. Jetzt konnten wir nach Herzenslust aus dem Vollen schöpfen.

Mittlerweile hatten wir uns um den kleinen weißen Küchentisch versammelt. Die Stube war voll und wir mussten etwas näher zusammenrücken. Unser Fachmann durfte an diesem Abend auf keinen Fall fehlen, denn immerhin hatte er unserem Schwein zu dieser körperlichen Verwandlung verholfen. Willi hatte sich mal wieder selbst übertroffen und hat alles gut gewürzt. Es war die Muskatnuss, die der Blutwurst wie immer ihre pikante Note verliehen hat. Auf das Ereignis musste Opa natürlich mit ihm anstoßen - war ja „klar".

Ich hatte vielleicht einen Kohldampf. Was ein Wunder! Die verbrauchte Energie musste meinem Körper doch wieder zugeführt werden. Ich weiß nicht mehr, wie viele Wurstbrote ich verputzt habe, doch irgendwann verspürte ich einen leichten Druck in der Magengegend. Vermutlich hatte ich wieder einmal zu viel gegessen. Trotz allem leistete ich unserer kulinarischen Runde noch ein wenig Gesellschaft, auch wenn ich deshalb die letzte Folge von „Schweinchen Dick" verpasste - doch das war mir an diesem Abend völlig „Wurst".