Gewitter

Anita Adams, Kirchweiler

Hinter meinem Elternhaus fließt der Berlinger Bach. Ein kleiner Bach, nicht besonders breit, nicht besonders tief. Als Kinder marschierten wir in Gummistiefeln unter diversen Brücken hindurch und ab und zu flog ein Ball beim Spielen in den Bach. Dann galt es, schnell zu sein: wir flitzten einmal um Jokems herum, an Krengs vorbei und dort hinters Haus - da gab es ein paar frei zugängliche Stufen hinab zum Wasser. Und mit etwas Glück erwischten wir unseren Ball dort. War er aber schon an der kleinen Treppe vorbei, so liefen wir ein Stück weiter, denn es gab noch die Chance, ihn unterhalb von Jönnischden, dem damaligen Gemischt-warenladen Pütz, herauszufischen. Diese Erinnerungen an meine Kindheit kamen mir in den Sinn, als ich nach dem Unwetter im Sommer 2016 am Berlinger Bach stand. Am siebten Juni zog mittags ein Gewitter über Kirchweiler auf. Ein heftiges Gewitter. So stark, wie ich bisher noch keines erlebt hatte: erst wurde es dunkel, dann kamen die Blitze, unmittelbar gefolgt von krachenden Donnerschlägen. So laut und heftig, dass ich fürchtete, der Blitz würde irgendwo in der Nähe einschlagen. Das Gewitter hing genau über uns. Es hagelte. Und dann kam der Regen. Sehr viel Regen in kurzer Zeit. Er peitschte von allen Seiten mit voller Wucht gegen die Fenster. Der bange Blick nach draußen zeigte statt Pfaden große Pfützen im Garten und eine von brauner Brühe überschwemmte Terrasse. Das Wasser schoss nur so aus Regenrohren heraus und von Mauern herab. Als das Gewitter nach circa einer Stunde endlich zum Stillstand gekommen war, sah man im vorher grünen Naturschutzgebiet „Kirchweiler Rohr", das zwischen den Orten Kirchweiler und Berlingen liegt, große braune Seen. Rundum heulten Sirenen auf. Die örtliche Feuerwehr musste in Hinterweiler und Kirchweiler vollgelaufene Keller auspumpen; auch die Straßenbaustelle in der Hauptstraße war überschwemmt. Ein Kontrollgang durch den Garten zeigte zerfetzte Pflanzen und weggeschwemmtes Erdreich; Trittplatten waren unter dem Matsch verschwunden. Ich rief meine Mutter an, um zu hören, wie es denn bei ihr aussähe. „De Baach rouscht schwer." Nein, zu kommen brauchte ich nicht. Eine gute halbe Stunde später alarmierte sie meinen Bruder mit den Worten: „Rainer, mir schwömme fott!" Als ich in Berlingen aus dem Auto stieg, war der Hof übersät mit Pflanzenresten, lauter kleine Stücke, wie gehäckselt. Und als ich hinters Haus in Richtung Bach ging, hörte ich ein unheimliches Rumpeln -verursacht von den riesigen Steinen, die bis dato den Bach seitlich begrenzt hatten und die nun laut polternd im Wasser abwärts rollten. Das war nicht mehr der gewohnte kleine Bach, sondern ein Fluss. Und dabei war der Wasserspiegel wohl inzwischen schon wieder kräftig gesunken. Ein Nachbar zeigte mir auf seinem Handy ein Foto: die Brücke, auf der ich jetzt stand, war zuvor komplett überflutet worden. Am Maschendrahtzaun unserer kleinen Brücke zur anderen Bachseite, sonst circa anderthalb Meter von der Wasseroberfläche entfernt, hing allerhand Gestrüpp und zeigte, wie hoch das Wasser gestiegen war. So hatte ich unseren Bach noch nie gesehen. „Esch äwer", meinten unisono unsere Nachbarn Peter und Robert - sie hatten den Wolkenbruch von 1959 miterlebt. Das war vor meiner Zeit, aber ich weiß aus Erzählungen, dass damals der Blitz in die Kirche eingeschlagen hatte, und dass man die Ferkel ins Wohnhaus evakuiert hatte, damit sie nicht ertranken. Mutters große Blumentöpfe waren teilweise fortgeschwommen; ihr Garten hatte jedoch nicht viel abbekommen, da der Pesch, unsere ehemalige Hühnerwiese, zwischen Bach und Haus liegt. Aber in den einstigen Hühnerstall war das Wasser gelaufen, außerdem in die Scheune und in ihren Keller. Die Wehren aus Berlingen und Gerolstein waren weiter unten im Ort im Einsatz: dort hatte das Wasser mehrere Wohnhäuser komplett verwüstet. Mutters Keller wurde von Mitgliedern der Freiwilligen Feuerwehr Mürlenbach leergepumpt. Mein Bruder, seine Familie und ich halfen, so gut wir konnten. In Gummistiefeln, in der braunen Brühe stehend, trat ich auf etwas Weiches, Undefinierbares und stieß wohl einen erschreckten Laut aus. Früher gab es hier Mäuse... Da meinte der Feuerwehrmann von der Kyll: „Dir werd doch wohl kehn Angst für esu er klener Mous han!" Doch, ich hatte. Und ich war froh, als sich das vermeintliche Nagetier als Kartoffel entpuppte.

Viel größer als meine Angst vor Mäusen ist allerdings nach wie vor der Respekt, den ich vor Gewittern habe.