Zeit des Raben

Wilma Herzog, Gerolstein

Mit kräftigem Flügelschlag erhob sich der Rabe von seinem hohen Nistbaum im Felsterrain des Heiligensteins, flog mit ruhigem Flügelschlag über das Schloss hinweg, dessen Schiefer gedeckte Türme in der Mittagssonne gleißten. Er drehte einen Bogen vor der Munterley, dem schroff aufragenden Korallenriff, das sich jetzt durch Ginsterbüsche gelb betupft darbot, kam zurück über der silbrig schimmernden Kyll und kreuzte mit wenigen starken Flügelschlägen das mit Mauern und Türmen umwallte Städtchen, das sich mit geschindelten Hausdächern und Stroh gedeckten Scheunen wie ein Nest an den Burgfelsen unterm Schloss schmiegte. Dann ließ er sich mit Flügelrauschen mitten darin am ummauerten Sauerbrunnen nieder. Einen Steinwurf entfernt lehnte sich gerade Meister Christian zufrieden gegen seine zweiflügelige Haustür. Genüsslich nagte er einen Fasanenschenkel blank, brach den Knochen entzwei, lauschte dem feinen Splittern, warf dann die Teile in hohem Bogen in den Garten nebenan. Dahinter im Stall stand seit ein paar Monaten das beste Pferd weit und breit, sein edles schwarzes Vollblut. Das brauchte er auch. Denn seine Arbeit erforderte raschen Einsatz mitsamt den diversen Gerätschaften, bis nach Blankenheim, Meister Christian war der Henker von Gerolstein.

Zwölf Jahre schon tobte dieser unselige Krieg im Land und in mancher Gasse des Städtchens waren Häuser von hungrigen Landsknechten die ihren Sold nicht erhalten hatten, geplündert und gebrandschatzt worden. Am Tag zuvor erst hatte es die Mühle getroffen, die unten an der Kyll, außerhalb des Mühlentors und der Stadtmauer lag.

Die langanhaltenden Schrecken des Krieges jedoch hatten bereits vielen die Herzen verhärtet gegen die Not ihrer Mitmenschen. An erster Stelle lag nun ihr eigenes Wohl und an zweiter, für eigene Notzeiten vorzusorgen. So blieben die vom Schicksal Geschlagenen meist sich selbst überlassen. Nicht wenigen war diese Zeit zu einer wahren Goldgrube geworden. Meister Christian gehörte dazu. Vorbei waren die beschwerlichen Anfänge seiner Tätigkeit, als er und seine Familie im Ort kaum geduldet, eher noch verachtet waren. Jetzt besaß er nicht nur beim Gerolsteiner Gerichtshof großes Ansehen, sondern nannte auch den höheren Stadtturm, direkt am Westtor gelegen, mit Stallung und ansehnlichem Garten sein Eigen. Es war der Besitz der Porze-Agnes, den er samt Inventar nach ihrer Verbrennung auf dem Scheiterhaufen übernommen hatte. Mit dem Erlös aus der Hinrichtung des Gerolsteiner Amtmanns, Heinrich von Mühlheim, die vor einem Jahr noch viel Aufruhr erzeugt hatte, hatte er sein Anwesen renoviert.

Nachdem er kräftig gerülpst und sich mit dem Handrücken den fettigen Mund gewischt hatte tat er nun ein paar Schritte vor sein Anwesen. Er sah hinauf zum neu eingefügten barocken Erker, die Maisonne ließ die frisch behauenen Sandsteinornamente und die neueingefassten Fenster mit ihren Butzenscheiben am Turm glitzern. Seine Augen beschäftigten sich mit Wohlgefallen an seinen eigenen, in die Verstrebung frisch eingehauenen verschnörkelten Initialen und der Jahreszahl 1630, als Hufgetrappel die Mittagsstille zerbrach. Der Gerichtsbote kam die gepflasterte Straße herauf. Unten, über den geschwärzten Mauerresten der Kyllmühle, lag immer noch der beißende Geruch des Brandes. Die Müllertochter zog einen angekohlten Dachsparren aus dem Schutt, um ihn als Feuerholz zu verwenden. Der aus Lehmfachwerk errichtete Bau lag 30 Schritte von der Mühle entfernt. Darum hatten die Flammen ihn verschont. Unter seinem Strohdach hatten die überlebenden des Feuers, Margarethe, die Müllerin, und ihre achtzehnjährige Tochter Anna, neben dem leeren Schweinekoben Zuflucht gefunden. Dem Müller, der sich schützend vor seine schöne Tochter stellte, hatte ein Soldat die Pike mitten ins Herz gestoßen, sodass er rücklings ins Räderwerk stürzte, das er seit über zwanzig Jahren getreulich in Bewegung gehalten hatte. Dann raubten die Landsknechte ihnen die einzige Kuh und das Mühlschwein, das sie dem Grafen als Mühlenpacht schuldeten, dazu alles Mehl und Getreide, das sie auf den Müllerkarren luden, vor den sie den Esel spannten. Sie warfen an mehreren Stellen brennende Strohbüschel in die Mühle. Schnell fraß sich das Feuer ins trockene hölzerne Innere. Vergeblich versuchten die Frauen den Toten zu bergen und den Brand zu löschen. Die verrohten Kerle ergötzten sich noch eine Weile an den verzweifelten Versuchen der Frauen, dann zogen sie ab. Den Frauen war nur geblieben, was sie bei dem Überfall auf dem Leibe trugen und ein eiserner Topf, den sie unversehrt aus der Asche zogen.

Seit Stunden hockte die Müllertochter traurig und hungrig an der Feuerstelle und wartete auf die Rückkehr ihrer Mutter. Immer wieder legte sie Holzstücke nach, den Rock ihres roten Kleides geschürzt. Als sie den Stoff hierfür vom letzten Herbstmarkt nach Hause gebracht hatte, hatte ihre Mutter gemeint: „Ich weiß nicht, Anna, hatte der Weber kein blaues Tuch? Das hätte dich gut gekleidet. Im feuerroten Kleid wirst du aussehen wie ein brennendes Scheit!"

Margarethe war seit dem ersten Hahnenschrei bei der Schneiderin, die zum ersten Mal in Wehen lag. Als Anna ihre Mutter zurückkommen sah mit dem fremden Korb im Arm, sprang sie auf und lief ihr entgegen. Im Korb lag ein geköpfter Hahn. Ihre Mutter sagte müde und traurig: „Anna, den wollt ich gar nicht annehmen, aber der Schneider bestand darauf. Denn bald wird sich auf Sarresdorf der Totengräber für Mutter und Sohn einen Hahn erfragen". Entsetzt sah Anna sie an, wusste aber, dass es für die gleichaltrige Schneiderin keine Hoffnung gab, denn ihre Mutter war die kundigste Hebamme weit und breit. Dann schwiegen sie, dachten beide an das Schicksal, das überall und jederzeit so erbarmungslos zuschlug. Bald brodelte Wasser im eisernen Topf auf den Steinen und sie begannen den Hahn zu rupfen.

Sie sahen nicht hinauf zur Stadtmauer, zum kleinen eingelassenen Fenster darüber, und bemerkten deshalb auch nicht das verzerrte blasse Gesicht, das sie beobachtete. Sie waren hungrig und es war ihr erstes gutes Mahl nach dem Schrecken. Trauer und Wehklagen würde ihnen den Müller nicht wiederbringen, auch nichts von ihrem Hab und Gut. Die beiden zerteilten den Hahn, als er gar war, und aßen sich satt. In seinem Hause hatte unterdessen Meister Christian den Boten recht freundlich empfangen, im festen Glauben, Dr. Moeden aus Münstereifel würde seine Henkerdienste erneut in Anspruch nehmen und war äußerst verärgert als er ein Schreiben von der gräflichen Kanzlei in Händen hielt, die auf Burg Niederbettingen eingerichtet war. Er und seine Gehilfen wurden ermahnt und unter Androhung eines eigenen Prozesses verwarnt, sich künftig an die vorgeschriebenen Folterungen und ihre Zeiten genau zu halten. Sie sollten keinesfalls der eigenen Bosheit freien Lauf lassen und Häftlinge übermäßig quälen. Der Bote war längst - und diesmal - ohne das sonst übliche reichliche Trinkgeld fortgeritten, und der Scharfrichter in seinen gepolsterten Stuhl gefallen, als er eine weitere Passage entzifferte, worin es um die Weitergabe von Aussagen der Delinquenten bei den Folterungen und von letzten Worten vor Hinrichtungen gegen einträgliche Bezahlung ging. Herrisch befahl er seiner Frau einen großen Krug Wein aus dem Keller zu holen, verbunden mit dem Vorwurf: „Du hast beim Fasan heute Mittag wohl zweimal ins Salzfass gegriffen". Er setzte den Krug nicht eher ab, bis er halb geleert war und sprang auf, weil er an die Stelle des Briefes kam, es sei dem Grafen zugetragen worden, dass es bei Folterungen durch übermäßigen Weinkonsum zu Enthemmungen gegenüber Angeklagten gekommen wäre. Er lief zum Erkerfenster, sah dort über dem mächtigen Pütz das Schloss mit seinen Zinnen ragen, Zornesröte färbte sein grobporiges Gesicht unter den schwarzen Locken dunkel, und mit einem Fluch riss er dem Schreiben das rote Siegel ab und zerriss den Brief in kleinste Fetzen.

Der Blassgesichtige, der oben in zwei engen Räumen oberhalb der Stadtmauer seinem

Schusterhandwerk und diversen Spitzeleien nachging, war von seinen Eltern auf den Namen des Kaisers getauft worden, der seine letzte Ruhestätte in der Basilika ihrer Heimatstadt gefunden hatte. Der Name blieb allerdings das Edelste an diesem verwachsenen Menschen mit den Glubschaugen im übergroßen Kopf. Nachdem seine Eltern durch widrige Umstände ihre Gerberei verloren hatten und vor Gram frühzeitig gestorben waren, wurde der Junge in der engeren, zuletzt der entfernteren Verwandtschaft schnell weitergereicht. Mit der gleichen Geschwindigkeit wie er die Familien wechselte, wuchs in ihm das Misstrauen den Menschen gegenüber. Zuletzt versuchte er noch im benachbarten Kloster unterzukommen.

Als nach langen Vertröstungen seine Bitte abgeschlagen wurde, kehrte er Prüm hasserfüllt den Rücken. Einige Jahre trieb er sich im Gefolge der Söldnerscharen umher. Leder war ein Material, das ihm von Kindheit an vertraut war. Seine Hände gingen äußerst geschickt damit um und so machte er sich mit Lederarbeiten bei den Soldaten nützlich. Der langen Märsche wegen seiner kurz geratenen Beine doch irgendwann überdrüssig, richtete er sich 1625 mit Erlaubnis des Grafen als Schuster in den beiden gemieteten düsteren Räumen ein und fristete dort ein erbärmliches Dasein.

Seit dem Frühjahr 1629 bewahrte er einen Schatz, versteckt vor jedem fremden Auge unter seinem muffigen Strohlager. Der Gerolsteiner Amtmann war Ende März zu ihm gekommen mit einem Fernrohr, für das der Schuster ein passendes stabiles Lederfutteral nähen sollte. Als es fertig war, saß der Auftraggeber bereits im Gefängnis und war Monate darauf verurteilt und enthauptet worden. So war dem Schuster unversehens ein wichtiges Hilfsmittel für seine Beobachtungen in die Hand gekommen. Außer dem Fernrohr verbarg er noch etwas anderes vor der Neugierde seiner Mitmenschen, seinen brennendsten Wunsch. Dieser Wunsch hieß Anna, seit er sie zum ersten Mal, vor drei Jahren gesehen hatte. In einem grünen weiten Rock, einer hellen Bluse mit schwarzem, enganliegenden Mieder, so stand sie eines Morgens in seiner Werkstatt.

Ungläubig wegen dieser unerwarteten Schönen in seiner Werkstatt hob er den schweren Kopf, die Nasenlöcher dunkel vom Raspelstaub alter Schuhsohlen, die er seit Sonnenaufgang bearbeitet hatte. Lederstaub saß fest darin um die borstigen Haare, er trug den Ledergeruch darin überall mit sich herum. Als aber die damals knapp Fünfzehnjährige ihm die Sandalen zur Reparatur reichte, glaubte er Wiesenduft zu atmen, junges Gras, würzige Kräuter. Er stand vom Schemel auf, reckte seinen eingefallenen Brustkorb so hoch er konnte und versuchte ein Lächeln, das aber auf seinem darin völlig ungeübten Gesicht als verzerrtes Grinsen erschien. Ab da gehörten all seine Nächte nur einer: Anna.

In diesen Nächten träumte er sich hochgewachsen als Landsknecht in bunter Uniform, mit feinstem Lederwams und wehender Feder am Hut. So erwartete er Anna. Sie lief ihm lächelnd entgegen im wehenden grünen Rock. Bald stolzierte er mit ihr im Arm durch Gerolstein, saß mit ihr in der Torschenke, prostete ihr zu unter den neidischen und bewundernden Blicken der verstummten anderen Zecher. Er führte sie zum Tanz unter der Linde, sein Gesicht nah an ihrem blonden Wiesendufthaar, ihr süßer Atem streifte ihn, seine Hand lag auf ihrem weichen, runden Arm. Es gab aber auch Nächte, da ritt er den schwarzen Rappen des Henkers und neben ihm preschte Anna auf einem weißen Hengst. Wenn dann in der Morgensonne der Lederstaub seiner Werkstatt zu tanzen begann, war er wieder nur der bucklige Schuster auf modriger Bettstatt und sein Blick fiel auf das aus Leder geschnittene Herz an der rußgeschwärzten Wand, auf dem ein Mädchenprofil und darunter ein Name eingebrannt waren: Anna. Als das Mädchen ihm vor einer Woche den Ledergürtel zum Engermachen brachte und er an ihr Maß nehmen musste, hielt er sie plötzlich um ihre schmalste Stelle mit beiden Händen und stieß dabei einen Seufzer aus. „Was fällt dir ein?" sagte sie ärgerlich und fasste dabei mit jeweils zwei Fingern seine dünnen Handgelenke und schob seine Arme verächtlich beiseite. Da schlug es um in ihm. Von da an nahmen seine Träume eine andere, schreckliche Gestalt an.

Seit der Geburt des Schneidersohnes waren schleppend zwei Tage in fast unerträglicher Schwüle vergangen, als sich gegen Abend endlich aus westlicher Richtung dunkle Wolken eines erlösenden Gewitters ankündigten. Sturm kam auf. Er fuhr ohne Widerstand über die graukahlen Felsen der Munterley hinweg, zauste die alte Gerichtslinde, setzte den Galgen in Schwingungen, schüttelte das junge Maigrün der Bäume, rüttelte an den Fensterläden der Schneiderei, packte in die morschen Dachstühle des Städtchens und weckte durch herabfallende Schindeln den schlafenden Schuster aus seinen schrecklichen Racheträumen. Bald saß er dort auf seinem Schemel am Spähfenster und untersuchte mit dem Fernglas jeden Winkel. Er sah natürliche und erklärbare Dinge, die sich in seinem unförmigen Schädel zu Merkwürdigem zusammenbrauten. Er sah Anna aus dem Stall kommen. Sie ging mit vom Wind aufgeblähtem roten Kleid zur Mühlenruine, nahm zwei große Steine und legte sie vor den Klappladen, ehe sie wieder hineinging.

Der Nachtwächter hatte eben Mitternacht ausgerufen, als er den Schneider bemerkte, der heftig gegen die Stalltür klopfte. Die Frauen kamen heraus und liefen mit ihm durchs Tor und zur Gasse. Noch bevor die nächste Stunde ausgerufen wurde, waren sie wieder zurück. Kurz darauf erschien ein führerloses Eselgespann vor dem Stall. Gegen Morgen kam mit dem Regen Blitz, Donner und Hagelschlag. Als das Unwetter nachließ sah der Schuster den Raben auf dem First des Müllerstalls mit ausgebreitetem Schwingen sein Gefieder in der Sonne trocknen. Rundum in den Kyllgärten lagen die Sämlinge zerschlagen unter den abgerissenen Blüten der Obstbäume und von Fenster zu Fenster sprang erst langsam, dann immer rascher die Nachricht, in der Nacht sei die Schneiderin gestorben und sie habe ihren Säugling gleich mitgenommen, und dass die alte Wäscherin vom Marktplatz, als sie ihre Hühner füttern wollte, zwei mit durchbissenen Hälsen gefunden habe. Die Müllerin und ihre Tochter waren in der Nacht vom völlig aufgelösten Schneider ans Bett der sterbenden Frau gerufen worden. Doch nichts von Margarethes großem Wissen konnte ihr oder dem Kind helfen. Als der Schneider seiner jungen Frau die Augen zudrückte, wimmerte der Säugling ein letztes Mal auf. Margarethe versuchte den Mann zu trösten, doch schien er für Worte unerreichbar. Er hob seinen toten Sohn auf, presste ihn an sich und trug ihn, als sei er noch um einiges schwerer als Blei, unter unverständlichem Flüstern in der niedrigen Stube umher. Margarethe ging mit ihm umher und redete in beruhigendem Ton auf ihn ein. Endlich schien er sie zu hören, hielt an und legte weinend das Kind der Toten in den Arm. Erst als weitere Nachbarn zur Totenwache gerufen waren, wagten es die beiden Frauen den Trauernden zu verlassen.

Immer noch rüttelte der Sturm an den losen Schindeln als sie zu ihrer Behausung gingen. Margarethe sah die beiden Steine vor dem Klappladen liegen und Anna sagte, sie habe die dahingelegt, weil sie fürchtete, der Sturm würde sonst das Fenster ganz herausdrücken, so heftig war er zuvor durch die schadhaften Stellen des Stalldachs gefegt. Drinnen setzten sie sich erschöpft auf den Rand des Schweinetrogs und falteten die Hände, immer noch das Geschehen im Hause des Schneiders vor Augen. Mitten im Gebet schreckte sie das Geknirsche eiserner Wagenräder hoch, die plötzlich vor dem Stall zum Stillstand kamen. Furcht erfasste die Frauen. Was kam jetzt auf sie zu? Führe es doch weiter, das unselige Gefährt! Doch es bewegte sich nicht von der Stelle. Margarethe wartete bis ihr Herz ruhiger schlug, dann griff sie die Mistgabel und öffnete die Stalltür vorsichtig einen winzigen Spalt, riss die Tür dann weit auf als sie das Gefährt erkannte: Ihre alte Eselin, ausgemergelt stand sie mit leerem Karren vor ihr. Da umarmten die Frauen die Heimkehrerin, die gierig ihren gesamten Wasservorrat soff, bevor sie mit ihnen in den Stall hineinging. Mutter und Tochter fanden vor lauter Aufregung in dieser Nacht keinen Schlaf mehr.

Auch der Schuster hatte kein Auge zugetan. Am Morgen tat er Außergewöhnliches: Er wusch sich gründlich Gesicht und Hände, zog seine besten Kleider an, setzte den hohen Hut auf, nahm den Stock und ging schwerfälligen Ganges bergan zum Treppengiebelhaus des Schöffen. Er blieb bis Mittag. Seine Aussagen wurden vom Gerichtsschreiber genauestens protokolliert. Sein Geschlurfe auf dem Heimweg war begleitet von Münzgeklimper. So entstand ein festes Netz aus Hass und Neid, verwoben mit dem giftigen Gespinst aus Gewinnsucht, Aberglaube und Machtgier. In diesem Netz bewegte sich Anna - ohne es zu ahnen.

Wenige Tage später wurde sie wegen Zauberei angeklagt und sofort in polizeilichen Gewahrsam genommen. Eine lange Liste von Beschuldigungen wurde erhoben. Ungläubig hörte Anna, sie habe, von ihrer Mutter eingeweiht in Zaubersprüche und die Herstellung von Zaubersalbe, die Schneiderin und ihr Kind getötet, das Unwetter heraufbeschworen um die Saat zu vernichten. Sie habe die Hühner der Wäscherin getötet und ihre Eselin durch Steinlegen herbeigezaubert. Margarethe war zunächst vor Entsetzen wie gelähmt, um dann schließlich doch klare Gedanken zu fassen. Sie plante alles zu tun, um ihrer Tochter zu helfen. Ihren fruchtbaren Garten an der Kyll und die zwei Wiesen am Heiligenstein wollte sie verkaufen. Doch war der erzielte Erlös weit geringer als sie erhoffte. Der Käufer, jener reiche Gastwirt am Sauerbrunnen, der seit Jahren den Müller immer wieder drängte, ihm diese Grundstücke zu verkaufen, sagte ihr, jetzt sei die Zeit unvorteilhaft zum Verkauf, zuviel Land würde angeboten. Sie hätte ihre Chance ja verpasst, damals hätte sie sein gutes Angebot annehmen sollen. Fast im gleichen Wortlaut gesprochen wie Margarethe es befürchtet hatte. Die gezahlte Summe hätte nicht einmal für einen Rechtsbeistand für Anna gereicht. Doch Margarethe wusste vom letzten Prozess, das Gerolsteiner Hochgericht ließ solche und höhere Instanzen sowieso nicht zu. Inhaftierung und Prozess würden all ihr Geld verschlingen und eine Hinrichtung ... Nein, an eine Hinrichtung ihrer Tochter konnte und wollte Margarethe nicht denken. Sie setzte all ihre Hoffnung auf die Bittschrift an Graf Karl, die ein Schreiber für einen Gulden für sie aufsetzte. Nichts ließ sie unversucht, ihrer Tochter den Aufenthalt im Gefängnis zu erleichtern und um sie vor Folter und Tod zu retten. Einer ihrer Mithäftlinge war der Schneider, der der Mittäterschaft beschuldigt wurde. Er floh in einem günstigen Moment mit Hilfe eines Freundes, der bei der Wachmannschaft diente. Er kam bis ins sichere Köln. Als Margarethe davon erfuhr, hoffte sie, auch ihrer Tochter könne die Flucht gelingen. Doch Lage und Beschaffenheit der Zelle, in der Frauen eingekerkert wurden, ließ nur Ratten, nicht aber einen Menschen entweichen. Dann kursierte das Gerücht, der Graf habe einen Haftbefehl gegen den flüchtigen Schneider erlassen, dem der Kölner Rat Folge leisten müsse. Ein beträchtliches Kopfgeld, munkelte man, sei ausgesetzt worden. Der Geflohene wurde schnell gefasst und im Kunibertsturm gefangen gesetzt. In Anbetracht dessen, was ihn in der Heimat erwartete, erhängte er sich Stunden vor seiner Auslieferung mit seinem Gürtel. Als Margarethe dies erfuhr, schwand ihr letzter Rest an Hoffnung. Die Arbeit des Henkers, die entgegen der Vorschrift, hin und wieder doch wegen ihres ständigen Drängens von den zwei ältesten Grafensöhnen unterstützt wurde, hatte inzwischen aus der schönen jungen Anna ein menschliches Wrack gemacht mit ausgerenkten Gelenken und versengten Armbeugen mit nur einer Hoffnung, nämlich der auf einen baldigen Tod.

Alles was das Gericht für den Urteilsspruch hören wollte - sogar die Verleumdung ihrer eigenen Mutter als Hexe - war aus Anna herausgefoltert worden. Ihr vehementer Widerruf brachte ihr nur erneute Folterungen ein. Mitte Juli war es dann soweit. Annas Hinrichtung sollte gegen drei Uhr sein. Margarethe führte vorher die Eselin aus dem Stall und schenkte sie einem armen Teufel, dem Schuster. Der stand vor seiner Haustür und betrachtete mit wortlosem Kopfschütteln mal das Tier, mal Margarethe, die sich aber rasch umdrehte und zum Richtplatz eilte. Der Schuster gab dem Esel einen Schlag, dass dieser allein die Straße hinab lief. Der Bucklige ging mit zügigen Schritten in seine Werkstatt, nahm das Lederstück mit der Form eines Herzens von der Wand und schnitt mit einem Messer einen festen Riemen daraus, damit stieg er auf den Schemel. Er wartete auf den dritten Schlag der Turmuhr, dann erhängte er sich an dem Fenster, von dem aus er Anna beobachtet hatte.

Ehe Margarethe den leeren Stall verriegelte, legte sie das Geld aus dem Landverkauf, dem nur der Gulden für die Bittschrift fehlte, auf die Rechnung des Gerichts, die auf dem Melkschemel lag. Alleine die Mahlzeiten, Aufwartungen und der von Gericht und Priester genossene Wein überstiegen den Erlös aus dem Verkauf des Kyllgartens. Es reichte nicht mehr für die Kosten der Strangulation mit der dazu benötigten Eisenkette und die Reisigbündel für die Hütte. die allein schon 15 Gulden kostete. Die würde sie schuldig bleiben müssen. Viel Volk - begleitet von fliegenden Händlern - war dem Henkerskarren zum Hochgericht hinauf gefolgt. Für Margarethe waren sie nur eine graue sich bewegende Masse. Ihre weiße Haube zog sie tiefer ins Gesicht um niemanden anzusehen. Ihr einziger Wunsch war es, sich so weit nach vorne durchzudrängen, um so nah wie möglich bei Anna zu sein. Es gelang ihr einen allerletzten Blick mit ihrem Kind zu tauschen, als der Henker neben die an den Pfahl Gebundene in der Reisighütte trat. Als er einen Moment später herauskam, hing Annas Kopf weit nach hinten gesunken und doch stand sie immer noch, festgehalten durch Seile, aufrecht in ihrem roten Kleid. Der Gehilfe schloss mit trockenen Holzbündeln den Eingang der Hütte. Die Menge johlte, dicht neben Margarethe gelten Verwünschungen auf als erste Flammen hoch züngelten.

Da nahm Margarethe, an die alte Esche gelehnt, aus den Falten ihres weiten Rockes das Glasfläschchen. Sie seufzte, blickte noch einmal rundum, nahm die markanten Konturen ihrer Heimat bewusst wahr: Auberg, Munterley und Uhusley, und darüber mit Blicken, denen sie all ihrer Seele Kraft verlieh, versuchte sie den Himmel zu durchdringen. Da hörte sie das Flügelrauschen über ihr, das die Bänder ihrer Haube in Bewegung brachte. Der Rabe hatte sich mit mächtigem Flügelschlag von der Esche erhoben und durchteilte schwarz das sommerliche Blau auf seinem Flug zum Heiligenstein.

Mit zitternder Hand entfernte Margarethe den Stöpsel und leerte den gallebitteren Inhalt bis auf den Grund.