2018 after Ground Zero

Manuela Wirtz, Schüller

Im Jahr 2018 n. Chr. kam es in Deutschland zum Ausbruch eines Supervulkans. Tausende Kubikkilometer Lava wurden mit Überschallgeschwindigkeit aus der Magmakammer unter dem Laacher See in die Stratosphäre geschleudert und „regneten" als Staub und Partikel auf die Erde nieder. Der gesamte Westen Deutschlands und angrenzende Nachbarstaaten wurden unter einer meterdicken Schicht aus Lava und Asche begraben. Wie im Pompeji der Antike wurde alles unter der undurchdringlichen grauen Masse konserviert.

Im Umkreis von 150 Kilometer wurde jegliches Leben sofort vernichtet, weiter entfernt erlitten Menschen und Tiere den Tod nur wenige Zeit später. Überall brachen die Wasser und Stromversorgung zusammen. Computer und Internet funktionierten nicht mehr. Nach 48 Stunden hatte sich der vulkanische Staub um den ganzen Erdball verteilt. Der globale Personen- und Warenverkehr kam zum Erliegen. Innerhalb von wenigen Tagen war die Weltbevölkerung auf den technischen Stand des Mittelalters zurückgeworfen. Und kein Mensch war darauf vorbereitet.

Der Supervulkanausbruch löste in der Folge eine weltweite Klimakatastrophe aus, von der die nördliche, hoch technisierte Erdhalbkugel am schlimmsten betroffen wurde. Das Sonnenlicht wich einem trüben Halbdunkel. Die Temperaturen sanken um mehrere Grad, es folgte eine neue Eiszeit. Durch das massenhafte Absterben von Pflanzen und Tieren kam es zu einer verheerenden Nahrungsknappheit. Innerhalb von 18 Monaten schrumpfte die Erdbevölkerung durch Verhungern, Seuchen und brutale Verteilungskriege von ursprünglich 7,48 Mrd. auf unter 150 Mio. Menschen. Die Länder nördlich des Äquators verkamen zu einer menschenleeren Eiswüste.

Es dauerte Jahre, bis sich die Vulkanteilchen in der Stratosphäre auflösten und die ersten Sonnenstrahlen ungefiltert auf die Erde fielen. Neues Wachstum konnte entstehen. Die Restbevölkerung hatte sich auf drei Kontinenten der Südhalbkugel zurückgezogen und schuf neue Reiche: Gauchotierra, das in der Frühzeit Argentinien hieß, die Gebiete Afrikas unterhalb des antiken Kongo und Downunder sowie die Nachbarinsel Auenland.

Crocker Dundy aus Wallaby Creek in Downunder hatte bis zu seinem 40. Lebensjahr noch keine bemerkenswerten Leistungen vollbracht. Der Bergbauingenieur arbeitete für eine Minengesellschaft. Sein Leben war so anthrazitfarben, wie die Erze, die er aus der Erde förderte. Nur sein Hobby als Amateurarchäologe brachte ihm Freude und ein paar Freunde ein. Besonders interessierte er sich für Artefakte aus der Zeit vor dem großen Bumm: Ground Zero, die Stunde Null vor über 2000 Jahren.

Deshalb bewarb er sich auch um einen Platz bei dem Explorationsunternehmen, das in dem Landstrich in Mitteleuropa, der in den frühzeitlichen Landkarten Eifel genannt wurde, Bohrungen für Bodenschätze unternehmen wollte.

Im Jahr 2018 anno Ground Zero (der neuen Zeitrechnung) stand Crocker Dundy auf einer ausgehärteten Silikatschmelze. Er war dabei, die Messlatte für eine Landvermessung in den harten Lavaboden zu schlagen. Plötzlich bildeten sich Risse und der Boden unter seinen Füßen brach ein. Dundy stürzte metertief hinab und schlug mit dem Kopf hart auf. Als er aus seiner Ohnmacht erwachte, sah er, dass er sich auf dem Grund eines alten Schachtes befand. Er betastete vorsichtig die schmerzhafte Beule an seinem Schädel und fühlte Blut an seinen Fingern. Dann blickte er sich um.

Ein Lichtstrahl fiel durch die Schachtöffnung auf ein paar Stufen, die zu einer zerbrochenen Haustüre führten. Die Türe hing schief in den Angeln und die Glasscheiben waren zersplittert. Über dem Rundbogen der Türe waren ein paar Zeichen an der Hauswand:

D s Kr min lh s.

Dundy konnte die archaischen Zeichen nicht entziffern. Aber er erkannte sofort, dass es sich hier möglicherweise um einen unent deckten Ort handelte: eine archäologische Sensation! Er dachte an seine Chance, mit einem Schlag berühmt zu werden und erschauert ehrfürchtig. Seine Kopfschmerzen waren schlagartig vergessen. Er erhob sich und ging vorsichtig die Stufen hinauf. Vor ihm öffnete sich ein Raum, den 2018 Jahre lang kein Mensch mehr betreten hatte. Die Lavakruste hatte den Ort wie unter einer Haube konserviert. Er blieb am ganzen Körper vor Aufregung bebend im Eingang stehen und nahm das Bild vor sich auf: der dunkle Raum war mit Holzmöbeln - Tische und Stühle - voll gestellt. Dundy nahm eine Handleuchte von seinem Gürtel, schaltete sie ein und erschrak.

Im hellen Lichtkegel sah er ein paar menschliche Skelette auf Stühlen und Bänken sitzen. Ihre Köpfe und Oberkörper waren auf die Tischplatten vor ihnen gesunken. Durch die Reste der Kleidung sah man bleiche Knochen. Auf den Tischen standen Tassen und Teller mit versteinerten Resten. Es sah aus, als wenn sie bei ihrer Mahlzeit eingeschlafen und nie wieder aufgewacht wären. Langsam ließ sein heftiger Herzschlag nach und er beruhigte sich wieder. Er trat ein paar Schritte in den Raum. Im wandernden Lichtschein sah er unzählige Bilder an den Wänden, ihre Farben wirkten noch so frisch wie vor über 2000 Jahren. Auf Regalbrettern standen eine Menge Kannen, Vasen und braune Glasflaschen mit seltsamen Aufschriften: Tinct. Strophanthin, Arsenic, Strychnin und anderes. Dundy wusste nicht, was die Zeichen bedeuten sollten. Aber das Totenkopfzeichen darunter erkannte er sofort. Das gab es auch heute noch und besagte

nichts Gutes. Misstrauisch schaute er sich weiter um. Jetzt sah er auch, dass die Tischplatten Glasscheiben in ihrer Mitte hatten und darunter jeweils ein Schaukasten mit verschiedenen Artefakten dekoriert war. Sein Herz klopfte, als er unter dem Sammelsurium auch Schießwaffen und Messer entdeckte. Erschrocken fragt er sich, was das für ein merkwürdiges Gebäude war. Waffen gab es heutzutage nur noch selten. Aber man kannte sie aus frühzeitlichen Filmen, die in Museen vorgeführt wurden. Zu den Beliebtesten gehörte ein gewisser James Bond. Heute gingen Eltern mit ihren Kindern ins Museum und zeigten ihnen die Überbleibsel einer untergegangenen menschlichen Kultur, die voller Gewalt und Kriege war.

Crocker Dundy schluckte mühsam; durch die staubtrockene Luft klebte seine Zunge am Gaumen. Er überlegte, was er als nächstes tun sollte. Diese Entdeckung war die Sensation des Jahrhunderts; eine Chance, die er sich nicht entgehen lassen durfte, sein Name würde damit in die Annalen eingehen. Aber alleine konnte er die Aufgabe, die Fundstelle freizulegen, nicht bewältigen. Er brauchte Hilfe. Zunächst gab es aber ein praktisches Problem zu lösen: wie kam er aus dem verdammten Schacht wieder hinauf auf die Erde? Er zog seinen Kommunikator aus der Hosentasche und sendete ein Notsignal in die Höhe.

Nach seiner Befreiung aus dem Loch kündigte Crocker Dundy sofort seinen Job. Er meldete den Fund dem Zentralrat der vier Reiche, der in Südafrika am Cape Hip-Hop seinen Sitz hatte und gerne bereit war, die Ausgrabungen zu finanzieren. Vier Wochen später begannen mit einer Vielzahl von Freunden und Hobbyarchäologen die Ausgrabungsarbeiten am Gebäudekomplex in Dundy Creek, wie Crocker seine Entdeckung fortan nannte. Seine Gefährtin Mathilda Waltz fertigte unzählige Skizzen und Zeichnungen von den Räumen und Funden an und katalogisierte sorgfältig die Artefakte. Die nächsten zehn Jahre verbrachten Crocker und Mathilda mit ihren Helfern damit, den Ort freizulegen.

Dabei stellten sie fest, dass ein Großteil der ausgegrabenen Häuser zusammengefallen war und nur noch die Grundmauern standen. Nur im Ortskern waren zwei Gebäude weitgehend erhalten geblieben und durch die Lavakruste zweitausendachtzehn Jahre lang vor Witterung und Erosion geschützt. Das war eine Schatzgrube und weltweit berichteten Reporter von immer neuen aufregenden Funden. Crocker Dundy platzte fast vor Stolz. Regelmäßig kamen Wissenschaftler nach Dundy Creek und forschten an der Aufklärung der seltsamen Funde.

Bald hatten sie herausgefunden, dass der Raum, den Dundy zuerst entdeckt hatte, so etwas wie ein Gemeinschaftssaal war, in dem man auch essen und trinken konnte. Die Schaukästen in den Tischen mit den Artefakten gaben den Altertumsforschern lange ein Rätsel auf. Schließlich entschieden sie, dass es sich bei diesem Ort um eine Kultstätte handeln musste, bei dem vor allem berühmte Verbrecher ausgestellt wurden. Die Menschen trafen sich hier, um den Kultobjekten zu huldigen und ihnen Speiseopfer darzubringen. Das schien jedenfalls die einzig logische Schlussfolgerung zu sein bei der gewalttätigen Vergangenheit der untergegangenen Zivilisation in der Eifel. Die James Bond-Filme hatten ja schließlich gezeigt, dass Banditen eine hohe Aufmerksamkeit genossen.

Auch die weiteren Räume dieses Hauses ließen die Gelehrten ehrfürchtig staunen. Nebenan war ein Saal, in dem viele Regale mit Büchern standen. Aber der größte, geradezu sensationelle Fund wurde im Dachgeschoss gemacht. Fast alle, die den hohen Raum zum ersten Mal betraten, blieb der Mund vor Staunen offen stehen. Bis in die Dachspitze hinauf standen Regale mit einer unendlichen Anzahl von Büchern.

Das Papier der Bücher bröselte leicht, wenn man sie anfasste. Nur mit äußerster Vorsicht durften die verrotteten Bücher behandelt werden. Stück für Stück wurden sie im aufgebauten Labor untersucht und konserviert. Die Experten für altertümliche Sprache identifizierten die geretteten Texte als vollstän

dige Berichte von begangenen Verbrechen, wie Mord, Raub, Entführung, Terror und viel mehr. Der Fund war ein vollständiges Kriminalarchiv. Mathilda Waltz zählte die Sammlung auf über 33.000 Fälle. Jetzt wurde auch die Bedeutung des Hauses immer klarer. Die Bücherregale im Erdgeschoss stellten anscheinend die neuen Straftaten aus, hier unter dem Dach waren die abgeschlossenen und vergangenen Verbrechen untergebracht. In den Büroräumen im Zwischengeschoss mit der Aufschrift „KBV" wurden anscheinend die aktuellen, noch nicht abgeschlossenen Fälle bearbeitet. Hier fand man auch das Skelett des mutmaßlichen Amtsleiters, der in Ausübung seiner Pflicht am Schreibtisch gestorben war.

Ein ähnlich rätselhaftes Haus wurde ein paar Meter weiter entdeckt und in monatelanger harter Arbeit freigelegt. Es war ein großer Bau mit einer ockergelben Fassade, auf der verrostete Zeichen zu erkennen waren:

DA K IMI OT L

Die massive Holztüre klemmte und versperrte den Zugang zum Haus. Crocker Dundy bewies aber eine gewisse Geschicklichkeit und hebelte die verklemmte Türe vorsichtig auf. Das Quietschen der uralten Scharniere hallte wie ein Schrei in die gespannte Stille hinein. Er schob die Türe ganz auf und erstarrte vor Staunen. Er sah wundersame Dinge. Vorsichtig betrat Dundy mit seiner Gefährtin und zwei Wissenschaftlern den dämmrigen Flur. Köpfe und Geweihe von längst ausgestorbenen Tieren hingen an den Wänden. Ein auffällig roter Raum mit schweren, aber bequem aussehenden Polstermöbeln lockte ihre Aufmerksamkeit an. Das dunkelrote Leder der Sitze war durch die Zeit steinhart und brüchig geworden. Auf einer breiten Couch saßen zwei Skelette mit zueinander geneigten Schädeln.

Überall waren Dekorationen von Spritzen, Handfesseln aus Metall, eine Pistole und schwarze Metallvögel aufgestellt. Die Gruppe drehte sich zum Kamin um und sah sich drei übergroßen Portraits an der Wand gegen

über. Die Gemälde zeigten eine Frau in der Mitte und seitlich zwei Männer, von denen einer ein merkwürdiges schwarzes Ding in der Hand hielt. Ein solches Artefakt hatten sie auch schon in einem der Schaukästen in dem Kultraum von Haus 1 gesehen.

Die vier gingen weiter durch das Haus. Eine halbe Treppe höher gab es einen großen Speisesaal mit gedeckten Tischen. Weitere Gesichter blickten aus Gemälden von den Wänden herab. Die größte Überraschung erlebten sie aber im ersten Obergeschoss. Von einem langen Flur gingen mehrere Zellen mit je einem Schlafraum und Badezimmer ab. Jede Zelle hatte eine andere Einrichtung. Gleich im ersten Raum hing der Kopf eines ausgestorbenen Borstentieres mit Hut an der Wand. In einer Vitrine waren ein paar der seltsamen Dinge zu sehen, die sie schon zuvor entdeckt hatten und nicht zuordnen konnten. Eine Erklärung schien ein Zettel zu geben, der daneben war. Der Experte für altertümliche Sprache übersetzte, dass es sich hierbei um die „Pfeifen" eines gewissen Jacques Berndorf handele. Über dem Bett war das Gemälde einer weißhaarigen Frau mit einer grünen Flasche, auf der ein Totenkopf abgebildet war, zu sehen. Crocker und Mathilda sahen sich an und fragten sich, ob sie unter einem so gruseligen Bild ruhig schlafen könnten. In einem anderen Zimmer hing ein Bild über dem Bett, das eine alte Frau zeigte, die einen Knüppel in der Hand hielt und anscheinend auf jemanden wartet, den sie damit erschlagen konnte.

Das Rätsel um die ominösen „Pfeifen" wurde gelöst, als die Gruppe ein Zimmer erreichte, das das Profil eines Mannes mit einer Kappe auf dem Kopf zeigte, der ein solches Ding in seinem Mund gesteckt hielt. Was der Sinn dieser Handlung war, entzog sich aber allen Anwesenden.

Die Gruppe ging weiter von Zelle zu Zelle. In manchen fanden sie Skelette in ihren Betten oder auf dem Badezimmerboden liegen. Je mehr Zellen sie öffneten, umso rätselhafter erschien ihnen der Zweck des Hauses. Sie entdeckten Messer, große Waffen, Batterien von Glasflaschen mit Totenköpfen oder eine

nachgemachte Stoffschlange. Am meisten erstaunte sie ein Paar Schuhe, das in Zement eingegossen war.

Mathilda Waltz hatte plötzlich die Idee, dass es einen Zusammenhang zwischen Haus 1 und Haus 2 geben musste. So viele Artefakte - zum Beispiel die „Pfeifen", oder die Waffen und Bücher, die in jedem Zimmer waren -wiesen eindeutig auf eine Verbindung hin. Auch ein paar Bilder kannten sie schon aus dem Kultraum und dem großen Archiv. Man musste doch vom Känguru gepudert sein, um das Offensichtliche nicht zu erkennen, warf sie den Wissenschaftlern vor. Indigniert mussten die Forscher zugeben, dass ihre Schlussfolgerung nicht von der Hand zu weisen war. Ein Zusammenhang war da, und wenn Haus 1 ein Archiv für Kriminalfälle war, dann musste Nr. 2 logischerweise so etwas wie ein Hafthaus für Verbrecher sein! In den gesamten 24 Zellen waren Gangster untergebracht. Jede Zelle war mit Beweismitteln ausgestattet, die die Insassen für ihre Taten benutzt hatten.

Nach sorgfältigen Untersuchungen und endlosen Disputen kamen die Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass es sich bei Dundy Creek um eine antike Verbrecherkolonie handeln musste. Die ständige Auseinandersetzung mit ihren Delikten durch die Einrichtung ihrer privaten Zellen sollte die Bußfertigkeit und das schlechte Gewissen fördern. Die Resozialisierung wäre dann abgeschlossen, wenn die Verbrecher ihre Schuld anerkannten und vor der Gesellschaft Besserung gelobten. In ihrem Bericht an den Zentralrat der vier Reiche lobten sie das - für frühzeitliche Verhältnisse - moderne Strafvollzugsmodell, bei dem die Verurteilten integrativ in einer Stadt lebten und am sozialen Leben teilnahmen. Damit war das große Rätsel gelöst, warum eine Stadt in der Eifel sich ausschließlich dem Verbrechen gewidmet hatte.