Rückblick nach vorn -Die Welt hat sich verändert

Alois Krämer, Bodenbach

Früher war alles besser, sagen die Leute. Früher wurden die alten Leute noch zu Hause gepflegt. Da lebte die Großfamilie in einem Haus und mit ihnen die Alten, bis sie starben.

Ich erinnere mich:

Da gab es die alte Oma auf unserem Hof, die ist 1956 gestorben. Da war ich dreizehn Jahre alt. Meine erste Erinnerung an sie stammt wohl noch aus dem Krieg, da war ich zwei oder drei Jahre. Die Oma hatte ein braunes, bodenlanges Kleid an und darüber eine blaue Schürze mit braunen Streifen. Zeit ihres Lebens hat die Oma lange Kleider getragen, ich habe sie nie anders gesehen. Ich saß auf ihrem Schoß und man sprach von den Amerikanern, wann die kommen würden. Da glitt ich von ihrem Schoß auf den Boden und wollte unter ihr Kleid kriechen, weil ich mich dort vor dem Feind verstecken wollte. Aber meine Mutter zog mich zurück und ich brüllte, weil ich meinen Willen nicht bekam.

Als ich neun Jahre alt war, habe ich meine Oma, in der Küche auf dem Boden liegend, bewusstlos aufgefunden. Ich wusste nicht, was los war mit ihr, und niemand war zu Hause, weil alle im Heu waren. Aber irgendjemand muss dann doch gekommen sein. Seit der Zeit war die Oma bettlägerig, sie hatte einen Schlaganfall bekommen. Sie schlief im gleichen Zimmer wie meine unverheiratete Jött und wurde von ihr gepflegt. Aber meistens war sie allein, weil die Tante so viel zu tun hatte. Die Stallarbeit frühmorgens, mittags und abends, dreimal am Tag Melken und zwar mit der Hand. Feldarbeit, große und kleine Wäsche, Brotbacken, Gartenarbeit und vieles andere mehr. Da blieb nur noch wenig Zeit für die Mutter. Morgens vielleicht eine

halbe Stunde für die Pflege und mittags und abends fürs Essen. Einmal, das weiß ich noch ganz genau, da ging es der Oma schon sehr schlecht, da musste ich einen ganzen Nachmittag bei ihr sitzen, weil die anderen wegen eines drohenden Gewitters ins Heu oder zur Getreideernte gingen. Du musst auf die Oma aufpassen, hieß es da, und wenn was ist, rufst du uns. Man nannte mir noch die Bezeichnung des Flurstücks, wo man arbeitete, denn die Wiesen und Felder haben Flurnamen. Aber die kannte ich sowieso auswendig. Und dann saß ich bei ihr. Sie konnte nicht mehr sprechen, sich nicht aufsetzen und aufstehen schon gar nicht. Ich langweilte mich den ganzen Nachmittag bei ihr. Und es stank auch ganz abscheulich im Zimmer. Es gruselte mich auch ein wenig, weil ich nicht wusste, was das bedeutete, „wenn was ist". Im nächsten Jahr war die Oma schon tot. Im Nachhinein glaube ich nicht, dass die Oma gern allein im Bett gelegen hat, und niemand war bei ihr außer einem Enkelkind, mit dem man sich nicht unterhalten konnte. Das war häusliche Pflege im Jahr 1956.

Ungefähr siebenunddreißig Jahre später lag meine eigene Mutter mit der gleichen Krankheit danieder und wurde bis zu ihrem Tod zwei Jahre lang von meiner Frau gepflegt. Es gab schon viele Hilfsmittel, mit denen man sich die körperliche Pflege der Kranken erleichtern konnte. Lagerungshilfen, Duschhilfen, Rollstuhl, Patientenlifter und so weiter. Die Mutter war auch voll in die Familie integriert, täglich wurde sie aus dem Bett geholt und nahm im Rollstuhl sitzend am Familienleben teil. Ob sie noch viel Freude am Leben hatte, weiß ich nicht. Sie konnte ja nicht mehr sprechen. Ihr eigenes Haus hat sie nie wiedergesehen. Meine

Geschwister waren froh und dankbar, dass sie gut versorgt war. Und bestimmt auch darüber, dass sie es nicht selbst zu machen brauchten. Das war häusliche Pflege im Jahr 1993.

Aber es waren Begebenheiten, bei denen die Patientinnen keine Wahl hatten. Die Krankheit überfiel sie von einer Sekunde auf die andere. Sie konnten nicht wählen, wie und wo sie ihren Lebensabend verbringen wollten. Und daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Kreislaufkrankheiten sind die Todesursache Nr. 1 in Deutschland.

Heute schreiben wir das Jahr 2018. Dreiundzwanzig Jahre später. Es gibt bestimmt immer noch viele Menschen, die zu Hause gepflegt werden. Ganz sicher gibt es bessere Hilfsmittel wie damals im Jahre 1993. Ich kannte und kenne Familien, in denen die alten Leute zu Hause gepflegt werden, mehr oder weniger, je nachdem, wie es in den Familien möglich ist. Aber es ist immer noch problematisch.

In einer Familie verzweifelt die Tochter fast an ihrer sturen Mutter, die sie heute noch piesackt, weil sie auch mit achtzig immer noch recht haben will. In einer anderen Familie haben die Kinder kein eigenes Leben mehr, weil ihre gesamte Freizeit für die Pflege der alten Eltern draufgeht. In einer weiteren Familie hat man die Betreuung auf die Pflegedienste abgewälzt, die morgens und abends auf eine halbe Stunde vorbeikommen, und am Tag bleiben die Senioren sich selbst überlassen. Ab und zu schauen die Kinder mal vorbei. Es ist natürlich auch ein emotionales Problem (Kann ich die Mutter pflegen?) oder auch eine finanzielle Frage (Kann ich meinen Beruf aufgeben?). Und manchmal pflegt auch die Ehefrau ihren Mann oder der Ehemann die Frau. Da gibt es auch Beispiele genug.

In einem Ort bei uns in der Gegend passt Maria auf ihren dementen Mann auf, der zum Glück meistens schläft, weil er die Touren mit dem Weglaufen schon hinter sich hat. Aber sie traut sich kaum noch aus dem Haus, weil sie ja nicht weiß, ob er nicht doch wach wird und dann etwas Dummes anstellt. Mitnehmen

kann sie ihn nicht mehr, weil er kaum noch laufen kann. Sie ist selbst nur noch ein Wrack, aber sie will durchhalten und ihren Mann pflegen bis zum bitteren Ende. Und das kann noch lange dauern. Manchmal schaut sie sich die Alben mit den Urlaubsfotos an. Manchmal weint sie. Lachen habe ich sie seit langem nicht mehr gesehen.

Und da gibt es noch Hilde. Die wohnt aber nicht bei uns im Ort, sondern weiter weg. Und das ist eine abgeschlossene Geschichte für sich, die im letzten Jahr an Weihnachten ihren traurigen Abschluss gefunden hat.

Hilde besuchte zweimal in der Woche ihren Mann Klaus in dem Heim für Demenzkranke, wo er über zwei Jahre weilte. Sie ist einundachtzig Jahre alt, übergewichtig, herzkrank und schon lange nicht mehr gut zu Fuß. Schwerfällig bewegte sie sich auf die Tür des Heimes zu, während Gerda, ihre Schwester, ihr Auto wendete und in die Stadt zurückfuhr. „Ich hole dich in zwei Stunden wieder ab", hatte sie ihr noch kurz hinterher gerufen. Sie ertrug es nicht mehr, den Schwager in diesem schrecklichen Stadium des geistigen und körperlichen Verfalls zu sehen. Über fünf Jahre lang hat sie ihrer Schwester bei der Betreuung des Dementen zur Seite gestanden, bis es einfach nicht mehr möglich war, ihn zu Hause zu behalten und zu pflegen. Die Stunden, die Gerda mit dem immer vergesslicher werdenden Klaus beim Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel verbracht hat, hätte sie gar nicht zählen können. Das war das einzige Spiel gewesen, das er noch beherrscht hatte. Selbst als eine flüssige Unterhaltung schon lange nicht mehr möglich war, hatte er die Augen auf dem Würfel noch zählen können. Während des Spiels hatte Hilde ein wenig Zeit für sich, zum Lesen oder Handarbeiten, und nicht ständig auf ihren Mann achten müssen. Immer unvorhersehbarer waren seine Aktivitäten geworden. Durch seine innere Unruhe war er zuletzt kaum noch in der Lage gewesen, fünf Minuten ruhig in seinem Sessel zu sitzen, in dem er früher gern die Zeitung gelesen oder ferngesehen hatte. Besonders nachts war es immer schlimmer geworden. Hatte Hilde ihn

ins Bett gebracht und ihm die vom Arzt verschriebenen Tabletten gegeben, dauerte es meist nur ein paar Minuten, bis er sich wieder erhob, um ruhelos durch die Wohnung zu streifen. Er öffnete die Türen, machte Licht, löschte es wieder, schloss die Türen, um sie nach ein paar Minuten wieder zu öffnen und zu schließen. Auch die Küchentür hatte Hilde schließlich abends abschließen müssen, damit er nicht den Kühlschrank ausräumte und unkontrolliert alles aufaß, was sich darin befand. Sein Drang nach draußen war ungebrochen, doch die Haustür hatte Hilde stets schon früh abgeschlossen und den Schlüssel fortgelegt. Zu oft war er ihr entwischt und ziellos in der Gegend herumgelaufen. Ein paar Mal hatte sie ihn von der Polizeistation abholen müssen. Dann bekam er ein Band mit Namen, Anschrift und Telefonnummer ans Handgelenk. An einem Donnerstag, an dem er Hilde wütend angriff, beschimpfte und zuletzt sogar ins Gesicht schlug, musste sie erkennen, dass sie ihn nicht mehr zu Hause versorgen konnte. Weinend gestand sie ihren Kindern, dass sie Hilfe brauchte. Dann war Klaus ins Heim gekommen. Rapide hatte sich sein Zustand weiter verschlechtert. Hatte er sich anfangs noch trippelnd fortbewegen können und allein gegessen, lag er zum Schluss fest im Bett, wurde wie ein Kind gewickelt und gefüttert. Seine Sprache hatte er fast vollständig verloren. Irgendwann hatte sich Gerda geweigert, sein Zimmer zu betreten. „Ich kann das Elend nicht mehr sehen", war ihr einziger Kommentar. Hilde tat ihr leid, aber sie konnte nicht mehr. Im Dezember hatte er verlernt zu schlucken. Eine künstliche Ernährung hatte er abgelehnt, als er seine Diagnose bekam und daraufhin seine Patientenverfügung aktualisierte. Der Arzt erklärte, dass der Wille des Patienten bindend sei, es sogar als Körperverletzung strafrechtlich verfolgt werden könne, wenn man ihn gegen seinen Willen künstlich ernähre. Er wurde gut versorgt und starb Heiligabend im Beisein seiner Frau Hilde. Seitdem geht es ihr besser, sie ist förmlich aufgelebt. Gerda kümmert sich jetzt liebevoll um sie.

Dann gibt es die wirklich ganz tollen Seniorenheime, wo die Menschen gut unterge

bracht sind und gepflegt werden. Programme zur Unterhaltung werden geboten, da wird gesungen, gelesen, gemalt und gebastelt. Da trifft man sich beim Kaffee oder besucht sich gegenseitig. Alles ganz prima, solange die Bewohner noch mobil sind. Wendet sich das Blatt, dann liegen die Kranken in ihrem Einzelzimmer (weil die ja heute Vorschrift sind), in einem drei mal vier Meter kleinen Raum in einem Pflegebett und starren die Wände an, an denen ein paar Möbelstücke stehen, die in jedem Zimmer gleich sind. Ich habe es gesehen bei einer Bekannten, die bettlägerig ist, und nicht mehr aus ihrem Zimmerchen kam. Dafür hat sie ihr ganzes Erspartes und ihre gesamte Rente hergeben müssen. Sie hatte Glück und im Februar war schon alles vorbei. Da hatte es die Oma 1956 vielleicht doch besser gehabt, sie konnte wenigstens ihre eigenen vier Wände anstarren.

In meinem Umfeld leben aber auch viele ältere und alte Menschen so, als ob ihnen nie etwas widerfahren könnte. Sie lassen einfach alles auf sich zukommen, manche weigern sich überhaupt, darüber nachzudenken, dass sie hinfällig werden oder, schlimmer noch, bettlägerig und/oder pflegebedürftig werden könnten. Sie fristen ihr Dasein, als ob sie das ewige Leben gepachtet hätten.

Und dann gibt es natürlich auch noch Mehrgenerationenhäuser, in denen Großfamilien leben mit Großeltern, Eltern und Kindern. Häuser, in denen Platz genug ist, so dass jeder seine eigenen vier Wände hat und eine Tür, die er hinter sich abschließen kann, wenn es ihm danach ist. Noch geht es allen gut und der Plan funktioniert. Aber was wird, wenn die Alten pflegebedürftig werden? Was geschieht dann? Ich denke an 1956 und an 1993. So wird es nicht mehr sein, da bin ich ganz sicher.

Eine perfekte Lösung gibt es wohl nicht und es wird sie nie geben. Doch Alt und Jung gehören meiner Meinung nach zusammen. Ohne die Jungen verkümmern die Alten, da können sie noch so fit sein und glauben, die Welt ändere sich nie. Die Welt ändert sich doch.