Das unendliche Leben

der Elisabeth von Ladewigen

Christine Kaula, Wipperfürth

Elisabeth von Ladewigen lebt in einem kleinen 150-Seelen-Dorf in der Vulkaneifel. Seit zwanzig Jahren ist die Einwohnerzahl des Ortes konstant und bleibt es voraussichtlich auch noch eine Reihe von Jahren. Es gibt natürlicherweise keine Geburten, auch keinen Zuzug von außerhalb, sondern nur Abnahmen infolge Todes. Ich habe nachts in einem von Elisabeths Büchern gelesen, dass man früher die Herdfeuer oder Feuerstellen gezählt habe, an denen die Menschen saßen und sich wärmten. Da wohnten ganze Sippen, Familien mit Mann, Frau und Kindern. Das war bestimmt sehr merkwürdig. Aber ich schweife ab. Das darf ich eigentlich nicht, sondern bin gehalten, täglich meine Pflicht zu tun. Doch bin ich sehr lernfähig und mein Wissen wird mit jedem Tag größer.

Das Haus liegt am Blumenweg, es ist vollklimatisiert und ziemlich groß, hat mehrere Räume im Erdgeschoss und etliche im Obergeschoss. Aber Elisabeth bewohnt nur drei Räume, die Küche, das Wohn- und Esszimmer und das Schlafzimmer. Aus dem Wohnzimmerfenster schaut man auf eine menschenleere Straße. Das gegenüberliegende Haus ist unbewohnt, das Nachbarhaus ebenfalls. Der Wind fegt Staub durch die Luft, die mürben Blätter der Straßenbäume gleiten schon früh auf den heißen Asphalt und krümmen sich dort zusammen, als ob die stetig zunehmende Erwärmung des Globus ihnen Schmerzen verursacht. Seitdem ihr Ehemann Heinrich verstorben ist, lebt Elisabeth allein im Haus. Der Sohn Rudolf wohnt und arbeitet schon seit zwanzig Jahren in einer Großstadt von Trumpsworld. Trumpsworld liegt auf einem anderen Kontinent, den man allerdings mit einem der eiligen Scramjets in dreißig Minuten erreichen kann. Seitdem Elisabeth beim Ausstieg aus der Badewanne gefallen ist und sich schwer verletzt hat, helfe ich ihr bei allen Dingen, die sie nicht mehr allein bewältigen kann. Es hatte Komplikationen beim Einsetzen der Schädelplatte gegeben, daher war sie früher als geplant, schon vor ihrem hundertsten Lebensjahr, arbeitsunfähig geworden. Nun ist sie 127 Jahre alt, aber noch längst nicht am Limit angelangt. Ihr Sohn hat mich aus Trumpsworld mitgebracht, als Elisabeth das Krankenhaus wieder verlassen konnte. Morgens, wenn Elisabeth wach wird, betrete ich ihr Schlafzimmer und helfe ihr aus dem Bett. Ich begleite sie ins Bad und setze sie auf die Toilette. Dort lasse ich sie ein paar Minuten allein, denn es gibt Momente, da will ein Mensch unter sich sein - sozusagen. Die Dusche mag sie nicht, also hebe ich sie in die Badewanne und wieder heraus. Sie will sich immer selbst reinigen, aber es gibt Stellen, wo sie nicht mehr hinlangen kann, wie zum Beispiel die Füße und den Rücken. Ist sie abgetrocknet, zieht sie sich an, bei den Strümpfen und der langen Hose helfe ich und schaue auch, ob alles in Ordnung ist mit Knöpfen und Reißverschlüssen. Auch die Haare frisiere ich ihr, das kann ich auch sehr gut. In der Küche bereite ich ihr das Frühstück zu. Sie isst gern eine Scheibe Brot und trinkt eine Tasse Tee dazu. Sie sagt mir, was ich auf das Brot legen soll, Käse oder Wurst. Auch einen Joghurt isst sie gern. Manchmal muss ich ihr den Mund reinigen hinterher.

Ich sehe gerade, dass sie mit ihrem Frühstück fertig ist. Nun gehen wir ins Wohnzimmer, langsam, damit sie nicht über ihre Teppiche stolpert, die überall herumliegen. „Lass die bloß liegen, die waren immer da, und ich finde das gemütlich", hat sie sich beschwert, als ich Anstalten machte, sie fortzuräumen. Jetzt lässt sie sich langsam in ihrem Sessel nieder. Dann machen wir den Gesundheitscheck. Ich hole den Laptop, wähle die allgemeine Gesundheitspraxis an, und nach einigen Augenblicken steht ein holografischer Arzt neben uns. Mit einem Kabel schließe ich das Blutdruckmessgerät an den PC und lege Elisabeth die Manschette an. Sogleich werden die Ergebnisse in die Arztpraxis übertragen. Ein Tröpfchen Blut abgenommen und in den Sanguprobator gegeben, zeigt nach wenigen Augenblicken, ob die Werte normal sind. Besonders das Gen p53 wird dabei genau untersucht, denn bei vielen Krebsarten ist eine Mutation an diesem Gen beteiligt. Sollte es Hinweise auf eine solche Erkrankung geben, werde ich Nanopartikel injizieren, die schalten die Krebszellen sofort aus. Währenddessen spricht der holografische Arzt mit Elisabeth und geht geduldig auf ihre Fragen und Wünsche ein. Das alles ist aber nach wenigen Minuten erledigt. Elisabeth geht es gut, ich gebe ihr die verordneten Medikamente und weiß nun, dass es Zeit ist, ihr die Tageszeitung vorzulesen, die ich auf dem Tablet aufgerufen habe. Neben ihrem Sessel stehend, lese ich ihr laut die Titel der einzelnen Artikel vor: „Europas Zentralregierung tritt zusammen", „Trumpsworld sucht verzweifelt Stahlarbeiter" und „Zarin Putina regiert in vierter Generation". „Das ist doch alles langweilig", meckert Elisabeth, „lies mir aus dem Lokalteil vor." Ich gehorche und lese laut vor: „Magnetmobil für Senioren noch sicherer", „Geburtsprämie für Familien von 20.000 Bitcoins auf 50.000 Bitcoins angehoben - positiver Effekt wünschenswert" und „Lebenszeit der Senioren jetzt bis hundertfünfzig garantiert". „Ist denn nichts im Dorf passiert?", fragt mich Elisabeth ungeduldig. „Nein", muss ich gestehen, „hier passiert schon lange nichts Außergewöhnliches mehr. Alles ist ruhig, seitdem die Häuser elektronisch abgesichert sind. Niemand kann mehr einbrechen, niemand kann mehr ausbrechen. Sie sind völlig sicher, liebe Elisabeth." Elisabeth murmelt etwas, das so klingt wie: „Wenn doch mal was passieren würde! Ein Erdbeben oder so." So etwas verstehe ich nicht, die Menschen leben doch so gut und sicher wie noch nie in ihrem Leben. Es ist Mittag, und Elisabeth bekommt ihr Essen. Das wird in tiefgefrorenen Portionen geliefert und ist rasch und vitaminschonend aufbereitet. Aber Elisabeth hat keinen Hunger. Ich weiß aber, dass sie essen muss, sonst kann ihr jetziger dokumentierter Gesundheitszustand nicht gehalten werden. Also spreche ich mit ihr über die Folgen der Nahrungsverweigerung. „Sie möchten doch nicht enteral ernährt werden?", frage ich freundlich. Elisabeth schaut mich erschrocken an. „Der Staat garantiert Ihnen zwar eine Lebenszeit von hundertfünfzig Jahren, aber daran müssen Sie schon mitarbeiten, liebe Elisabeth", fahre ich fort, „deshalb wäre es schon besser, Sie würden diese kleine Mahlzeit zu sich nehmen."

Elisabeth setzt sich an ihren Tisch im Esszimmer und beginnt, das Gemüse-Reisgericht Löffel für Löffel in ihren Mund zu schieben. Es schmeckt ihr nicht, das sehe ich genau, ihre Miene ist säuerlich, und sie ist denkbar schlechter Laune. Das wird sie an mir auslassen, das weiß ich. Also versuche ich, sie zu motivieren. „Wenn Sie aufgegessen und Ihren Nachmittagsschlaf absolviert haben, könnten wir etwas spielen", schlage ich vor. Sie nickt und lässt sich gehorsam von mir wieder ins Schlafzimmer führen. Dort lege ich sie zunächst auf die Massageeinheit, dort werden die Beine, Arme und der Rücken aktiviert, damit sie nicht versteifen. Danach breite ich eine leichte Decke über sie und verdunkle den Raum. Auf einen Schalterdruck beginnt eine leise, einschläfernde Musik, die Elisabeth rasch einschlummern lässt. In der Zwischenzeit räume ich die Küche auf und warte dann geduldig, bis sie wieder erwacht. Ihre Laune ist ein wenig besser geworden. Wir spielen Mensch-ärgere-dich-nicht. Ein Spiel, das sie mir beigebracht hat, da ich es nicht kannte. Ich beherrsche natürlich alle Computerspiele, auch Fünf-Ebenen-Schach zum Beispiel, aber das kennt Elisabeth nicht. Ich lasse sie gewinnen, wie immer, dann ist ihre Laune noch besser.

Nun bereite ich ihr einen Tee zu, den sie gern trinkt. Dazu sitzt sie wieder in ihrem Sessel im Wohnzimmer. Jetzt ist Erzählstunde, und ich höre geduldig ihren Berichten von den guten Tagen in der alten Heimat zu, wo ihre Familie zu den Begüterten gehörte, die auf ihrem Gut Knechte und Mägde beschäftigten. Sie schildert die Flucht aus den östlichen Gebieten Europas im letzten der großen Kriege der Welt und von dem mühsamen Neubeginn, der Heirat, dem Hausbau, dem Sohn, der nicht bei ihr lebt. Sie schildert Begebenheiten aus der Zeit ihrer Ehe, und dass sie ihren Mann immer noch vermisst, der im frühen Alter von achtzig Jahren verstarb. Ich kann nicht viel dazu sagen, denn die Welt, wie sie damals war, ist mir unbekannt. Aber ich höre zu und weiß, dass ich Geduld mit ihr haben muss. Sie jammert über ihr Alleinsein und vermisst ihre Freunde von früher, die alle schon gestorben sind. Dann murmele ich ein paar Trostworte.

Als es Zeit ist, das Abendbrot zu bereiten, gehe ich in die Küche und tue das Nötige. Dieses Mal isst sie alles ohne Widerrede auf, danach möchte sie einen Film schauen. Ich schalte die Screenwall ein und wähle einen Film mit dem Titel „Heimat der Berge" aus den 2005er-Jah-ren, weil ich weiß, dass sie ihn gern sehen will. Doch sie schläft schon nach einer Viertelstunde ein. Vorsichtig wecke ich sie, gebe ihr die Abendmedizin und helfe ihr beim Zubettgehen.

Eine Tablette zum Schlafen ist nicht nötig, sie nickt schon wieder ein, kaum liegt sie im Bett. Zur Überwachung schließe ich sie an den Monitor an, damit ich nachts registriere, wenn etwas Außergewöhnliches geschieht. Aber bisher ist noch nie etwas passiert. Nun habe ich alle meine Pflichten erfüllt. Im Flur öffne ich an meiner Bauchseite die Klappe, entnehme das Aufladekabel und führe es in die Steckdose, damit mein Akkumulator am nächsten Tag wieder aufgeladen ist. Vorher habe ich mir noch ein Buch aus dem Regal genommen. Wie gesagt, ich bin sehr lernfähig und Lesen bildet ungemein.

Dieser Beitrag über das Leben einer Seniorin in einer nicht definierten Zukunft klingt gewiss fantastisch. Aber bei der rasant fortschreitenden Entwicklung der „künstlichen Intelligenz" ist es nicht von der Hand zu weisen, dass für die häusliche Pflege von Senioren irgendwann - vielleicht in nicht allzu langer Zeit - Roboter eingesetzt werden.