Ich hatte einen (Alb-)Traum

Ernst Krämer, Gerolstein

Normalerweise sind meine Träume es nicht wert aufgeschrieben zu werden, bestehen sie doch meist aus einem chaotischen Durcheinander verschiedener Ereignisse, an die ich mich am nächsten Morgen nur noch schwach oder gar nicht mehr erinnern kann. Doch diesmal war alles anders, es war kein normaler, alltäglicher Traum - es war ein Traum, von dem ich noch jedes Detail, jedes Bild, jede Bewegung in bester Erinnerung habe. Ein Traum, der auch den stärksten Mann erschaudern lässt, der einem Schweißperlen auf die Stirn treibt und den Körper zum Erzittern bringt!

Aber trotz allen Nebenwirkungen hat der Traum mich auch nachdenklich gestimmt, hat er mir doch aufgezeigt, wie unsere Vulkaneifel in den kommenden Jahrzehnten aussehen könnte, wenn wir mit dem Raubbau an der Natur in dem bisherigen Tempo weitermachen!

Doch der Reihe nach - zurück zum Anfang der Geschichte!

Es war ein Bilderbuchherbst, wie man ihn nicht jedes Jahr erlebt. Die Natur zeigte sich schon seit einer Woche von ihrer schönsten Seite. Bunte Wälder, soweit das Auge reicht, klare reine Luft, Mücken, die im flimmernden Sonnenlicht tanzen und unzählige Spinngewebe (Weiben), die sich wie lange, dünne Silberfäden sanft im Wind wiegen. „Indian Summer" pur, geht es einem durch den Kopf, nur mit dem kleinen Unterschied, dass wir nicht in Kanada, sondern in der Vulkaneifel sind und dass bei uns eine solche herbstliche Schönwetterperiode „Altweibersommer" genannt wird. Das klingt zwar nicht so romantisch und poesievoll, ist aber garantiert genau so schön wie ein „Indian Summer" im fernen Kanada! An solch einem „Indian Summer..." - oh Pardon! - „Altweibersommertag" schnürte ich mir die Wanderschuhe, schnappte mir unsere treue Labradorhündin Cera (oder hat sie mich geschnappt?) und ab ging es hinaus in Gottes schöne Natur!

Mit dem Lied von Marius Müller-Westernhagen auf den Lippen: „Ich bin wieder hier, in meinem Revier - ich atme tief ein, da bin ich mir sicher, in der Eifel zu sein" (oder so ähnlich) zogen wir frischvergnügt zur nördlichen Seite der Bahnlinie, zu jenem urzeitlichen Dolomitmassiv, das vor circa 400 Millionen Jahren als Korallenriff im mitteldevonischen Südseemeer entstanden ist und das sich heute als Wahrzeichen Gerolsteins mächtig und majestätisch über die Stadt und das Kylltal erhebt.

Unser erstes Ziel war mein Lieblingsplatz: das Plateau der Munterley.

Cera kannte den Weg schon auswendig, etliche Meter vor mir herlaufend folgte sie, freudig mit der Rute wedelnd, dem Felsenpfad, der sich in leichter Steigung bis auf das Plateau hinaufschlängelt.

Ohne große Anstrengung hatten wir die 100 Höhenmeter in kürzester Zeit überwunden und standen nun auf dem ältesten und einem der schönsten Aussichtspunkte unserer Vulkaneifel.

Der aufmerksame Leser wird jetzt den Kopf schütteln und denken: „Ältester Aussichtspunkt, was soll der Quatsch?" Kein Quatsch, denn schon vor circa 25.000 Jahren konnten die altsteinzeitlichen Bewohner des Buchenlochs den weiten Blick von der Munterley über die damals noch namenlose Landschaft mit ihren aktiven Vulkanen genießen!

Auch ich genieße diese herrliche Aussicht über das Kylltal und meine Heimatstadt Gerolstein mit der Löwenburg, die auf einem mächtigen Dolomitfelsen steht und trutzig ihre spärlichen Ruinen gen Himmel streckt, dem alten Rathaus, der Sankt Anna Kirche, der Erlöserkirche sowie die alten und neuen Häuser, die sich harmonisch in das Gesamtbild der Stadt einfügen, aber auch die alten und neuen „Bausünden", die einem von hier oben unweigerlich ins Auge fallen. Doch am meisten genieße ich den phantastischen Panoramablick über die herbstliche „Altweibersommerlandschaft", die sich vor mir und Cera ausbreitet.

Vom Schartenberg über Flemingshöhe, Heidkopf, Dietzenley, Krekelsberg, den Birresborner Kalem, Hinterhausen, mit den dahinter liegenden bewaldeten Höhenzügen des Prümer-Landes, über den Stadtteil Lissingen mit Wöllersberg, die Höhen vom Denkelseifen bis auf Schocken und den Rother Kopf! Bunte Wälder, so weit das Auge reicht! Ein überquellendes Farbenspiel aus Gelb, Rot, und Orange, das sich mir als ein großes Kunstwerk präsentiert, bei dem unser Herrgott den Pinsel höchstpersönlich geführt hat.

Einfach Wahnsinn dieser Ausblick! Oder wie würde die heutige Jugend sagen? „Boh Äh - is dat geil!"

Während ich dieses einzigartige Bild auf mich wirken lasse, lehne ich mich auf einer dieser „Relax Bänke", die an den schönsten Punkten entlang des Eifelsteigs aufgestellt worden sind, entspannt und dankbar zurück. Ja dankbar, dass ich ein Teil dieser Landschaft sein darf, dass ich - „neuzeitlicher Mensch" - auf diesem „urzeitlichen Gestein" stehen darf, wie einst die Neandertaler, dass ich diese Landschaft, die durch den Vulkanismus geformt wurde, mit all ihren Facetten und Kontrasten genießen darf, wie unzählige Generationen es schon vor mir getan haben und nachfolgende Generationen es - hoffentlich - noch lange tun können?

Wie ich so über die Zukunft unserer Vulkaneifel sinniere kam Cera, meine vierbeinige Begleiterin, die sich mehr für die hinterlassenen Duftspuren ihrer Artgenossen (besonders der männlichen) interessierte als für die schöne Aussicht, streckte sich genüsslich neben mir aus, nachdem sie sich noch eine kleine Zwischenmahlzeit erschleimt hatte und schlief schon nach wenigen Minuten mit einem

leisen Seufzer, der langsam in ein rhythmisches Schnarchen überging, ein.

Ich schaute derweil einem Rotmilanpärchen zu, das sich ohne einen einzigen Flügelschlag nur mit Hilfe der Thermik immer höher schraubte, als wollten sie noch einmal den weiten Blick über die wunderbare Vulkaneifel in sich aufnehmen, um dann gen Süden ins Winterquartier zu fliegen.

Meine Augen verfolgten die beiden bis zum Horizont. Ich wünschte ihnen noch einen guten Flug, schönen Urlaub und eine gesunde Rückkehr im März des nächsten Jahres. Mit dem Gedanken: „Das müsste man auch mal können, einfach losfliegen, sich vom Wind treiben lassen und die Welt von oben sehen", fielen mir die Augen zu.

Ich muss wohl schon einige Zeit vor mich hingedöst haben, als plötzlich eine graue Nebelwand in einem wahnsinnigen Tempo vom Kylltal aufzog und mich, in einer Art Zeittunnel, bis in die Stratosphäre mitriss und 100 Jahre später im Körper eines Rotmilans wieder ausspuckte! Ich war natürlich überrascht, dass mein Wunsch, die Vulkaneifel einmal aus der Vogelperspektive zu betrachten, so schnell in Erfüllung ging - und das auch noch im Gefieder eines Rotmilans. Was will man mehr? Nachdem sich die grauen Nebelschwaden verzogen hatten, bot sich mir jedoch ein Anblick, den ich so nicht erwartet hatte, ein Anblick, der einem sprichwörtlich die Thermik unter den Flügeln wegzieht, ein Anblick, der mich fast zum Abstürzen brachte! Was ist das für eine trostlose, öde Landschaft, die sich unter mir ausbreitet? Wo sind die bunten Wälder? Wo die Vulkanhügel und Kegel, die unseren Landkreis prägten und Touristen aus aller Welt anlockten? Wo sind sie, die Zeugen unserer erdgeschichtlichen Vergangenheit? Wo? - Weg! Platt gemacht! Unwiderruflich verschwunden, aufgefressen von dem nimmersatten Ungeheuer namens „Profit". Unsere einzigartige Vulkaneifel, die im Jahre 2015 zum „UNESCO Global Geopark" ernannt wurde, ist nach gerade mal „Hundert Jahren" zu einer Mondlandschaft mutiert! Allüberall nur Krater und Löcher von gigantischen Ausmaßen, in denen riesige Maschinen sich immer tiefer, immer weiter, immer schneller ohne Unterlass ins Gestein fressen!

Was die Bagger nicht schaffen, schaffen Sprengungen, die auf einen Schlag bis zu 80.000 Kubikmeter Gestein aus der Felswand lösen und riesige Staubwolken aufwirbeln, die sich, einem Leichentuch gleich, sanft über die zerschundene Eifellandschaft legen.

Um das Ungeheuer „Profit" weiter füttern zu können, werden auch die ausgewiesenen Naturschutzgebiete ohne Skrupel weggesprengt und abgebaggert!

Bis vor die Papenkaule sind die Bagger schon vorgedrungen und der „Hustleyfelsen" besteht nur noch aus einer 20 Meter dicken „Alibifassade", getreu dem alten Sprichwort: „Vorne hui, hinten pfui". Und es wird nicht mehr lange dauern, dann werden auch die Bagger den Felsen, der die Kasselburg trägt, mit ihren stählernen Zähnen anbaggern.

Die Nachfrage nach Vulkan- und Kalkgestein aus der Eifel ist so groß, dass Lkw an Lkw und Güterwagon an Güterwagon Tag und Nacht unterwegs sind, um Europa und die ganze Welt mit unserem wertvollen Gestein zu beliefern! Doch das Perfide an der ganzen Sache ist, dass die vollgeladenen Lkws und Güterwagons auch wieder vollgeladen zurückkommen, jedoch nicht mit Gestein, sondern mit „Sondermüll" aus aller Welt, der zur Aufschüttung der schon ausgebeuteten Gruben gewinnbringend genutzt wird.

Was viele besorgte Bürger zu Beginn des 21. Jahrhunderts befürchtet haben, ist 100 Jahre später zur bitteren Wahrheit geworden! All die Proteste, Mahnungen, Eingaben und Gutachten der Bürgerinitiativen und Naturschutzverbände gegen eine Erweiterung des Lava- und Gesteinsabbaus ist bei den zuständigen Behörden und der Steinindustrie, aber auch bei Politikern, auf taube Ohren beziehungsweise auf Basalt gestoßen.

Doch nicht nur der aus dem Ruder gelaufene Gesteinsabbau lässt mir kalte Schauer durchs Gefieder laufen, nein, auch der Anblick der

unzähligen Windkraftanlagen, die wie Spargelstangen - auf Kosten von Flora und Fauna aus dem Boden geschossen sind!

Selbst die Gerolsteiner „Büschkapelle", die stets von „Büsch", also Wald, umgeben war: „Steht einsam und verloren zwischen riesengroßen Windkraftrotoren", um es mit den Worten eines Dichters zu sagen. Auf allen Bergen, Hügeln und Erhebungen, die nicht zum Gesteinsabbau taugen, stehen bis zu 200 Meter hohe Windkraftriesen, die einem Rotmilan wie mir, das Fliegen zu einer lebensgefährlichen Angelegenheit werden lassen! Und so kam es, wie es kommen musste, ein Moment der Unachtsamkeit brachte mich gefährlich nahe an eines dieser stählernen Rotorblätter heran, das mich augenblicklich mit seinem Sog nach unten zog und ich - rücklings - auf den Boden aufschlug!

Mit Händen und Füßen beziehungsweise mit Krallen und Flügeln um mich schlagend, versuchte ich der misslichen Lage zu entkommen, doch so sehr ich mich auch anstrengte, es wollte mir nicht gelingen. Völlig erschöpft gab ich auf und fügte mich dem Schicksal, als ich plötzlich etwas Warmes, Schlabberiges in meinem Gesicht verspürte. Erschrocken riss ich die Augen auf und blickte auf die schwarze Nase von Cera, die mir mit ihrer feuchten Zunge quer durchs Gesicht wischte und mich mit einem freudigen Bellen in der Gegenwart begrüßte.

Völlig irritiert und noch etwas benommen, vermutlich von dem Sturz auf den harten Felsen, versuchte ich mich zu orientieren. „Was ist passiert? Wo bin ich? Was macht Cera hier?", waren meine ersten Gedanken! Vorsichtig rappelte ich mich hoch und stellte fest, dass ich mich wieder auf der Munterley befand, jenem Ort, wo ich vor kurzem ein wenig eingenickt war.

Nachdem meine Augen die unveränderte „Altweibersommerlandschaft" in ihrer vollen Schönheit erfasst hatten, lehnte ich mich entspannt in eine dieser „Relax Bänke", die an den schönsten Punkten... Sorry, das hatten wir schon! OK, lehnte ich mich also entspannt zurück und rief erleichtert aus: „Gott sei Dank - es war nur ein Traum!!!" - Oder?