Das Jahr 2040

Anita Becker, Daun

Wir schreiben das Jahr 2040. Bereits als kleines Kind habe ich mir ausgerechnet, dass ich die Jahrtausendwende noch erleben könnte. Das war dann auch so. Aber dass ich auch noch 2040 erleben könnte, habe ich nie erwartet. Nun bin ich 103 Jahre alt und viele meiner Klassenkameradinnen und -Kameraden sind auch noch um mich. Wir erfreuen uns einer stabilen Gesundheit und treffen uns immer noch einmal im Monat.

Das tägliche Leben können wir einigermaßen gut bewältigen. Seit einigen Jahren hat sich vieles geändert. Alles ist digital. Beim Einkauf braucht man kein Bargeld mehr. Unsere Bankkarte kann für alles genutzt werden: Bus, Bahn, Parken, selbst im Cafe zahlt man mit Karte. Der PC fehlt in keinem Haushalt. Auch wir laufen den ganzen Tag mit einem Smartphone herum. Vor 20 Jahren haben wir noch darüber gelächelt, dass sich die junge Generation am Smartphone festhält. Heute ist es gang und gäbe auch bei uns. Was sehr erfreulich ist, ist die Tatsache, dass es wieder viele junge Menschen gibt, die in Arbeit sind. Dadurch gibt es wieder genug Sozialabgaben an die Rentenversicherung. Auch Altenpflegerinnen und -pfleger gibt es endlich genug. Der Grund ist, dass die vielen Kinder der Migranten für den Ausgleich sorgen. Der viel gefürchtete demographische Wandel ist deshalb gar nicht mehr eingetroffen.

Jahrelang hat man sich Sorgen um die Zukunft gemacht, weil es zu viele alte und zu wenig junge Menschen gab. Dass ich diese Änderung noch erleben kann! Hoffentlich geht es weiter so.

Inzwischen sind viele meiner Bekannten von den umliegenden Dörfern nach Daun gezogen, weil sie hier bessere Möglichkeiten haben, ein normales Leben zu führen. In den Ortschaften ist es weiterhin schwierig für Senioren, weil es keine Ärzte dort gibt und keine Einkaufsmöglichkeiten - nur per Internet. Lebensmittel kaufen geht so ja auch, weil das per Computer auch bei den örtlichen Unternehmen sehr einfach geht und sehr schnell geliefert wird, aber einen Arzt per Internet aufsuchen? Zum Glück ist aber seit einigen Jahren der öffentliche Straßenverkehr gut ausgestattet. Mehrmals am Tag fahren die Busse die Dörfer ab. Deshalb wird das auch angenommen. Gerade meine Generation sollte nicht mehr Auto fahren. Wenn es Engpässe gibt, helfen „Bürger für Bürger" und andere Organisationen mit ihren Einsatzfahrzeugen. Im Notfall gibt es auch noch das Seniorentaxi, das finanziell vom Landkreis unterstützt wird. Ein neues Problem ist aufgetaucht. Es fahren privat fast nur noch Elektro-Autos. Diese sind so leise und machen sich nicht mehr bemerkbar, d. h. Senioren, die sowieso schon schlecht hören, laufen auf der Straße, weil sie vermeintlich kein Auto bemerken. Dabei sind die Elektro-Autos so angenehm, gerade weil sie keinen Lärm machen und meistens auch langsamer unterwegs sind. Feinstaub wird verhindert, sodass die Menschen länger ohne Erkrankungen leben. Ich habe nur eine Teilzeitpflegekraft, die die Einkäufe entgegennimmt und schwerere Arbeiten übernimmt. Glücklicherweise kann ich ihr voll vertrauen und die Rechnungen unbesehen zahlen. Einmal in der Woche treffe ich immer noch meine Englischgruppe. Natürlich haben sich die Teilnehmer im Laufe der Jahre geändert, aber es sind viele in meinem Alter dabei.

Leider kann ich keine Ausflüge mehr mit Reisegesellschaften machen. Da sind so viele jüngere Teilnehmer, die sich nicht gerne in ihren Unternehmungen einschränken lassen. Aber wir haben ja auch unser Leben gelebt und müssen nicht dauernd auf Achse sein. Seit mehr als 20 Jahren benutzen die meisten über 80-Jährigen einen Rollator zum Fortbewegen in der Stadt. Anfangs habe ich gehört, dass selbst 90-Jährige sich schämten, mit einem Rollator in der Stadt gesehen zu werden. Diese Eitelkeit ist aber inzwischen einer Normalität gewichen. Manche sagen, dass der Rollator die beste Erfindung für Senioren seit Jahren ist.

Finanziell geht es unserer Generation inzwischen auch besser. Vor Jahren hatten wir noch das Bedürfnis, bei der Tafel einkaufen zu müssen. Das ist ganz weggefallen. Jeder erhält eine Grundrente und kann davon leben. Am besten ist natürlich die Tatsache, dass die vielen jungen Menschen aus den ehemaligen Flüchtlingsstaaten heute sehr beliebte Seniorenpfleger/innen geworden sind. Sowohl in den Heimen als auch privat sind wir gut und einigermaßen günstig mit liebevollen Pflegekräften versorgt. Sie sprechen unsere Sprache, wenn auch mit Akzent. Aber man kann sie mit gutem Willen verstehen. Die meisten Menschen wollen lieber in ihrer Wohnung bleiben mit stundenweiser Hilfe oder auch mit Vollzeitkräften. Scheinbar werden wir alle ein zufriedeneres Alter erleben können als viele Generationen vor uns. Und so wird es hoffentlich immer weiter gehen!

Im Haus oder in der Wohnung muss man barrierefreies Bauen schon in jungen Jahren unterstützen. Häuser, die nicht von vornherein barrierefrei gebaut wurden, kann man nachrüsten z. B. mit einem zweiten Handlauf an der Treppe (wenn man nicht ebenerdig wohnt). Badezimmer und WCs können angepasst werden oder man kann einen Bade-wannenlifter benutzen, wenn kein Platz für eine Dusche ist. Sitzgelegenheiten können mit Holzklötzen um zehn oder mehr Zentimeter erhöht werden, damit das Aufstehen leichter fällt. Umbauten werden zum Teil staatlich gefördert. Aber viel besser wäre es, wenn Neubauten bereits barrierefrei erstellt würden. Der Seniorenbeirat hat sich bereits vor mehr als 20 Jahren dafür eingesetzt. Meinen jüngeren Mitmenschen wünsche ich ein angenehmes Leben im Kreis ihrer Familien. Mir ist das nicht beschert, weil meine Söhne früh starben und ich als Witwe keine direkten Verwandten habe. Dennoch: Ich bin zufrieden mit dem heutigen Leben und wenn ich gehen muss, bin ich auch bereit dazu und wünsche der jüngeren Generation viele gute Ideen, wie sie sich ihr Leben bis ins hohe Alter angenehm gestalten können.