Zukunftsträume

Brigitta Westhäusler, Hillesheim

„Ja, sehen Sie, mit dem 2. Mai vor einigen Jahren begann für unsere Region die Zukunft, das digitale Zeitalter konnte endlich Einzug halten." Die dunklen Augen der Public-Relation-Manage-rin strahlten selbst durch die Designer-Brille und fixierten einen Punkt über den Köpfen der Besucher. Eine kleine Delegation aus Politikern, Unternehmern und Medizinern besuchte an jenem Morgen das Versorgungszentrum für ältere Mitbürger. Das „Supply-Center" war ein Glaspalast am Rande der Stadt, inmitten einer grünen Oase. „Was war damals das größte Problem?", fragte sie herausfordernd, aber erwartete keine Antwort. „Der Pflegenotstand!" Sie gab selbst die Antwort und betonte jede Silbe. Mit den Fingern ihrer rechten Hand berührte sie eine matte Glaswand und sogleich flammte ein riesiges Diagramm, bestehend aus Kreisen, Quadraten und vielen bunten Linien auf. Mittels eines Laserpointers zeigte sie auf die Symbole und erläuterte das System des Zentrums. „Grundlage war erst einmal eine genaue Datenerfassung. Damals besaßen die meisten schon ein Smartphone oder Tablet oder einen Computer, aber das Internet war nicht überall zugänglich oder benutzbar. Erst mit einem funktionierenden ,network' konnten die eigentlichen Pläne umgesetzt werden.

Vom 65. Lebensjahr an ist jeder ein .gläserner Mensch', dessen körperliche Verfassung und medizinische Daten genau kontrolliert und überwacht werden.

Vom 65. Lebensjahr an muss jeder täglich sein ,Home-Med' benutzen und alle wichtigen Daten wie Temperatur, Gewicht, Blutdruck, Blutzucker und eventuelle Auffälligkeiten an seinen Hausarzt übermitteln.

Der Hausarzt speichert alle Daten in einem gesonderten Patienten-Computer und leitet sie an die Krankenkasse weiter. Es gibt nur noch eine Einheitskasse, wie Sie vielleicht wissen. Die Krankenkasse gewährt Versicherungsschutz nur bei vollständiger Datenvorlage.

Ist ein Krankheitsfall eingetreten, so kommt der Hausarzt oder er schickt einen Vertreter. Für den Umkreis von 30 Kilometer besteht ein Einsatzkollektiv aus jungen Ärzten, das von hier aus koordiniert wird.

Junge Menschen, die ihr Medizinstudium beendet haben, müssen erst ein Jahr lang diesen Dienst leisten, ehe sie an Krankenhäuser vermittelt werden oder sich selbstständig machen. Wird ein Aufenthalt im Krankenhaus notwendig, so soll er so kurz wie möglich gehalten werden. Die Ausbildung und die Arbeitsbedingungen für Pflege-und Hygienepersonal wurden stufenweise verbessert, so dass wir heute genügend Bewerbungen haben.

Es gibt in den Abschlussklassen aller Schulen ein Pflicht-Praktikum von 4 Stunden in der Woche, die in einem Krankenhaus oder Pflegezentrum abgeleistet werden müssen. Sozialdienst ist ein Schulfach geworden.

Außerdem unterhalten wir auch Kontakt mit Nachbarländern und fragen im Bedarfsfall nach Hilfskräften nach."

Kurzzeitig entstand erstauntes Raunen und die Besucher kamen miteinander ins Gespräch. „Und häusliche Pflege?", wagte einer zu fragen. Überlegen lächelte die Managerin und erklärte: „Das ist das Beste an unserem Programm!" Und wieder wanderte der rote Pfeil über die Glaswand.

„Ist die betroffene Person noch Teil einer Familie, so werden Familienmitglieder nur bedingt zur Pflege herangezogen. Die Erfahrungen von früher haben gezeigt, dass mangelndes Wissen und Überbeanspruchung nur kontraproduktiv waren. Die große psychische und auch physische Belastung störte das einst gute Verhältnis der Personen untereinander. Liebe und Fürsorge endeten oft in Hass und sogar Brutalität. Ganz schlimme Geschichten gab es da!"

Für einen Moment war die Managerin in Gedanken verloren. Dann fuhr sie fort.

„Da wir über den Hausarzt oder das Krankenhaus informiert sind, begutachten wir als erstes die häuslichen Bedingungen: Lage des Zimmers, Bett, Bad, Küche, Treppenhaus. Ist die eigene Wohnung oder das Haus geeignet, erstellen wir einen genauen Pflegeplan. Notwendige Hilfsmittel werden zur Verfügung gestellt. Der Kranke wird von Hygiene- und medizinisch-geschultem Pflegepersonal für die Dauer seiner Krankheit rund um die Uhr betreut. Die Schmutzwäsche wird abgeholt, gewaschen und gebügelt zurückgebracht. Essen wird pünktlich geliefert und das gebrauchte Geschirr von uns abgeholt. Gerade bei Diätvorschriften sind wir besonders kompetent. Die übrige Familie ist komplett entlastet und pflegt den emotionalen Kontakt. Auch hierin können sie unterstützt werden. Der Kranke erhält ein Signalgerät, mit dem er jederzeit rund um die Uhr unsere Zentrale erreicht und einen Dienst anfordern kann. Ist ein Patient alleinstehend, wird er in unser Zentrum gebracht und auf dieselbe Art umsorgt. Zur Zeit sind in unserem Pflegeflügel 28 Patienten. Wir führen Sie nachher hinüber und sie können sich ein persönliches Bild machen. Unser Ziel ist es auch, die Gesundheit im Ganzen zu fördern und zu erhalten. Wir bieten Schulungen zur Ernährung an. Auch auf diesem Gebiet wurden inzwischen die Schulen sensibilisiert. Kochkurse und richtige Ernährung gehören zum Stundenplan. Daneben die Anregungen für Sport und Bewegung. Schulleiter und Arbeitgeber sind aufgefordert, bei Auffälligkeiten Kontakt mit uns aufzunehmen. Wir versuchen, Betroffene auf den richtigen Weg zu bringen.

Haben Sie noch Fragen, bevor wir in den Südflügel gehen?"

Zunächst schienen die Zuhörer wie erschlagen von all den Informationen. Einige studierten noch einmal eindringlich die Schautafel, andere flüsterten miteinander. Ein Herr im grauen Anzug meldete sich schließlich: „Kennen Sie die aktuellen Zahlen zu der Alterspyramide und den Pflegefällen?"

Die Managerin berührte wieder die Glaswand und schwarze und rote Balken erschienen auf der Tafel.

„Wie Sie erkennen können, haben wir immer weniger ganz alte Mitbürger von 80 Jahren und mehr. Gleichzeitig verringern sich Jahr für Jahr die schweren Pflegefälle. Wir bieten besondere Anreize für junge Familien, um damit den Nachwuchs zu fördern. In unserem Kreis liegt die Anzahl von Kindern über dem Durchschnitt."

Alle studierten die Zahlen und unterhielten sich darüber. Die Managerin schweifte mit ihrem Blick über die Besuchergruppe und lächelte. „Übrigens - wir haben draußen einen kleinen Imbiss vorbereitet. Bevor wir rüber gehen, können Sie bitte eine Stärkung zu sich nehmen." Es erfolgte lautes Stühlerücken und diskutierend strebten alle dem Ausgang zu. Man sprach fleißig den Getränken und den biologisch einwandfrei belegten Canapes zu. Einer der jungen Mediziner schlenderte zur Ausgangstür, trat hinaus und atmete tief durch. Er genoss die liebliche Luft und die parkähnliche Landschaft. Dann beobachtete er einen Transporter, zu dem mehrere längliche Gestelle gerollt wurden. Sie waren alle mit der gleichen grünen Folie bedeckt.

Neugierig geworden, wollte er näher treten. Da wurde er abrupt von einem bewaffneten Wachmann zurückgehalten. „Was geht da vor?", wagte er zu fragen.

„Nichts, was Dich etwas angeht!", erwiderte barsch der Wachmann und schob ihn zu der Eingangstür zurück. Der junge Mann blieb aber stehen und beobachtete das weitere Geschehen. Die Fracht der Rollwagen wurde in den Transporter geschoben und die Fahrer in den weißen Kitteln rollten ihre Wagen zum Hauptgebäude zurück. Die Tür des Transporters wurde schließlich geschlossen und irgendwie besonders gesichert, denn der Fahrer oder Beifahrer hielt ein Gerät dagegen. Dann machte sich das schwere Gefährt auf den Weg, ohne viel Geräusch zu machen. „Elektroantrieb", ging es dem jungen Mann durch den Kopf. Dann entdeckte er ein Schild an der Rückseite: .Transport to Paradise' „Was bedeutet das?", fragte er wieder den Wachmann, der immer noch neben ihm stand. „Na, was wohl?", erwiderte schnoddrig der Uniformierte. „ Ab ins Nirwana! Lange genug gelebt und den Jungen auf der Tasche gelegen! Bei uns pflegt man bis zum bitteren Ende!" Und sein Lachen konnte der junge Mediziner den ganzen Tag nicht vergessen.