Die Vögel werden weniger

Ute Bales, Freiburg

Das Dorf ist klein. Wer bis drei zählen kann, hat es schon erfasst: Straßen hier, Wege da, Häuser, Mauern und Bretterzäune, eine Kirche mit Linde, ein Friedhof, ein Feuerwehrhaus und eine Burg, seit über 800 Jahren auf ihrem Platz, gleich am Dorfeingang. Vielleicht auch am Dorfausgang. Ein Dorf fängt nicht an und hört nicht auf. Das kann man so nicht sagen. Jedenfalls steht die Burg da, wo der Bus hält, der die Kinder morgens abholt und mittags wieder bringt. Die Straße führt also von hier ins Dorf hinein oder hinaus, schlängelt sich und nimmt zwei scharfe Kurven, was allerdings nur für den gilt, der zur Kirche oder zum Friedhof muss. Wer ins Oberdorf will, braucht die zweite Kurve nicht, dafür aber geht er steil bergauf, Häuser links und rechts, mit Vorgärten und parkenden Autos auf gekennzeichneten Plätzen. Ist er am höchsten Punkt angekommen - ungefähr bei einer Fichtenschonung - kann er sehen: Um das Dorf herum gibt es Weiden, Äcker und Wald. Zum Greifen nah ist ein kleines Städtchen in mächtiger Landschaft mit gewaltigen Felsen. Irgendwo zwischen Stadt und Dorf fließt die Kyll, aber die kann man von hier oben nur erahnen. Das ist alles noch da.

Auch die Frauen und Männer, die Kinder und das Getier sind noch da. Jedenfalls die, die nicht gestorben oder ausgewandert sind. Wer Leute treffen will, muss zurück ins Dorf, am besten über den Gehweg, der neu angelegt ist, weswegen keiner mehr die Mitte der Straße nehmen soll. Was man aber bedenkenlos tun könnte, denn wenn man hier so geht,

hat man oft die Straße ganz für sich, und nur selten begegnet man jemandem, schon gar nicht zu Fuß. Nur ein Traktor tuckert das Dorf hinauf. Zwei Männer in Strickwesten sitzen obenauf und grüßen, indem sie die Kappen heben. Einer hält einen Topf auf den Knien.

Und dann schlendern doch noch zwei Kinder heran. Sie tragen rosarote Schulranzen auf den Rücken und schwenken bunte Turnbeutel. Sie machen einen kleinen Bogen und sagen: „Tach."

Die Bänke vor den Häusern sind leer. Früher haben dort die Alten gesessen und jeden angesprochen, der vorbeikam. Wahrscheinlich haben sie sich das abgewöhnt, weil ja doch niemand mehr stehen bleibt und Zeit hat, sich alte Geschichten anzuhören. Auch Frauen in Kittelschürzen sieht man nicht mehr. Mit vor der Brust verschränkten Armen standen sie früher zusammen und tauschten ihre Neuigkeiten vor dem Bäckerauto. Sie waren die Tanten aller Kinder im Dorf: Tant Hedi, Tant Hildegard, Tant Hanna, Tant Annchen, Tant Rita. Die Männer hießen ähnlich: Onkel Fritz, Onkel Heinz, Onkel Jupp, Onkel Karl, Onkel Pitter. Undurchschaubar für Außenstehende. Die Jüngeren haben damit aufgehört. Die Kinder dürfen sie jetzt mit Vornamen nennen, was praktischer ist.

Ein Jugendheim, drei Kaufläden und drei Wirtshäuser hat es mal gegeben. Das war, als die Kirche noch im Dorf stand. Das Jugendheim hat man abgerissen. Aus der Schule ist ein Gemeindehaus geworden. Die Kaufläden sind geschlossen. Die Kneipen sind zu. Die Männer gehen nach der Arbeit nach Hause und der Frühschoppen am Sonntag ist abgeschafft. Die Frauen warten auch nicht mehr mit dem Mittagessen. Kirchenchor, Sportverein und Feuerwehr organisieren ihre Treffen jetzt selbst: sommers in der Grillhütte, winters im Gemeindehaus. Es gibt da noch etwas. Von der Haupt straße aus in westlicher Richtung blubbert ein Drees. Die Ränder sind rot von der Kohlensäure und dem Eisen, auch das Rinnsal, das vom Brunnen aus in den Bach fließt, ist rot. Manchmal platzen Wasserblasen mit dumpfem Knall. Ein Dreesmännchen, uralt und hutzelig, mit blauem Hut, hat früher unten gesessen und Blasen heraufgeschickt. Man brauchte nur Geduld. Es zeigte sich nicht gerne. Es wohnte dort, wo die Tiefe schwarz und noch nie ein Mensch hingekommen ist, nicht einmal die Feuerwehrleute, die jedes Jahr den Brunnen reinigen. Die Blasen im Drees sind allerdings schwächer geworden. Mag sein, dass sich das Männchen davongemacht hat, weil es den Lärm und die Erschütterungen, die vom Berg kommen, nicht mehr ausgehalten hat.

Wir haben nämlich auch noch einen Berg. Einen besonderen Berg. Einen aus Lava und Basalt, wo einst Wünschelruten ausschlugen und magische Kräfte aufspürten. Ganz oben trug er mageres Gras und wer ein bisschen in der Erde schürfte, fand Katzengold und versteinerte Muscheln, Schnecken, Seelilien, manchmal zu Stein gewordene Fische. Früher wucherte Hasel - und Berberitzengebüsch an den felsigen Hängen, auch Roßlauch, Heilwurz, seltenes Blaugras, breitblättriger Stengelwurz, schwarze, saftige Brombeeren, die die Zunge färbten. Immer roch es nach Sommer, warm und würzig, oft nach wildem Thymian. Der viel blutige Weißwurz saß im Gras und nickte mit den runden Köpfchen. Höhlen gab es, vor Urzeiten gegraben, mit seltsamen Schriftzeichen auf den felsigen Wänden, über die Moose und Farne krochen und bizarre Käfer mit metallisch glänzenden Rücken. Kinder spielten Winnetou; die Großen entfachten an Sommerabenden Lagerfeuer, spielten Gitarre und verzogen sich paarweise ins \ Gebüsch. } Im Frühjahr und im Herbst rasteten nächtens die Haolegäns / auf den Bergwiesen, blieben ein, zwei Stunden und waren morgens verschwunden. Das ganze Jahr schrien Krähen und Dohlen. Bussarde kreisten in der Luft. Im jGras konnte man lie-•' gen und beobachten, wie sie sich in den Himmel schraubten. Schön war es dort. Heute steht von unserem Berg nur noch die Fassade. Unermüdlich fressen sich Bagger ins vulkanische Gestein. Wer die Fassade hinaufklettert, hat bald die Grube zu Füßen. Wie der Blick in einen i geöffneten Körper auf einem OP-Tisch ist das. Entblößt liegen die einst verborgenen Erdschichten. Da, wo der Bagger noch nicht war, leuchten die Farben des Gesteins orange, braun, rot. Loren und Förderbänder stehen bereit. Solche Erde wird es hier nie mehr geben. Jahrmillionen kann man darin lesen. Der größte Teil ist bereits ausgeräumt.

Längst sind die Höhlen verschwunden. Auch die Felsen, das Gebüsch, der wilde Thymian. Zum Heulen ist das.

In der Zeitung steht, der Berg weicht dem Bagger. Als ob der Berg ausweichen und an anderer Stelle weitergehen könnte. Der Bagger ist gelb. Er arbeitet schnell und gründlich. Früher wurde dort, wo jetzt die Grube ist, jedes Jahr auf Christi Himmelfahrt ein neuer Schützenkönig ausgeschossen. Im Staub des Berges standen die Schützen in ihren steifen Uniformen vor blühendem Ginster, prüften die Gewehre, hoben sie ans Auge, zielten in den Himmel, der immer so blau war wie mancher Schütze schon am hellen Nachmittag. Fahnen wurden entrollt, Zielscheiben an den Felsen befestigt. Immer, wenn einer anlegte und Schüsse widerhallten, ging eine Tafel mit der Zahl der getroffenen Ringe hoch, stets begleitet von Lärm, Pfiffen, Rufen und Bier. Das dauerte so lange, bis der neue König feststand und alles singend in die Wirtshäuser zog.

Am Jüngsten Tag, sagte mein Vater, treffen wir uns alle oben am Berg. Am Jüngsten Tag. Das ist, wenn die Erde bebt, der Himmel bricht, die Gräber umgedreht, die Seen ausgegossen werden und die anderen Berge wie Wollbüschel davonfliegen. Damals, als er das sagte, habe ich sie alle vor Augen gehabt: Tant Gretchen, Tant Zilla, Tant Annchen, Korle Walter und Christa, Backes Jennes, Tunnen Usch, Leuwer Pitter, Pannen Hedi, auch Berni, den Küster. Alle erwartungsvoll, in Sonntagskleidern und dunklen Anzügen, Hüte auf den Köpfen, mit umgehängten Handtaschen und Koffern zwischen den Beinen. Wir mittendrin, geschultert das Gepäck, Ausschau haltend nach dem Kommenden. Was aber, wenn das Jüngste Gericht eingeläutet wird und wir den Berg nicht mehr haben? Wenn der Berg von Baggern gefressen ist, die Lava nach China verschifft und die Felsen zertrümmert sind? Wenn die Vögel am Berg keine Nester mehr bauen und die Pflanzen keinen Grund mehr finden, in den sie ihre Wurzeln senken können. Die Vögel werden weniger, sagt meine Mutter. Sie sagt es, da ist der Berg schon halb tot. Mehr sagt sie nicht.