Tagebucheintragungen eines Lebensbaumes (Thuja)

Gaby Schmidt, Mehren

Ich stehe nun schon über 30 Jahre hier im Garten und habe mich in all den Jahren mit der Erde fest verwurzelt und kein Sturm hat mich bis jetzt hernieder geworfen.

Ich erinnere mich noch genau an den Tag, wo ich als ganz junger Baum in die feuchte Erde eingepflanzt wurde. Es war Herbstzeit. Sie trug mich aus der Gärtnerei, wo ich unter vielen jungen Bäumen mein Dasein fristete, stolz und glücklich zu ihrem Zuhause, wo ich fortan auch meine Heimat fand. Sie grub ein doppelt so großes Loch aus wie mein Erdballen war und goss reichlich Wasser dazu. Dann setzte sie mich ganz behutsam in die ausgehobene Mulde und bedeckte mich mit der krümeligen aber feinen Humuserde. Jeden Tag gab sie mir von dem klaren frischen Wasser zu trinken. Meine Wurzeln wurden stark und kräftig und der kommende Winter mit seiner Eiseskälte und dem Schnee konnte mir nichts anhaben.
Ich fühlte mich sehr wohl bei ihr und zeigte es ihr, indem ich von Jahr zu Jahr an Größe zunahm. Meine schuppenförmigen Blätter sind inzwischen mit unzähligen kleinen Zapfen übersät, die im Winter als Nahrung für die einheimischen Vögel, wie die lieblichen Blau- und Kohlmeisen oder die wunderschönen Gimpel aber auch für Amseln und Drosseln oder Sperlinge dienen. Diese suchen auch Unterschlupf zwischen meinen dicht gewachsenen Ästen vor Schnee und Regen. Vor einigen Jahren hat in meiner Krone ein Amselpärchen genistet. Darüber war ich natürlich zutiefst erfreut. Denn zu sehen und zu spüren, wie neues Leben entsteht, ist doch das Schönste was ich mir vorstellen kann. Aber Nachbars Katze war auch erfreut über den Nachwuchs und versuchte, an meinem Stamm bis in die Krone zu klettern. Dieses Manöver blieb natürlich nicht unbemerkt und meine Besitzerin war außer sich vor Zorn. Sie unternahm alles Mögliche, um den Kater zu verscheuchen. Aber dieser war hartnäckig.
Zu guter Letzt musste sie einige untere Äste an meinem Stamm abschneiden, um ein Drahtgeflecht anzubringen. Nun konnte keine Katze, kein Marder oder sonst ein auf kleine Vögel lechzendes Tier ihnen mehr gefährlich werden. Das hatte sie gut gemacht und ich verzieh ihr das Abschneiden der Äste. Ich sehe sie oft auf ihrem Balkon stehen und dann schaut sie ganz versonnen zu mir herüber und lächelt mir zu.

Dann könnte ich einen großen Sprung machen, wenn ich nicht so fest in Mutter Erde stehen würde. Ich mag sie und sie mag mich. An meinen Jahresringen kann man erkennen, wie alt ich in Wirklichkeit bin. So lange ich lebe, lege ich jedes Jahr einen neuen Jahresring hinzu. Jeder Ring könnte so manches berichten, was sich im Laufe meines Erdendaseins ereignet hat. So ist in den ersten Jahren meines Lebens nicht allzu viel Aufregendes geschehen. Die Jahreszeiten wechselten und ich stand immer noch am gleichen Ort. Doch in einem Jahr, ich glaube es war mein 10. Lebensjahr, bekam ich einen Nachbarn. Ein Walnussbaum gesellte sich zu mir und wir wurden gute Freunde.
Wir tauschten uns gegenseitig aus und erzählten uns lustige Geschichten über die Menschen. Sie sind wirklich manchmal etwas eigenartig, das muss einmal gesagt werden. So war unsere Nachbarin immer emsig dabei, jedes einzelne Unkräutchen aus ihrem englischen Rasen zu rupfen. Bei so viel Unverständnis musste ich manchmal meine Krone hin und her schütteln und meine Besitzerin meinte dann: „Ach, es kommt wieder Sturm auf!", und schloss schnell alle Fenster und die Balkontür. Doch mein Freund, der Walnussbaum, musste gefällt werden, weil er zu groß wurde und die Wurzeln schon auf das Wohnhaus zugriffen.
Das machte mich sehr traurig und meine Äste hingen schlaff herunter. In diesem Frühjahr trug ich auch kaum Früchte. Doch zu meiner Freude pflanzte sie ganz in meine Nähe auch eine Thuja. Sie ist natürlich noch lange nicht so groß wie ich. Aber ich kann mich mit ihr unterhalten, liegen wir doch eigentlich auf gleicher Wellenlänge. Manchmal hat sie keine Lust zu kommunizieren, dann dreht sie ihre Krone einfach in eine andere Richtung, was so viel heißt wie - lass mich in Ruhe! In dem kleinen Teich, der direkt neben mir angelegt wurde, tummelt sich allerlei Getier. Es ist ein naturnaher Teich, kein Zierteich mit Fischen. In diesem Jahr konnte ich sehr gut beobachten, wie die Libellen ausschlüpften. Die Larven kamen aus dem Wasser und an den großen Stielen der Wasseriris klammerten sie sich fest, bis sie auskrochen. Dann ließen sie sich noch von den Sonnenstrahlen trocknen und flogen davon. Sie kommen aber wieder und legen ihre Eier im Teich ab.
Dann gibt es nächstes Jahr Zuwachs, neues Leben. In diesem Sommer, der sehr heiße und schwüle Tage und Nächte mit sich brachte, hatte ich auch zu kämpfen. Ich wartete, wie die Menschen, auf Regen. Doch es war auch sehr schön, mit ansehen zu können, wenn bei sternenklarer Nacht im August die Sternschnuppen vom Himmel fielen. Die Menschen wünschen sich dann etwas und meinen, es ginge in Erfüllung. Ich habe da so meine Zweifel. Aber mich fragt ja niemand. Manchmal kitzeln mich die Sonnenstrahlen und ich muss leise lachen und meine Äste bewegen sich dann.
Doch natürlich ahnt niemand etwas davon. Es wäre sehr schön, wenn Menschen und Bäume sich untereinander verständigen könnten. Es könnte so manches Missverständnis aus dem Weg geräumt werden oder überhaupt nicht auftreten. Dies ist nun vorläufig mein letzter Eintrag. Ich habe Todesangst ausgestanden, weil ein Bekannter meiner Besitzerin meinte, dass ich doch viel zu groß gewachsen sei und ein Stück gekürzt werden müsste. Und eigentlich müsste ich ganz weg, weil ich ihr die schöne Aussicht auf ihren Heimatort nehmen würde. Aber da hatte er die Rechnung ohne sie gemacht. „Es ist mein Baum, mein Lebensbaum", sagte sie. „Ich habe ihn gepflanzt als er klein war und ihn wachsen sehen. Er bleibt stehen. Mich stört er nicht, denn ich mag ihn!" Das machte mich sehr glücklich und ich glaube, ich bin wieder um einiges gewachsen. Übrigens kann ich bis zu 180 Jahre alt werden.