Eine Linde schreibt Dorfgeschichte

Adeltraud Caspers, Trier

Seit meiner frühen Kindheit geht der Blick aus unserem Küchenfenster zu dem sogenannten Lindenbaum. Er steht am Anfang des Ortes, etwa 20 Meter von unserem Haus entfernt, auf dem von den Dorfbewohnern genannten Wosem, wie auch die Ortsbezeichnung der anliegenden Häuser heißt. Der Lindenbaum hat das stolze Alter von 105 Jahren. Das hat bisher noch kein Dorfbewohner erreicht! Er kennt die guten und schweren Zeiten in seinem und unseren Leben.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert und beginnenden 20. Jahrhundert erlebten das Deutsche Kaisertum und die Kaiserverehrung eine starke Blütezeit, sowohl im Deutschen Reich, als auch in Österreich. Oft wurden Kaiserlinden gepflanzt, besonders im ländlichen Raum, weil man sich aufwändige Bauwerke nicht leisten konnte. Sehr beliebte Pflanzdaten waren die Erinnerung an den Geburtstag bzw. Todestag Kaiser Wilhelms I., die Inthronisation Kaiser Friedrichs III. und vor allem das Jahr 1913, das 25-jährige Regierungsjubiläum von Kaiser Wilhelm II. Anlässlich dieser bedeutenden Daten wurde der Lindenbaum in Mosbruch in Anwesenheit der Schulkinder von Uess und Mosbruch an seine Stelle gepflanzt! Seine „Urkunde" in Form eines Lavasteines mit der Jahreszahl 1913 steht bis heute aufrecht wie der Baum in der Erde. In seinen ersten Jahren 1914-1918 erlebte er den ersten schweren Sturm, den Ersten Weltkrieg, in den viele junge Männer eingezogen wurden und einige gefallen sind. Zwanzig Jahre später erlebte er den zweiten schweren Kriegssturm. Es wurden viele noch sehr junge Männer zur Wehrmacht eingezogen.

Ich erinnere mich noch genau an zwei sehr junge Burschen, die vor ihrem Abschied ihre Namen P.H. und N.C. in die Rinde der Linde einritzten. Wir Kinder schauten dabei zu und lasen noch oft die Namen: PETER HEINZ und NIKLA CASPERS. Beide kehrten nicht mehr in die Heimat zurück!

Bei einem Bombenangriff auf unser Dorf explodierte ganz in der Nähe der Linde eine Bombe und riss einen tiefen Krater. Der Lindenbaum überlebte!

Der Baum hat eine stattliche Höhe und Dicke entwickelt und wirft vom Frühvormittag bis zum Nachmittag heute noch einen angenehmen Schatten auf unser Haus und unseren Hof. Die Aufmerksamkeit ist besonders in der Lindenblütenzeit groß, wenn er seine Schönheit zeigt. Durch die zentrale Lage des Baumes gewann der Platz immer mehr an Bedeutung. Er war Ort für Gemeindeversammlungen, Mitteilungen der Nachkriegsbesatzung und Amtsverwaltung sowie Sammelstelle für Milchkannen, die von Hanni aus Boos zur Molkerei gebracht wurden. Diese Geräusche rund um die Milchkannen habe ich als Kind gehört und noch in guter Erinnerung. Im Sommer wurde im Umkreis des Baumes gedroschen, die ganze Familie und die Nachbarn halfen mit.

Der Baum erlebte auch frohe Ereignisse. Der damalige Jagdpächter aus Köln spendete für alle Dorfbewohner Freibier. Das Ganze wurde ein richtiges Volksfest. In späteren Jahren wurde im Schatten des Baumes ein Kinderspielplatz errichtet.

Auch heute erlebt der Baum jedes Jahr sein neues Sprießen, seine Blüte und sein Blättersterben. Heute ist unter seiner Krone ein Treffpunkt für die verschiedensten Gelegenheiten sowie eine Haltestelle für Busse. In den letzten 30 bis 40 Jahren hat die Dorfstruktur ein verändertes Bild angenommen. Viele neue Häuser wurden gebaut, andere wurden umgebaut, leerstehende Häuser wurden an neu zugezogene Bewohner verkauft, andere Häuser wurden sogar abgerissen. Diese Veränderung bezog sich auch auf die Dorfbewohner. Kinder wurden geboren, junge Menschen veränderten ihren Wohnsitz durch Heirat oder Beruf. Viele gingen der ewigen Heimat entgegen und bleiben in unserer Erinnerung. Die Zeit schreitet immer weiter voran, die Linde aber möge noch über viele Generationen wachen und die Geschichte in ihrem dicken Stamm, wohl geschützt von ihrer harten Rinde, bewahren und noch viele Generationen überdauern. Mag sich VIELES im Laufe der Jahre verändert haben, EINES ist für mich geblieben: DER BLICK AUS DEM KÜCHENFENSTER ZU UNSEREM LINDENBAUM.