Als für Gerolstein das Unheil von oben kam

Wilma Herzog, Gerolstein

Im Advent 2004 bat ich meine Tante Klara Eis, geb. Mertes, mir ihre Erinnerungen an Heiligabend 1944 zu schildern. Sie meinte, es sei nicht klug, sich das anzutun, sie sei 89 Jahre alt. Mein Einwand, wir Deutsche hätten aber auch ein Recht, das uns Zugefügte festzuhalten. Denn wenn Zeitzeugen nicht darüber berichteten, könnte man glauben, das alles sei nie geschehen! Dieser Einwand überzeugte und sie begann.

Heute ist der 2. Januar 2004. Vor genau 59 Jahren war es, als das große Unheil von oben kam. Ich frage mich, warum ich mir das antue, mein Innerstes mit den schrecklichen Erinnerungen aufzuwühlen, denn dadurch werde ich diese Nacht nicht zum Schlafen kommen. Aber die Zeit drängt, denn in wenigen Monaten werde ich 90 Jahre sein und weiß nicht, ob ich das dann noch schaffe. An Weihnachten 1944 hatten wir Besuch eingeladen, meine verheiratete Schwester Lenchen mit ihren vier Kindern. Weil mein Schwager an der Front war, wollten wir ihr und den Kindern, daheim in der Eifel ein schönes Fest nach alter Tradition mit dem Besuch der Christmette und ein paar liebevoll selbst gefertigten Überraschungen bieten. Es war anderenorts für uns eine andere Weihnachtsüberraschung vorgesehen: Die Bombardierung Gerolsteins mit Sprengbomben und Luftminen.

Der Luftdruck der Bomben riss im Haus sämtliche Türen und Fenstern samt Rahmen und Scharnieren fort. Von draußen kam Schutt hereingeflogen und bedeckte alles. Die Teller mit den selbstgebackenen Plätzchen waren voll mit Glassplittern.

Wir halfen meiner Mutter die Fensteröffnungen mit Brettern zu vernageln, denn es herrschte eisige Kälte. Mit sieben Personen drängten wir uns schließlich in ein einziges durch das Vernageln des Fensters, dunkles Zimmer. Auf meine Einladung war auch noch eine kürzlich ausgebombte Kollegin vom Fernmeldeamt bei uns.

Ab Heiligabend gab es nirgendwo mehr Strom und fließendes Wasser. Für Mensch und Vieh trugen wir über Wiesen und Felder das Wasser vom Wasserbehälter an der Gerolstraße, über uns die kreisenden Jagdbomber, die versuchten uns zu treffen. Unterwegs bei den Laufgräben kamen wir jetzt öfter an tödlich getroffenen Soldaten vorbei, die noch nicht weggeschafft worden waren. Nachrichten gab es nur von durchziehenden Soldaten. Und das waren jetzt nur noch Verlustmeldungen. Keine Nacht fand man Ruhe. Tags, wenn wir nicht bombardiert wurden, jagten Jabos kreuz und quer durch die Luft, stürzten sich im Tiefflug auf alles, was sich bewegte, schossen lange knatternde Salven aus ihren Bordkanonen und zogen danach erneut ihre todbringenden Runden. Die Bewohner verließen darum tagsüber ihre Häuser nur im äußersten Notfall, zum Wasser holen oder zu ihren Verstecken in Felshöhlen oder Waldunterständen.

Bei uns daheim gab es keinen starken Mann, der uns im Wald ein Loch hätte graben können, mit Balken und Brettern darüber und einer Schicht Sand, also einen Unterstand, in dem wir wenigstens vor Wind und Schnee sicher gewesen wären.

Aber mein Vater war längst tot und meine vier Brüder und zwei Schwäger waren zum Kriegsdienst eingezogen.

So blieb Mutter und uns drei Schwestern nichts anderes übrig, als mit den vier kleinen Kindern in den Wald zu gehen. Dort liefen wir umher in Schnee und Kälte und trugen abwechselnd die Kleinsten auf dem Arm oder Rücken. Wir hörten das Getöse der Angriffe und trauten uns erst am späten Nachmittag, bedrückt und voller Sorgen auf den Heimweg. Am 29. Dezember 1944 war wieder ein schwerer Angriff erfolgt. Wir waren noch im Wald, als uns Flüchtende und Hilfesuchende entgegen kamen. Von ihnen hörten wir, dass es diesmal die Familie H. besonders getroffen habe. Nur noch ein einziger rauchender Schutthaufen sei von Haus, Stall und Scheune übriggeblieben. Drei ihrer Kinder lägen unter den Trümmern. Es gäbe kaum Hoffnung für sie. Mitten im Bericht hörten wir markerschütternde Schreie. Es war Frau H., sie war völlig außer sich und lief Richtung Gerolstein. Die verzweifelten Schreie dieser Frau kann ich nie vergessen. Sie verlor an diesem Tag im Bombenhagel ihre drei Kinder. Die Töchter waren 19 und 23, der Sohn 22 Jahre alt. Auch der Januar 1945 brachte Gerolstein weiter Unruhe und Gefahren. Am 2. Januar bereiteten wir uns wieder einmal mit den Kindern vor auf einen eisigen Tag im Wald. An diesem Morgen entschloss sich meine Schwester Gretchen, erst kurz verheiratet, nicht mit in den Wald, sondern in den Eisenbahnstollen am Kasselburger Weg zu gehen. Dieser war zwar noch nicht fertig, aber die Menschen fühlten sich bislang bei den Bombenangriffen darin sicher. Ich wollte unbedingt mit. Denn ich wünschte mir nichts sehnlicher, als endlich wieder einmal trockene und warme Füße zu haben. Meine Füße waren durch die Nässe und Kälte der vorausgegangenen Tage im Wald derart von Frostbeulen geschwollen, dass sie nur noch in die Schuhe meines verstorbenen Vaters passten. In wärmenden Pantoffeln wollte ich beim Licht einer Laterne den Tag über im sicheren Stollen sitzen. Doch ich wurde eindringlich davor gewarnt. Der Stollen sei nahe der Bahn und die sei ganz sicher auch ein Ziel der feindlichen Angriffe. Außerdem habe der Stollen nur einen einzigen Zugang.

So wurde aus den trockenen Füssen für mich an diesem Tag nichts, und ich machte mich stattdessen, meine kleine Nichte auf dem Rücken, mit den anderen wieder auf den Weg in den Wald. Um die Mittagszeit hörten wir das Herandröhnen der Bomberformationen und die Detonationen der Bomben. Danach zogen die Jabos ihre todbringenden Runden, jetzt würden sie wieder auf die Hilfskräfte zielen, die Verschüttete bargen oder Feuer löschten. Wer waren diesmal die Opfer? Als wir es endlich wagten, den Wald zu verlassen, kamen uns Leute entgegen, die berichteten, dass eine Bombe den Eingang des Eisenbahnstollens getroffen habe. Meine Mutter schwankte, wir mussten sie in den Schnee setzen.

Jetzt lief ich in Panik, wie Frau H. ein paar Tage zuvor, ins brennende Gerolstein hinein. Am Kasselburger Weg war kein Stolleneingang mehr zu erkennen. Hinter dem Geröll, tief im Berg war jetzt meine Schwester mit den anderen. Ob es darin genug Luft gab zum Atmen? Die Helfer waren eilends dabei mit Spitzhacken und Schaufeln sich einen Durchgang zu den Verschütteten zu schaffen. Doch immer wieder rutschte Geröll nach und machte ihre Arbeit zunichte.

Völlig verzweifelt ging ich heim und musste meiner Mutter und den anderen, die gerade daheim ankamen, von den vergeblichen Versuchen berichten.

Erst am Tag darauf gelang es Soldaten einer Spezialeinheit von einer anderen Richtung einen Stollen in den Berghang zu treiben, von wo sie die Verschütteten bergen konnten. Bis auf einen Überlebenden waren alle anderen tot. Einundfünfzig Menschen waren qualvoll erstickt. Unsere Schwester Gretchen war unter den Toten, die man in den ausgebrannten Güterschuppen nebeneinander legte. Viele der Toten kannte ich. Einige waren Kollegen von der Post, andere von der Bahn, es waren Gerolsteiner Ehepaare und Kleinkinder aber auch kriegsgefangene Russen dabei und deutsche Soldaten.

Der Anblick erschütterte mich zutiefst, während ich meine Schwester unter ihnen suchte. Ich fand Gretchen, legte sie auf den Schlitten und band sie darauf fest. Dann zog ich sie durch die zerstörte Stadt hinauf in die Burgstraße nach Hause. Wir wohnten in der Nähe des Pfarrhauses und waren gut bekannt mit Dechant Molter. Da es schon lange keine Särge mehr gab, schenkte er meiner Mutter einige Bretter. Mit Matthias Clemens, der das Schreinerhandwerk erlernt hatte, machte meine Mutter eine Art Sarg daraus. Matthias sah, dass es über die Kräfte meiner Mutter gehen würde, darum legte er meine Schwester in diese roh gezimmerte Kiste und versprach, sie mit dem Schlitten hinauf zum Ehrenfriedhof zu bringen und zu beerdigen. Wie er uns später berichtete, bot sich ihm dort ein erschütternder Anblick: Da stand der Pferdewagen von Josef Schildgen (später Ortsbürgermeister). Darauf lagen, gestapelt wie Holzscheite, die fünfzig anderen Toten so wie sie aus dem Stollen herausgenommen waren und im Güterschuppen gelegen hatten.

Für sie wurde ein langer Graben ausgehoben. Matthias Clemens blieb bis der Graben tief genug ausgehoben war. Dann stellte er den Sarg meiner Schwester hinein. Jetzt legten die Helfer schweigsam die anderen hinein, einen Leichnam neben den andern. Danach wurden sie mit Erde zugedeckt. Immer noch gab es Angriffe und Ja-bobeschuss, als zwei Wochen danach mein Schwager, Herbert Ehlert, als Marinesoldat auf Fronturlaub in unser beschädigtes Elternhaus kam. Es war leer. Er hörte von Nachbarn, wir liefen Schutz vor Bomben suchend im Wald umher. Er konnte nicht fassen, dass wir noch lebten, seine geliebte junge Frau Gretchen aber auf schreckliche Weise im Stollen umgekommen war. Kurz darauf musste mein Schwager an die Front zurück, er kehrte nicht wieder zurück ...

Diese Schilderungen haben mich viel Kraft gekostet. Aber meine Nichte drängte mich, zu berichten wie es damals war. Im Osten wird es schon hell, der Morgen kommt schon. Ich habe jetzt eine Kerze angezündet für meine Schwester und die anderen alle. Seit dem Herbst 2003 gibt es ein Denkmal, oben am Kasselburger Weg in Erinnerung an das Stollenunglück und die Toten. Es ist gleichzeitig die Aufforderung, wachsam zu sein, dass derartig Furchtbares nie mehr passiert.