Ein dramatisches Nachkriegserlebnis in der Vulkaneifel

Manfred Schmitz, Flußbach

Es geschah in Schalkenmehren, im Jahr 1946 - gerade mal ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Meine Eltern und wir drei Geschwister im Alter von 3, 5 und 9 Jahren bewirtschafteten einen kleinen Bauernhof in der heutigen Maarstraße (Haus von „Baltes Nikla").

Während viele Dörfer der Eifel von Bombenangriffen der Alliierten verschont geblieben waren, waren fast alle deutschen Städte zerstört worden. Deutschland lag am Boden: Industrie, Handel und Verkehr waren praktisch ausgelöscht. Aber zäher Wille und die hohe Fähigkeit der Deutschen zur Improvisation sorgten dafür, dass es weiterging. Da die damalige Währung, die Reichsmark, so gut wie nichts mehr wert war, entstand im Nu eine Schattenwirtschaft, ein florierender Schwarzmarkt. Ohne Naturalientausch ging nichts mehr. Aus unserer bescheidenen Landwirtschaft mussten wir über unseren Eigenbedarf hinaus noch Milch, Butter, Mehl, Eier und Fleisch erwirtschaften, um Schmied, Bäcker, Schuster und Schneider damit entlohnen zu können und auf dem Schwarzmarkt Geräte, Ersatzteile, Kleidung oder gar ein Fahrrad oder Spielzeug einzutauschen. Es war ein hartes, karges Leben und Kinderarbeit war selbstverständlich wie notwendig. Zum Glück musste die bäuerliche Bevölkerung keinen Hunger leiden, wie z. B. die Dauner Stadtbevölkerung, die sich ihre Nahrung auf den umliegenden Dörfern erbetteln oder über Naturalientausch beschaffen musste.

Die Vulkaneifel gehörte damals zur französischen Besatzungszone. In Daun übernahm eine französische Militärverwaltung die Verwaltung, Infrastruktur und Gerichtsbarkeit des Kreises Daun. Auch in unserem kleinen Dorf Schalkenmehren war das französische Militär präsent: Eine mit 7 Soldaten besetzte „Kommandantur", die in der Bäckerei Lenerz untergebracht war, kontrollierte das Dorfleben und verhörte - auch unter Gewaltanwendung - die nach und nach heimkehrenden ehemaligen Soldaten des Dorfes. „Ob der Berchbreck" (große Kreuzung unterhalb der Kirche) stand ein so genanntes Schilderhäuschen, das Tag und Nacht mit einem bewaffneten Soldaten besetzt war. Zusätzlich gingen oder fuhren unregelmäßig Militärstreifen durch den Ort, denen nichts entging.

Für die Versorgung der französischen Besatzung mussten die einzelnen Gehöfte rundum Vieh abliefern. Dies traf die kleinen Bauern hart, so auch meinen Vater, der die „dickste" von unseren vier Kühen abgeben musste. Die damals üblichen „Hausschlachtungen" mussten angemeldet werden; „Schwarzschlachtung" wurde mit Gefängnis bestraft. Außerhalb des Ortes war nur Feldarbeit erlaubt. Selbst das Einsammeln von Bucheckern und Eicheln im Wald war verboten, aber wir machten es trotzdem heimlich. Während die französische Militärverwaltung Holz in großen Mengen in Fronarbeit einschlagen und abtransportieren ließ, wurde der Einschlag von Brennholz für den Winter im Gemeindewald streng rationiert. Und weil Waffenbesitz und die Jagd auf Wild verboten waren, vermehrten sich die Wildschweine derart stark, dass sie die Getreide- und Kartoffelfelder plünderten und sogar in die Gärten der Dörfer eindrangen. Um die Felder zu schützen, wurden in der Flur provisorische Hütten aus Stangen und Ginster errichtet, in denen die männlichen Jugendlichen um die Erntezeit abwechselnd Nachtwache hielten und die Wildschweine mit Klappern und Rufen vertrieben. Es war an einem Herbsttag im Jahre 1946, der sich so tief in mein Gedächtnis eingebrannt hat, dass ich ihn erinnere, als sei er gestern erst gewesen: Mein Vater hatte beschlossen, Bauteile, Achsen und Reifen für den Eigenbau eines „Gummiwagens" (Ackerwagen mit Gummireifen) und sonstige Geräte auf dem Schwarzmarkt zu beschaffen. Dazu musste man an die „richtigen" Leute rankommen. Onkel „Pitter", der mit seiner Familie in Köln Hunger litt, kannte „richtige Leute", knüpfte Verbindungen und machte den Termin für die Lieferung fest. Die Kommunikation über „Mittelsmänner" - eine Art Mafia - war hoch kompliziert und geheim. Da es keine privaten Telefonanschlüsse im Ort gab, erfolgte sie mit Briefen oder über persönliche Treffen. Als Kaufpreis wurde eine Schlachtkuh vereinbart. Am Morgen des besagten Tages fuhr ein großer, Lastwagen - ein „Holzvergaser" - auf unseren Hof, der direkt an der Hauptstraße lag, auf der die französischen Patrouillen häufig verkehrten. Ein wortkarger, bärtiger Hüne im Boxerformat mit schwarzer Pudelmütze auf dem Kopf stieg aus, ging ins Haus und ließ sich von meiner total verängstigten Mutter einen Schlafplatz anweisen. Er schlief den ganzen Tag und ließ sich nur zwischendurch wortlos von meiner Mutter verköstigen. Währenddessen mussten wir, d. h. mein Vater und ich und Walter Siegmund, der von Beruf Schlachter war, unseren hochriskanten Auftrag erfüllen: Das bedauernswerte Tier - unsere alte, braune Kuh „Fuss" - wurde aus dem Stall durch einen Nebengang in die Scheunentenne geführt. Vater hielt sie fest, Siegmund musste sie mit einem Axtschlag auf den Kopf töten, weil ein Schussapparat wegen des lauten Knalls nicht verwendet werden konnte. Meine Aufgabe war das Blut aus der geöffneten Halsschlagader in einer Schüssel aufzufangen und zwischendurch in einen großen Eimer zu entleeren - keine Aufgabe für einen Neunjährigen! Aber das war damals üblich und selbstverständlich. Darum will ich meinen Eltern keinen Vorwurf machen. Das, was dann geschah, habe ich bis heute nicht vergessen: Der Axthieb auf den Kopf der Kuh führte nicht zum gewünschten Erfolg. Das bedauernswerte Tier knickte zunächst mit den Hinterbeinen ein, kam aber wieder hoch und torkelte in seiner Todesangst wild durch die Scheunentenne. Um ein Haar wäre „Fuss" durch das marode große Scheunentor nach außen durchgebrochen; dann wären wir aufgeflogen. In ihrem rasenden Todeskampf zerschlug sie mit ihren Beinen eine in der Tenne stehende „Fooch" - ein 2 Meter langes und 1,5 m hohes Gerät aus Sperrholz zum Trennen von Spreu und Getreide - bevor sie schließlich doch überwältigt und getötet wurde. - Ich würde heute noch alles drum geben, wenn ich unsere alte „Fuss" um Verzeihung bitten könnte, für das, was wir ihr angetan haben! Alles weitere wäre Routine gewesen, hätten wir nicht ständig panische Angst vor Entdeckung haben müssen. Ich mache es kurz: Walter Siegmund zerlegte die Kuh in große Teile, die er für den Abtransport bereit legte. - In der Abenddämmerung erwachte der unheimliche Fahrer des Lkw, aß noch mal kräftig und sprang dann wortlos auf die Ladefläche des Lkw auf, wo er das Feuer in dem hohen Rauchkessel hinter dem Führerhaus anzündete, der das Holzgas zum Betrieb des Motors lieferte. Es war ausgemacht, dass wir fünf große Säcke voll kleiner, absolut trockener Buchenholzstückchen für den „Holzvergaser" zu liefern hatten. - Als es dunkel war holte der Mann aus einem großen geheimen Schacht hinter dem Führerhaus die bestellten Teile hervor und übergab sie. Hastig wurden die Fleischstücke aus der Scheune geholt und angereicht; sie verschwanden mit einem Plumps im tiefen Geheimfach. Ich musste in dieser sehr kritischen Phase „Schmiere stehen" um rechtzeitig vor einer herannahenden Militärstreife oder sonstigen neugierigen Blicken warnen zu können. Alles ging gut, der Motor sprang mit hellem Heulen an und der Lkw verließ unseren Hof. Wir atmeten tief durch. Am darauffolgenden Tag ging das Gerücht um, am gestrigen Abend sei der in Mehren stationierte Landgendarm Gierden vom Fahrer eines Lkw mit einem schweren Schraubenschlüssel bewusstlos geschlagen worden als Gierden ihn angehalten habe. Er habe den Gendarmen liegen lassen und sich davongemacht. Nach der Beschreibung konnte das nur „unser Mann" gewesen sein, aber wir wussten natürlich von nichts. - Die Tat wurde in diesen wilden Zeiten nie aufgeklärt.