Kinder- und Jugendjahre in Gillenfeld

Eine unvergessen schöne Zeit

Günter Schenk, Gillenfeld

1950 in Gillenfeld geboren, bin ich heute 69 Jahre alt. Schaue ich zurück, so wird mir bewusst, in diesen wenigen Jahrzehnten insgesamt - aber speziell auch auf Gillenfeld bezogen - eine der größten Entwicklungen der Menschheitsgeschichte erlebt zu haben. Anfang der 50er Jahren lebte der Großteil der Gillenfelder von der Landwirtschaft; das oft mit Klein- und Kleinstbetrieben, die eher schlecht als recht den Lebensunterhalt erwirtschafteten. Einkäufe mit Butter und Eiern als Zahlungsmittel waren mangels Geld keine Seltenheit. Pferde, Ochsen, aber vorwiegend Kuhgespanne zogen die damals in der Regel noch eisenbereiften Ackerwagen, wie es seit Jahrhunderten üblich war. Autos gab es vielleicht eine Hand voll in Gillenfeld und zum Telefonieren ging man zur Post. Heute gibt es im Ort überhaupt keinen landwirtschaftlichen Betrieb mehr. Allerdings bestimmen die Aussiedlungsgehöfte mit ihren monströsen, in Größe und Stärke schier unerschöpflichen Zugmaschinen und Gerätschaften nach wie vor das Straßenbild. Heute herrscht uneingeschränkte Mobilität und jeder besitzt ein Auto oder ein sonstiges Fortbewegungsmittel.

Heute reden wir eigentlich kaum noch vom „Telefonieren", sondern es wird in vielfältiger Weise kommuniziert. Nicht nur Erwachsene und Jugendliche, sondern sogar die Kinder haben und benutzen ihre Smartphones, Ta-blets und Computer, mit denen man neben dem gesprochenen Wort, Texte, Bilder und alles mögliche übermitteln kann. Heute findet man in jedem Wohnzimmer Fernseher in Leinwandgröße, mit 1000 Programmen und ebenso vielen technischen Finessen. In Anbetracht dieser kaum vorstellbaren, ra-

santen technischen Entwicklung drängt sich heute die Frage auf, ob unsere Kindheit und Jugend ohne das alles nicht stink-langweilig war? Genau das Gegenteil ist der Fall! Betrachte ich mir die heute materiell völlig übersättigten Kinder und Jugendlichen, die Stunden lang hinter ihren Computern hocken, mailen und twittern, anstatt sich zu persönlich treffen und zu unterhalten, ja ohne die technischen Kommunikationsmittel überhaupt nicht mehr leben können, behaupte ich, dass wir die schönste Kindheit und Jugendzeit hatten, die man sich vorstellen kann. Zwar war mit den 50er Jahren die unmittelbare Nachkriegszeit vorüber, aber es war noch alles recht bescheiden. Und finanzielle Bescheidenheit - so wissen wir das heute - hat, wenn sie allgemein ist, große Vorteile. Der Mensch ist dann mit dem Wenigen was da ist zufrieden und weiß auch Kleinigkeiten zu schätzen.

So waren wir Kinder denn auch mit den wenigen, teils von den Eltern selbst gebastelten Spielsachen glücklich und zufrieden. Ohnehin waren wir die meiste Zeit draußen. Damals gab es viele Kinder im Dorf, so dass sich in jeder engeren Nachbarschaft Spielgemeinschaften bildeten. Was erlebten wir nun im Laufe eines Jahres, das nach unserem kindlichen Empfinden eine Ewigkeit dauerte?

Fangen wir im Frühjahr an. Kaum hatte sich der Winter mit Schnee und Eis verzogen und die Frühlingssonne lachte, kam Leben in die Straßen. Überall wurden „Klicker" (Murmeln) gespielt. Die breiten, unbefestigten Bürgersteige in der Holzmaarstraße1 waren hierfür geradezu prädestiniert. Während es bei den Jungs galt, die Klicker mittels „Ditsch" (grö-

ßere Kugel aus Glas oder Metall) aus einem auf die Erde gezeichneten Dreieck zu bringen, spielten die Mädchen lieber „Kejiltjes", wobei die Klicker in eine leichte Erdkuhle zu jonglieren waren.

An anderer Stelle bildeten auf die Erde gezeichnete quadratische Felder die Formation für Hüpfspiele („Heppes"), wobei die Hüpferei eher eine Domäne der Mädchen war. An dieser Stelle wäre einzuflechten, dass damals das gemeinsame Spiel zwischen Mädchen und Jungen eher die Ausnahme bildet. Es galt vielmehr die Parole: „Jungen beji Jungen, Mädja beji Mädja!"

Auch das Seilspringen forderte nicht nur mit kurzen Einzelseilen heraus, sondern es wurden lange Stricke von zwei Kindern geschwungen und der oder die Akteure sprangen in das sich drehende Seil.

Im Frühling setzte auch das „Band-fahren" ein. Fahrrädchen waren damals ein unbekannter Luxus - und so fuhren wir „Band". Mittels eines kurzen Holzstocks wurde ein leichter Eisenreifen bewegt, neben dem wir auf der Straße her liefen.

Geschickte Jungs ließen den „Dilldööp" (Kreisel) auf der Straße tanzen, der mit einer klei-

Der „Dilldööp" tanzt

nen Peitsche auf Touren gehalten wurde und Bewunderung erlangte auch, wer auf Stelzen einhergehen konnte. Auch beim konkurrierenden „Schippeln" (Abrollen) von „Bollonia-Rädchen" 2 war Geschicklichkeit gefordert. Könner schafften enorme Reichweiten.

Bollonia-Rädchen

Im Wonnemonat Mai wetteiferten wir mit dem schönsten „Maialtärchen" und der Handel mit Maikäfern florierte.

Ganzjährig waren Fangen- und Versteckspiele (Fänkes oder Verschtoppes) angesagt. Wir kannten „Räuber und Schandiz (Gendarm)" und „Gefahrmännchen". Auszählreime bestimmten den Fänger oder Sucher. Scheunen, Ställe, Schuppen usw. boten die raffiniertesten Verstecke, so dass ein Spiel lange dauerte, bis auch der Letzte an einer kaum vorstellbaren Stelle gefunden wurde. Beim „Fangenspiel" dürfen wir das „Feßjes-Fänkes" (Füßchen-Fangen) nicht vergessen. Hierzu diente die Treppe der Amtsverwaltung, die damals dem Gebäude vorgelagert, von beiden Seiten zu einem Podest hoch führte. Die Meute befand sich auf dem Podest und streckte ihre Füße/Schuhe unter dem Geländer hindurch dem auf dem Gehweg stehenden „Fänger" entgegen um sie dann schnell weg zu ziehen. Hatte dieser einen Fuß erwischt, wechselte er seine Position mit dem Getroffenen. Der bei dem Spiel entstehende Lärm störte die wichtigen Amtsgeschäfte und setzte dem Spaß meist durch die „Attacke eines Amtsschimmels" ein schnelles Ende. In den Sommermonaten war zwar bei vielen

Kindern die Mithilfe in der Landwirtschaft angesagt, trotzdem blieb immer noch Zeit um Häuschen zu bauen oder zum Zelten. Sie bestanden aus Bohnenstangen und alten Decken und ähnelten damit Indianer-Tipis. An einem verregneten Tag konnte es passieren, dass wir stundenlang im Zelt oder Häuschen hockten und in einem harten Konkurrenzkampf „Schauersand" produzierten. Diesem Prozedere dienten Sandstein-Bruchstücke, die wir scheuernd gegeneinander rieben. Der dabei gewonnene feine Sand, in Behältnissen aufgefangen, stellte eine Kostbarkeit dar. Tja, - Not macht erfinderisch! Wenn Angebote von außen fehlen, wird oft eine erstaunliche Kreativität an den Tag gelegt, um diese Lücke zu schließen.

So ließen wir uns auch von aktuellen örtlichen Ereignissen inspirieren: Hierzu zwei Beispiele: 1: Mitte der 50er Jahre wurde in der Holzmaarstraße der Straßenbelag verändert. Dabei erhielt das schöne Blaubasaltpflaster einen Überzug mittels Einstreudecke. Tagelang kratzten Bauarbeiter die Fugen zwischen den Pflastersteinen frei, ehe endlich die Teermaschine anrückte. In deren Bauch erhitzte ein Feuer Teerfässer, deren Inhalt gleichmäßig über das Pflaster gespritzt wurde. Mehrere Arbeiter streuten Splitt in den Teer, wonach das Ganze glatt gewalzt wurde. Kaum war die Baufirma abgerückt, setzte unsere „kleine Baukolonne" die Arbeiten fort. Ein Handwägelchen mit aufgebautem Fass war die Teermaschine, aus der mit einem Stück Schlauch symbolisch der Teer auf die zu befestigenden Flächen gespritzt wurde. Der Rest der Meute warf Sand hin und her bzw. zog eine alte Gartenwalze darüber. 2: Nachahmung fand auch die Erneuerung des Stromversorgungs-Freileitungsnetzes im Ort. Wie die Monteure der Rheinelektra hingen wir mit Stricken gesichert an Bäumen und Zäunen und spannten Leitungen in alle Himmelsrichtungen. Zum Zeitpunkt dieser Aktion fand sich in den umliegenden Scheunen kein einziges Seil mehr. Sämtliche Seile standen unter „Hochspannung".

Bei der Erwähnung von Strom und Leitungsnetzen fällt mir ein, wie wir telefonierten:

Sommer 1960

Zwei Konservendosen wurden mit einem dünnen Seil (Wurstkordel) verbunden, das jeweils am Dosenboden durch ein kleines Loch befestigt wurde. Wird das Seil stramm gehalten, übertragen sich die Schwingungen des sendenden Dosenbodens über das Seil auf die Empfängerdose. Allerdings brüllte der Sender meist so laut in die Dose, dass die eigentliche Übertragung über das Dosentelefon nicht zu hören war.

Gerne unternahmen wir auch Exkursionen zu den ortsnahen Wäldchen und später auch in unseren großen Wald, den „Dicken Büsch". Die hier gewonnene Nähe zur Natur verwurzelte sich nachhaltig in meinem Herzen. Natürlich reizten im Sommer die Gewässer der Gegend. Alfbach und Laubach waren nahe. Aber oft zog es uns zum Erlenfloss. Dort gab es bei der Wegefurt eine breite, seichte Stelle, die sich zur Jagd auf „Kouzekäpp"3 und Ellritzen anbot.

Später wurden auch die Maare erobert. Wir wollten und sollten schwimmen lernen. Die Gillenfelder zog es vor allem ans Pulvermaar mit seiner Badeanstalt. Unterdorf und Vorstadt waren jedoch am Holzmaar zu finden, in dem zu der Zeit auch baden durfte, das allerdings über keine Badeanstalt verfügte. Am Holzmaar fällt der Uferbereich seicht und flach ab, was dem Schwimmen lernen zugute kam. Zu erwähnen ist, dass vor dem Ausbau des Alfbaches auch in diesem geschwommen wurde und zwar vor allem in den Tümpeln der Bombentrichter des 2. Weltkrieges. Anziehend für uns waren stets der Bahnhof und der Bereich der Güterverladerampe. In unseren Kindertagen war Gillenfeld noch Bahnstation und noch einiges wurde an Gü-

tern mit der Bahn umgeschlagen. Neben Kohlen, Briketts, Holz und landwirtschaftlichen Produkten, wurde Nutz- und Schlachtvieh transportiert. Ganze Schafherden fanden den Weg per Bahn zu ihren Winterweiden an der Mosel bzw. kamen im Frühjahr von dort zurück. Das Ein- und Ausladen der Tiere war stets eine aufregende Sache. Wurde die hierfür gedachte fahrbare Rampe außerhalb von Verladezeiten nicht genutzt, war sie für uns eine große Schaukel.

Riesig war das Erlebnis, wenn wir in einer Dampflok beim Rangieren mitfahren durften. Zum Herbst gehörten die Kartoffelfeuer, in denen die frisch geernteten Kartoffeln gegart wurden. Ob verbrannt, oder halb roh, gegessen wurden sie stets mit großem Appetit. Mit dem Abschluss der Kartoffelernte kam der „Krumperendämper" (Kartoffeldämpfer) ins Dorf. Mehrere Bauern ließen mit dem Gerät, das einer Dampfmaschine glich, große Mengen Kartoffeln garen, die als Silage über Winter als Viehfutter dienten. Dabei gab es immer etwas zu sehen und zu erleben, wie auch wenn alsbald die Dreschmaschine von Scheune zu Scheune zog.

„Un Maxen-Hoff

Lag Militär im oder um das Dorf, waren wir natürlich mit unseren Vorwitznasen vorne dabei. Die Franzosen, als frühere Besatzer mit ortsnahen Garnisonen, waren recht häufig

präsent. So lernten wir Franzosen nur als Soldaten kennen und daher waren nach unserem kindlichen Verständnis Soldaten Franzosen. Daraus entwickelte sich folgende Kuriosität: Als 1955 die Bundeswehr gegründet wurde und anschließend deutsche Soldaten hier Manöver abhielten, waren das die „Deitsch Fran-susen", also Deutsche Franzosen. Überhaupt waren wir recht naiv und leichtgläubig. Erwachsene oder die größeren Jugendlichen konnten uns alles aufbinden. Mal rannten wir auf Etzerath, weil dort angeblich ein Flugzeug gelandet war, mal nach Strohn, weil dort ein Zirkus angekommen sein sollte. Na ja - unseren Beinen hat es nicht geschadet und irgendwann wurden wir auch klüger. Nach den herbstlichen Aktivitäten sehnten wir uns schon nach dem ersten Schnee. Hierfür musste jedoch erst das Laub von dem Bäumen fallen. Um den jahreszeitlichen Prozess zu beschleunigen, schlugen wir an den Straßenbäumen der Holzmaarstraße die Blätter mit langen Weidenruten herunter. Beim Schneiden der Ruten im nahen Weidenpesch, war sich vor dem „Schetz" (Feldhüter) in Acht zu nehmen. Ja - und kam er endlich, der Winter, der damals noch ein solcher war, bot er mannigfaltige Unterhaltung. Über Wochen und gar Monate herrschten Schnee und Eis. Es wurde Schlitten gefahren, bis wir uns vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten konnten. Die umliegenden Berge und Hügel boten Schlittenbahnen unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade. Beliebt war der „Bummelzug", bei dem mehrere Schlitten verbunden wurden und wobei es der Kunst des Lenkers auf dem vordersten Schlitten oblag, dass der Zug heil im Tal ankam.

Schneemänner standen in jedem Hof und wetteiferten in Größe und Aufmachung. In Schneehäuschen hockten wir auf Säcken und redeten uns ein, es sei gar nicht kalt darin. Auf langen Rutschbahnen schlitterten wir um die Wette. Natürlich zog es uns auch aufs Eis. Vor dem Ausbau des Alfbaches war in der Regel das Wiesental zwischen Gillenfeld und Strohn im Herbst überschwemmt und gefror im Winter zu Eisflächen mit ungefährlichen Tiefen. Für uns Kleine war das gerade richtig. Hier wurden die ersten Laufversuche auf Schlittschuhen

unternommen. Meist waren es über Generationen vererbte Exemplare, die unter die Schuhe geschraubt wurden. So erlernten wir die Technik, die später auf den Maaren beim Streckenlaufen oder Eishockeyspielen benötigt wurde. Gerne erinnere ich mich an die Winterabende vor Nikolaus und Weihnachten, an denen wir mit mehreren Nachbarskindern gemeinsam in einer Stube saßen, Weihnachtslieder sangen und beteten in der Hoffnung auf eine reiche Bescherung.

St. Nikolaus brachte keine großen Geschenke, aber auch nur ein Teller mit Plätzchen, Nüssen und Äpfeln erfreute unsere Herzen. Reichlicher deckte das Christkind den Gabentisch, auf dem auch Spielsachen zu finden waren. Und so wollte die Zeit von St. Nikolaus bis zum Weihnachtsfest einfach nicht vergehen. Umso größer war dann die Freude und das Staunen, wenn am Heiligen Abend der Weihnachtsbaum die Stube festlich erstrahlen ließ, wobei die Eltern es jedoch nicht versäumten, uns den eigentlichen Sinn des Weihnachtsfestes zu vermitteln und somit der Kirchgang an Weihnachten nicht fehlte.

Nicht unerwähnt darf bei meinem Rückblick bleiben, dass in großen Gemeinschaftsakti-

onen aller kleineren und größeren Jungs des Dorfes, das Holz für das Martinsfeuer aufgeschichtet wurde. Eine Aktion, die sich über mehrere Wochen zog und am Ende die Flammen eines riesigen Feuers auf der Kuppe der damals noch unbebauten Lay lodern ließen. Ebenfalls waren beim „Klappern" vor Ostern alle Jungen dabei, mit einem gemeinsamen Start am Berger-Heiligenhäuschen und einer nachfolgenden Aufteilung in die einzelnen Straßen.

Das alles brauchte damals noch keine Initiative seitens der Gemeinde oder der Hilfe von Erwachsenen.

Schließe ich nun quasi einen Jahreskreis aus unseren Kindertagen, so finden sich doch einige wehmutsvolle Erinnerungen zwischen den Zeilen: Erinnerungen an eine schöne, unbeschwerte Kindheit und Jugend in Gillenfeld im Kreise lieber Spielgefährten und Freunde in der wir eines nicht kannten: „Langeweile"!

1 Damals hieß unsere Straße noch nicht Holzmaarstraße. Gillenfeld hatte noch keine Straßennamen.

2 kleine, schwere Bakeliträdchen, die zu Kriegszeiten im Betrieb Bollonia unter Munitionskisten gebaut wurden

3 Quappen