relativ

Florian Schulten, Gerolstein

Im Jahre 1940 zogen meine Eltern infolge Kriegseinwirkung von Düsseldorfnach Berndorf. Hier kamen wir im Haus meines Opas und der Oma unter. Der Opa hatte ein großes Haus gebaut mit einem Laden für den alltäglichen Bedarf, einer Gaststätte und später noch mit der örtlichen Poststelle. Unser Haushalt erhöhte sich jetzt auf insgesamt zehn Personen. Das waren Oma, Opa, Mutter und Vater mit vier, später fünf Kindern und Tante Gretchen. Es war die Zeit (1945-1949), als der Kreis Daun zur französischen Besatzungszone gehörte. In Hillesheim befand sich eine so genannte Kommandantur, die von etwa zehn Personen geleitet wurde. Alles was in den Dörfern geschehen sollte, bedurfte der Genehmigung und wurde streng reglementiert und beobachtet

durch die Franzosen. Der Opa, fit im Rechnen und Schreiben, wurde zeitweilig in die Amtsverwaltung Hillesheim dienstverpflichtet. Mein Vater war sehr schwer erkrankt (multiple Sklerose), konnte also in unserem großen Haus nicht mithelfen. Ich habe meinen Vater nur als kranken, hilflosen Mann gekannt, und er ist mit 45 Jahren recht früh verstorben. Unsere Mutter musste also spontan mit Hilfe von Oma und Opa die Zügel in die Hand nehmen. Mutter war eine zielstrebige und sehr fleißige Geschäftsfrau und scheute keinerlei Risiken, ihrer enormen Verantwortung gerecht zu werden. Da wir keine Landwirtschaft hatten, waren wir Selbstversorger. Was der Laden und die Wirtschaft erbrachten, war wenig, und wie überall blühte der Schwarzhandel. Die

Landwirte tauschten nur das, was wir auch nicht hatten, und so musste der Garten eben sehr viel hergeben für den täglichen Lebensmittelbedarf der Großfamilie. Die Franzosen kamen ohne Voranmeldung in unregelmäßigen Abständen ins Dorf. Sie kontrollierten die Bauern, durchsuchten Häuser und Ställe, beschlagnahmten rücksichtslos Kühe und Schweine, sehr zum Leidwesen der Betroffenen. Wir Selbstversorger durften, bis auf einige Hühner und Kaninchen, kein Vieh halten. Irgendwann hatte Mutter tatsächlich ein Ferkel in der Nachbarschaft erstanden. Opa hatte im hinteren dunklen Keller, wo das Brennholz und die Kartoffeln lagerten, einen Verschlag als Stall für unsere neue Bewohnerin geschaffen. Dieses durfte natürlich niemand wissen, denn diese Zuwiderhandlung der Vorschriften war unter Androhung von Strafe und Haft verboten. Als nun die französischen Kontrollen mal wieder im Dorf waren, hatte es sich flugs herumgesprochen: „De Fransuse senn em Doref!" Mutter hatte wie so oft die rettende Idee. Das Ferkel musste einen Schnaps vertragen und wurde, alsbald in ihren Armen schläfrig, in eine alte Decke eingewickelt und in einem Kleiderschrank auf dem Speicher versteckt. So entging unser Ferkel der Beschlagnahmung. Ebenso heimlich, wie es gelebt hatte, musste es auch sterben. Bei den Bauern wurden Schweine im Hof geschlachtet und im brennenden Stroh entborstet. Bei uns fand die „Schwarzschlachterei" in der Waschküche im Keller statt, und die Rasur erfolgte mit heißem Wasser.

Omas Freundin hatte einen Landwirt geheiratet und wohnte in Bitburg auf dem Gut Pützhöhe. Die Familie Hüweler-Kreuser bewirtschaftete eine große Landwirtschaft mit einer Schnapsbrennerei. Hier war ich als Kind oft in Ferien. Im April 1947, als ich zur Ersten Heiligen Kommunion gehen sollte, fuhr meine Mutter mit dem Fahrrad über schlechte, kaputte Strassen 50 Kilometer weit durch das Kylltal nach Pützhöhe. Mit einem Sack voll Lebensmittel auf dem Gepäckträger trat sie am folgenden Tag die Rückfahrt an. So war mein Kommunionsfest gesichert. Oma und Opa aus Düsseldorf brachten eine große Dose Bratheringe mit. Diese Delikatesse gab es am Abend

mit Salzkartoffeln. Fürwahr, dieses war etwas ganz Besonderes für uns. In unserer Gastwirtschaft fanden bei schlechter Witterung nach dem sonntäglichen Hochamt Gemeindeversammlungen statt. Just an einem solchen Sonntag, die Wirtschaft war bis auf den letzten Platz gefüllt, stürmten drei Franzosen der Besatzungsmächte ohne Gruß in unser Haus. Sie rissen die vordere Türe auf, rannten durch das Lokal, durch den Flur, die Küche und den Laden in die Garage. Hier stand das einzige Auto im Dorf, Opas DKW. Mit diesem Wagen besorgte Opa die Waren, die wir im Laden verkauften. Es gab für uns als Lieferanten: Otto Hammes in Hillesheim, Oskar Baum in Gerolstein, Theodor Peters in Lissendorf und Peter Schlömer in Daun. Diese kamen unregelmäßig um Bestellungen aufzunehmen und lieferten erst mehrere Tage später, wenn sie eine Tour zusammen hatten. Daher musste Opa zwischenzeitlich mit seinem Wagen Lebensmittel und alle die Dinge, die man im Dorf sonst noch so brauchte, herbeischaffen. In weiser Voraussicht hatte Opa den DKW aufgebockt, die Reifen abmontiert und diese im Keller versteckt. Als die Franzosen sahen, dass die Reifen fehlten, drohten sie ihn einzusperren, was bei Opa jedoch keine Wirkung zeigte. Daraufhin durchsuchten sie das ganze Haus, fanden die vier Reifen, montierten sie und zogen das Auto aus der Garage. Mit einem Abschleppseil verschwand Opas ganzer Stolz. Opa war sicher, dass er denunziert wor-

den war, aber einen Namen hat er nie genannt. Natürlich hat er den Verlust des beschlagnahmten Wagens bei der Verwaltung in Hillesheim angezeigt. Einige Jahre später erhielt er die Nachricht, der DKW sei einem Arzt in Speyer von der Kommandantur zur Verfügung gestellt worden. Es stellte sich die Frage, ob er das Auto zurück haben wollte oder mit einer Entschädigung von 80 Mark einverstanden sei. Da inzwischen die Währungsreform stattgefunden hatte, war Opa der Meinung, dass der Wagen wohl nichts mehr wert wäre, und entschied sich für das Geld.

Solche Geschichten aus der schlechten Zeit, die ich als Junge mit erlebte, habe ich noch einige im Kopf. Inzwischen bin ich älter geworden, und immer wieder kehren meine Gedanken in diese Zeit zurück. Freunde und Bekannte sagen, das ginge ihnen ähnlich und das sei nun mal so, wenn man alt werde. Nun denn...

Früher war alles besser? Ich weiß es nicht, ich denke, es ist relativ. Sicherlich war früher vieles gut, vielleicht besser. Aber heute ist auch vieles gut, vielleicht besser.