Ein Schülervortrag des Gedichts „Die alte Waschfrau"

Tamara Retterath, Lirstal

In früheren Jahren mussten in der Schule noch Gedichte gelernt werden. Eines Tages gab der Lehrer als Hausaufgabe den Auftrag an alle Schüler, das Gedicht von Adelbert von Chamisso „Die alte Waschfrau" auswendig zu lernen. Es handelt sich dabei um ein sehr bewegendes Gedicht, das ich an dieser Stelle einmal vorstellen möchte:

Die alte Waschfrau

Du siehst geschäftig bei dem Linnen die Alte dort in weißem Haar, die rüstigste der Wäscherinnen im sechsundsiebenzigsten Jahr.

So hat sie stets mit sauerm Schweiß

ihr Brot in Ehr und Zucht gegessen und ausgefüllt mit treuem Fleiß

den Kreis, den Gott ihr zugemessen.

Sie hat in ihren jungen Tagen geliebt, gehofft und sich vermählt; sie hat des Weibes Los getragen, die Sorgen haben nicht gefehlt; sie hat den kranken Mann gepflegt, sie hat drei Kinder ihm geboren; sie hat ihn in das Grab gelegt und Glaub' und Hoffnung nicht verloren.

Da galt's, die Kinder zu ernähren;

sie griff es an mit heiterm Mut, sie zog sie auf in Zucht und Ehren, der Fleiß, die Ordnung sind ihr Gut. Zu suchen ihren Unterhalt entließ sie segnend ihre Lieben, so stand sie nun allein und alt, ihr war ihr heitrer Mut geblieben.

Sie hat gespart und hat gesonnen und Flachs gekauft und nachts gewacht, den Flachs zu feinem Garn gesponnen, das Garn dem Weber hingebracht;

der hat's gewebt zu Leinewand. Die Schere brauchte sie, die Nadel, und nähte sich mit eigner Hand ihr Sterbehemde sonder Tadel. Ihr Hemd, ihr Sterbehemd, sie schätzt es, verwahrt's im Schrein am Ehrenplatz; es ist ihr Erstes und ihr Letztes, ihr Kleinod, ihr ersparter Schatz. Sie legt es an, des Herren Wort am Sonntag früh sich einzuprägen; dann legt sie's wohlgefällig fort, bis sie darin zur Ruh sie legen.

Und ich, an meinem Abend, wollte, ich hätte, diesem Weibe gleich, erfüllt, was ich erfüllen sollte in meinen Grenzen und Bereich; ich wollt', ich hätte so gewußt am Kelch des Lebens mich zu laben, und könnt' am Ende gleiche Lust an meinem Sterbehemde haben.

von Adelbert von Chamisso

Am nächsten Tag überprüfte der Lehrer, ob die Kinder das Gedicht auch gut gelernt hatten. Peter wurde vom Lehrer ausgewählt, das Gedicht frei vorzutragen. Der Schüler ging nach vorne ans Lehrerpult und stellte sich zu seinen Mitschülern gewandt in Position. Peter begann das Gedicht über die Waschfrau laut und deutlich aufzusagen. Es klappte auch alles wunderbar. Er sprach die Verse sicher und mit der richtigen Betonung. Doch nach dem Ende der 2. Strophe blieb er plötzlich hängen. Er stockte, denn er wusste nun nicht mehr, wie die 3. Strophe anfing. Peter hielt verlegen seine rechte Hand an seine Wange und überlegte fieberhaft. Alle Schüler waren mucksmäuschenstill, man hätte eine Stecknadel fallen gehört. Hatte Peter

das Gedicht nicht genügend gelernt? Auf den krampfhaft nachdenkenden Peter starrte nun die ganze Klasse.

Da wollte ihm der Lehrer wieder auf die Sprünge helfen und sagte ihm den Strophenanfang vor: „Da galt's..." Jetzt wusste Peter auch wieder weiter: Er schien den Faden wieder aufgenommen zu haben, seine Gesichtszüge entspannten sich und plötzlich sprudelte es wie aus der Pistole geschossen aus ihm hervor: „Da galt's die Kinder zu ernähren; sie fraß sie auf mit Haut und Haar!"

Es kann sich wohl jeder vorstellen, was nun in der Klasse los war. Alle Schüler brachen in schallendes Gelächter aus. Selbst der Lehrer, der sonst so streng war, konnte sich ein Lachen kaum mehr verkneifen. Ein Vorteil hatte die ganze Angelegenheit für Peter: Der Schüler brauchte das Gedicht nicht mehr weiter aufzusagen und durfte sich wieder an seinen Platz setzen. Schmunzelnd meinte der Lehrer dazu: „Naja, dann hat die Waschfrau jetzt eine Sorge weniger. Von ihren Kindern hat sie sich dann ja wohl getrennt."