Unsere gemeinsame Schulzeit in der Volksschule in Gerolstein

Angela Ehrhard, Winterspelt

In meinem alten Heimatkundeheft aus dem 3. Schuljahr lese ich, dass unsere Volksschule um 1961 knapp 450 Schüler hatte. Fein säuberlich habe ich notiert, dass sie alle in 10 Klassen der Unter-, Mittel- und Oberstufe von neun Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet wurden. In unserer Klasse des 3. Schuljahrs waren es 35 Mädchen und 15 Jungen. Also 50 Kinder! Wie gestaltete sich nun unsere gemeinsame Schulzeit, die wir 1958 gemeinsam begonnen haben? Zuerst einmal sehr gesellig. Zur Einschulung trug ich meine karierte Lieblings-

schürze und hatte auf dem Rücken meinen neuen Ranzen, der wirklich sehr gut nach Leder roch. Ich glaube, ich hatte auch eine bescheidene Schultüte. Jedenfalls war ich begeistert, so viele Kinder zu treffen. Neben den Pflichten, die wir von nun an hatten, nämlich zu den entsprechend angesetzten Unterrichtszeiten sauber und gekämmt zu erscheinen (8 Uhr oder 10 Uhr), war es vor allem das enge Zusammensein mit Gleichaltrigen, das unseren neuen Alltag gestaltete. Wir wurden herausgerissen aus unserer engen, kleinen

Welt mit unseren Müttern am Küchentisch, hinein in die Welt des Lernens. Plötzlich wurden wir bewertet: War die Schönschrift wirklich schön? War unsere Schiefertafel sauber geputzt? Hatten wir nicht vergessen, Wasser ins Schwammdöschen zu geben? Und ganz wichtig: Hatten wir unsere Hausaufgaben erledigt? In diesem Zusammenhang spürten wir wohl zum ersten Mal, dass unser kleinen Paradies auch seine Schranken hat. Wer erinnert sich nicht an Bestrafungen vom Lehrer, die nicht immer im Verhältnis zur „Tat" standen? Unter Druck Kopfrechnen zu überstehen, war bestimmt nicht jedermanns Sache. Oder beim Aufsagen eines Gedichts unweigerlich stecken zu bleiben und festzustellen, dass einem die nächsten Zeilen partout nicht einfallen wollten. Dann gab es da noch das unliebsame Kapitel des Nachsitzens? Oder man musste mit dem Rücken zur Klasse eine bestimmte Zeit eine triste Wand anstarren, wurde „in die Ecke" gestellt.

Neben diesen Einschränkungen hatten wir aber noch viele Rückzugsmöglichkeiten und Nischen, die heutige Kinder als himmlisch bezeichnen würden. Zu bestimmten Zeiten gab es überhaupt keine Beschränkung, was wir miteinander anstellten. So kontrolliert wir in der Schule waren, (natürlich streng getrennt nach Mädchen und Jungen auf dem Pausenhof und auch in der Kirche), so frei waren wir in unserer kindlichen Welt. Spielzeug kannten wir so gut wie gar nicht, dafür waren wir im Gestalten unserer gemeinsamen Zeit Herr über unsere Pläne: Springseilspringen, auf irgendwelchen Wiesen und an Bachläufen spielen, Drachen steigen lassen, Schlittenfahren. All diese Tätigkeiten führten wir über Stunden aus. Solange wir nichts kaputt machten, konnten wir eigentlich tun und lassen, was wir wollten.

Die Kirchenglocken sagten uns die genaue Zeit, die gute Uhr schonte man für besondere Tage. Die regelmäßige Bewegung sorgte bei uns für einen erfolgreichen Stressabbau. Muskulatur wurde ganz nebenbei aufgebaut, wenn wir mit unseren kleinen Trupps unterwegs waren.

Auch unsere Ernährung war ein Spiegelbild der sparsamen Eifeler Lebensweise. Sie war

einfach und es gab nichts im Übermaß. Nur bei besonderen Anlässen bogen sich unter einem Ansturm von Verwandten oder Nachbarn die Tische, wobei uns die vorherige Schufterei unserer Mütter nicht verborgen blieb. Die verschiedenen Pflichten, mit denen uns unsere Eltern in Beschlag nahmen, konnte man meistens in Gesellschaft einer Freundin oder eines Freundes absolvieren. Leerpflücken von Beerensträuchern, Beaufsichtigen von kleineren Geschwistern, das Vieh von der Weide zum Melken holen, einkaufen gehen, den Henkelmann in die Drahtfabrik bringen, viele Tätigkeiten verloren durch die Anwesenheit eines vertrauten Kindes ihren bitteren Beigeschmack.

Eine besondere Rolle kommt in unserer Kindheit auch dem Beherrschen von Reimspielen zu, die wir alle perfekt auswendig kannten. Egal, ob wir Fangen oder Verstecken spielten, oder uns durch Himmel und Hölle hopsten, der Charakter der Spiele war erstaunlicherweise nie auf einen einzigen Gewinner ausgerichtet. Teamgeist, Kooperation, Pfiffigkeit und Verständigung waren hier gefragt. Durch die Beständigkeit unserer Beziehungen entwickelte sich bei uns wohl auch ein Gespür für Robustheit und eigene Stärke. Unsere Umwelt war reizarm, im Wesentlichen ohne Verkehrsgefährdung, ohne einen nachmittäglichen Terminkalender, der uns vereinzelt hätte. Der Rhythmus von kirchlichen Festen, das bescheidene Feiern von Namenstagen, unsere Kommunion als besonderer Höhepunkt, dann Wallfahrten und Prozessionen, Ostern und Weihnachten, all dies gab uns eine innere Struktur, die immer eng mit anderen Menschen verbunden war. Und vor allen Dingen wiederholten sich diese Festtage beruhigend von Jahr zu Jahr.

Wie viel schwerer haben es die Kinder heute: Mit dem Diktat von Markenkleidung, der Unmöglichkeit, sich locker auf der Straße zu verabreden. Mit ständig neuen Fernsehreizen, die Wiederholung und Rhythmus als unmodern „aussortieren". Einer Freizeit, die von Industrie und Erwachsenen für sie entworfen wird und der sie folgen müssen, wie ein Hamster in seinem sich ständig drehenden Rädchen. Wichtige Eindrücke, die in unserem Aufwachsen

eine Selbstverständlichkeit waren, bleiben den Schulkindern heute oft versperrt. Geburt, Tod, Zusammenhalt und Durchhaltevermögen, wo soll man das Bewältigen dieser menschlichen Aufgaben denn noch erleben? Eine Patch-workfamilie in der Großstadt bietet dazu wohl kaum ein Übungsfeld. Dann ist es doch wohl besser, man redet sich ein, 200 Freunde auf facebook zu haben!

Vielleicht sind all diese Auffälligkeiten ein

Zeichen dafür, in den wesentlichen Jahren um etwas sehr Elementares betrogen worden zu sein: Sich an Regeln und Regelmäßigkeit zu orientieren, die Menschen entworfen haben, die das Kind wirklich kennt und denen es vertraut. Schade, dass 80 % der sechsjährigen Kinder Lady Gaga zum ihrem persönlichen Vorbild erklären!

In diesem Sinne denke ich, zusammen hatten wir eine schöne Kindheit in Gerolstein.

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