Mein erstes Schuljahr in der Eifel

Helga Salz, Jünkerath

Nachdem unser Haus in Köln nach einem Bombenangriff in Trümmern lag, fanden wir bei unserer Großmutter, die in der Eifel lebte, ein Obdach in ihrem kleinen alten Fachwerkhaus im Brohltal. Wir - das war unsere Mutter mit drei Kindern; unser Vater musste weit weg in Norddeutschland Militärdienst leisten. Zum Glück war er zum Bürodienst eingeteilt und nicht als Soldat an der Front, so mussten wir nicht um seine Sicherheit fürchten. Bis zum Ende des Krieges sahen wir ihn einige Male in kurzen Urlauben, erst im Jahre 1948 kehrte er aus der Gefangenschaft heim - nach mehr als drei Jahren.

Im Spätsommer 1942 kam für mich der lange herbeigesehnte Schulanfang: Ich wurde als i-Dötzchen in die kleine Dorfschule aufgenommen und bildete dort mit drei Jungen und einem weiteren Mädchen den vergleichsweise stärksten Jahrgang. Die nächst höhere Klasse bestand lediglich aus zwei Mädchen; Berta und Gisela wurden von uns Kleineren sehr bewundert.

Alle acht Jahrgänge in einem Klassenraum -das erforderte von unserem Herrn Lehrer, wie wir ihn zu nennen hatten, viel Einsatz und Organisationstalent. Seine fantasievolle und lebendige Methode machte das Lernen bei ihm zur Freude.

Leider aber war er teils noch den veralteten Erziehungsprinzipien verhaftet, so dass manchmal - wenn zum Glück auch sehr selten - eine dünne Gerte schmerzhaft auf die offene Handfläche des „Übeltäters" traf, eine in heutiger Zeit ganz unvorstellbare Erziehungsmaßnahme.

Auf Anweisung von „oben" musste an schönen Spätsommertagen der Unterricht ausfallen. Dann wanderten wir alle unter Aufsicht unseres Lehrers in die umgebenden Felder, wo wir für das „Vaterland", wie uns gesagt wurde, Kräuter sammeln mussten. Bevorzugt wurden Schafgarbe, Tausendgüldenkraut und Taubnesselblüten, aber auch pieksende Blätter der Brombeersträucher. Unsere Ernte wurde von Einsatzkräften abgeholt und irgendwo zu Tee verarbeitet.

Weniger beliebt war das Absammeln von Kartoffelkäfern und deren Larven im dichten Laub dieser Pflanzen. Doch schnell füllten sich die mitgebrachten Gefäße, weil ein heimlicher Wettbewerb - „wer findet die meisten?" ein Ansporn für uns war. Was wohl mit den bedauernswerten kleinen Viechern geschah? Ich wollte es gar nicht wissen. Aber auch diese Einsätze kindlicher Arbeitskraft wären für die heutige Kinder-, Eltern-und Lehrergeneration undenkbar! Dennoch lernten wir in freier Natur auch hierbei eine ganze Menge über Pflanzen, Kleintiere, Vögel und Insekten, es war insofern keine verlorene Zeit

Später im Herbst ging es dann gemeinsam in die Wälder. Wir sammelten körbeweise Eicheln („für die Schweinezucht in einem Kloster") und Bucheckern („zur Ölherstellung"). Letztere ließen sich wegen ihrer geringen Größe nur ohne Handschuhe auflesen und der Schmerz, den die Kälte meinen bloßen Händen zufügte, ließ mich manchmal kläglich weinen: Es tat ja so weh!

Monate später las der Herr Lehrer uns ein amtliches Schreiben vor, in dem unsere Schule für besonderen Fleiß gelobt wurde. Das machte uns Kinder natürlich ein bisschen stolz, alle Widrigkeiten waren vergessen. Der nun folgende Winter war außerordentlich kalt und schneereich. Als ich an einem eisigen Morgen die Haustür hinter mir schließen wollte, blieb meine Hand angefroren an dem Messinggriff hängen, eine kurze, aber schmerzhafte Schrecksekunde lang riss ich sie los, versuchte das aber nie mehr ohne Handschuhe. Danach stapfte ich durch den frisch gefallenen Schnee zur Schule, wo die Frau Lehrer - ja, auch sie wurde so angesprochen - schon Stunden zuvor ein bullerndes Feuer in dem großen schwarzen Ofen für uns entfacht hatte. Hier wärmten wir uns erst einmal von allen Seiten auf, bevor wir dann in unseren Bänken die Schiefertafeln auspackten. Unser Lehrer verstand es, uns eine unvergessliche Vorweihnachtszeit zu bereiten. Singen, Basteln, Vorlesen - an jedem Unterrichtstag fand er dafür Zeit. Alles dies unter dem schweren Adventskranz, den die Frau Lehrer für uns gebunden und mit vier Kerzen bestückt im Klassenraum aufgehängt hatte. Eine wunderbare Einstimmung auf die festlichen Tage, auf die wir uns nun freuten. Das Fest ging vorbei, ein neues Jahr begann. Alle sehnten den Frühling herbei, doch es

blieb lange, lange kalt. Im März schickte uns der Herr Lehrer zum „Sieben-Kreuze-Beten". Dies war ein alter Brauch im Dorf, wenn ein Verstorbener zu beklagen war. Wir Kinder suchten dann alle sieben Weg-Kreuze rund um den Ort auf und sprachen, den Rosenkranz in der Hand, an jedem dieser Gedenkstätten ein Gebet für den Toten. Eines der Kreuze hatte für mich eine ganz besondere Bedeutung: Es war dem Andenken meines Urgroßonkels gewidmet, der im Jahre 1885 an dieser Stelle von einem Blitz getroffen worden war. Es steht noch heute dort, und so oft ich heute das Dorf meiner Kindheit besuche, führt mich mein Weg hierher.

Mit meiner damaligen Klassenkameradin Franziska hat mich eine lebenslange Freundschaft verbunden; bei den Jahrgangstreffen in späteren Jahren gab es mit ihr und den ehemaligen Mitschülern einen regen Austausch an Erinnerungen. Wir alle waren uns einig: Es war - trotz Krieg und beginnender Entbehrungen aller Art - eine Zeit, an die wir gerne zurückdenken.

Die Höhen und die Talgründe, die Feldflur, Wiesen und Bäche, vor allem aber die Menschen der Eifel haben mich geprägt. Seit nunmehr einem Vierteljahrhundert wohne ich mit meinem Mann in meiner - wie ich sie nenne - „Seelenlandschaft". Wir sind beide dankbar, dass es sich so gefügt hat.