Protest

Ute Bales, Freiburg

Manches wird erst in der Erinnerung groß und farbig; vieles erhält erst sein materielles Gewicht, wenn wir zurückdenken. Die Erinnerung macht es auch, dass wir uns nach etwas sehnen, uns Verlorenes wieder herbei wünschen. Aber die Erinnerungen des Menschen sind kurz und ein Menschenleben ist nur ein Wimpernschlag.

Die vor uns hier gelebt haben, hätten sich nie träumen lassen, dass Berge irgendwann verschwinden und weg sein könnten. Das wäre ja so, als ob man den Mond verkaufen oder einen Stern pachten würde. Es wird schon alles gut gehen, sagen die Leute, drehen sich um, wenn der Bagger kommt und gehen ins Haus. Da steht an einem Mittwochnachmittag eine Frau auf unserem Berg. Berg und Frau sind alt. Natürlich ist die Frau jünger als der Berg. Aber was sind ihre Jahre schon gegen zehntausende, die der Berg auf dem Rücken hat? Die Frau steht dort, wo der Berg am höchsten ist. Es ist März, die Luft ist eisig und die Frau ist zu dünn angezogen. Sie trägt ein Strickkleid unter einer lilageblümten Kittelschürze, hat die Haare zum Dutt geknotet und Gummistiefel an den Füßen. Sie schiebt die Ärmel ihres Kleides hinauf und schwenkt die Arme, als wolle sie jemandem winken. Der Wind lässt die Kittelschürze flattern, die Frau schwankt ein bisschen. Keine zwei Schritte von der Stelle entfernt, auf der sie steht, geht es in die Tiefe. Unten, im ausgehöhlten Krater des Berges, bewegt sich ein Bagger. Ein Lastwagen kommt mit Schwung um die Ecke und wird vom Bagger mit Steinen gefüllt. Ununterbrochen lädt er Basalt und Lava auf seine Schaufeln. Ständig fahren Lastwagen in der Grube ein und aus. „Die Eingeweide rausreißen, ja, das könnt ihr!", ruft die Frau den Fahrzeugen entgegen und schreit hinterher, dass sie den Hals nicht voll kriegen können. Sie bückt sich nach einem der schwarzen Lavakrot-zen, den sie senkrecht in die Luft wirft und mit der gleichen Hand wieder auffängt. Dann wirft sie ihn in hohem Bogen von der rechten in die

linke Hand und wieder zurück. Ein paar Mal fliegt der Stein hin und her. Jetzt bückt sich die Frau nach einem zweiten Krotzen, wirft beide über Kreuz und in schnellem Tempo von Hand zu Hand, hebt einen dritten auf und plötzlich wirbelt sie mit geschickten Händen drei Steine rund um ihren Kopf, dass es einem schwindlig werden könnte. Wie im Zirkus ist das. Die Krotzen kreisen und fliegen. Das hätte man der alten Frau wirklich nicht zugetraut. „Ihr werdet alle noch sehn", schreit sie in diesen Wirbel und trippelt mit den Füßen, um das Gleichgewicht zu halten. Dann lässt sie die Krotzen in die Schürzentasche gleiten, stellt sich dicht an die Klippe, winkt in Richtung Bagger und ruft, dass man sein Tafelsilber nicht verjubeln dürfe, dass alle noch dran denken, dass alle sich noch wundern werden. Sie hat eine Mädchenstimme, und die Kittelschürze flattert. Die Krotzen zeichnen sich ab unter dem geblümten Stoff. Wahrscheinlich reibt sie sich damit die Hornhaut von den Füßen.

Der Bagger gräbt weiter. Da geht die Frau einen guten Schritt nach vorne und jetzt ragen die Spitzen der Gummistiefel über den Abgrund hinaus. Es ist sonnig, aber kalt. In der Ferne liegt eine Stadt. Ein Fluss schimmert durch das Gebüsch. Felder und Wiesen gleichen mit ihren Grünschattierungen einem unregelmäßigen Teppich. Als die Frau sich vorbeugt, stoppt der Bagger, ein Mann springt heraus, hält die Hände wie einen Trichter vor den Mund und ruft „Zurück! Gehen Sie zurück!" Die Frau lacht und malt mit den Händen Kreise in die Luft. Der Mann aus dem Bagger macht Anstalten, die Felswand hochzuklettern, aber das schafft er nicht. Die Frau lacht und lacht, verrenkt sich, steht auf einem Bein, stemmt die Hände in die Hüfte. Der Mann eilt zurück, gibt dem Kollegen im Lastwagen Zeichen, indem er die Arme hochreißt. Auch der Kollege hält an, steigt aus, ruft etwas, was der Wind mitnimmt. Zusammen stehen die beiden Männer jetzt unten, heben die Hand über die Augen, werfen

der Frau Befehle hinauf. „Stehenbleiben!" „Sofort!" Die Frau dreht sich mit kleinen Schritten, rudert mit den Armen und singt. Die Männer reden miteinander. Einer zieht ein Handy aus der Tasche, tippt auf die Tasten, spricht, gestikuliert mit Händen und Füßen. Die Frau klatscht in die Hände, bückt sich nach neuen Steinen, die sie durch die Luft jongliert. Die Männer gehen hin und her, sehen auf die Uhr. Der mit dem Lastwagen versucht an einer anderen Stelle den Aufstieg, aber die Wände sind glatt und er schüttelt den Kopf. Die Hühnervögel und Krähen haben sich längst davon gemacht. Die Frau geht auf die Knie, beugt sich vor, stützt sich auf beide Arme und hebt ein Bein himmelwärts. Ein Polizeiwagen schießt heran, wirbelt rötlichen Staub auf und parkt hinter dem Bagger. Zwei Polizisten haben ein Sprachrohr dabei. „Bleiben Sie stehen! Gehen Sie keinen Schritt weiter!" Die Frau hebt das rechte Bein über den Abgrund. „Zurück! Gehen Sie zurück!" Da wechselt die Alte das Bein und dreht Pirouetten. Die Polizisten telefonieren. Eine gute Viertelstunde vergeht, die Frau lässt die Arme kreisen, als sich, von der anderen Seite des

Berges, Stimmen nähern. Zwei junge Sanitäter in orangefarbenen Arbeitsanzügen kommen über den Kamm, gehen geradewegs auf die Alte zu, packen sie links und rechts am Arm, zerren sie vom Abgrund weg. „Was tun Sie da?" fragt einer der Männer und lässt die Frau erst los, als der Boden unter den Füßen wieder sicher ist. Die Frau sagt nichts, hebt ein paar Krotzen vom Boden auf, dreht sich um und will gehen. Die Männer holen sie ein. „Geht es Ihnen gut? Sind Sie verletzt? Wir brauchen Ihre Personalien", sagt einer und zieht ein Handy aus der Tasche. Die Frau sieht ihn kurz an und will wissen, wie spät es ist. „Gleich sechs", sagt der Jüngere von beiden und fragt, ob sie aus dem Dorf kommt und ob er ihr helfen kann. Die Frau lächelt. „Gleich sechs. Seit halb fünf bin ich hier. Eine Stunde also. Fast eine Stunde hab ich den Bagger aufgehalten. Wie viele Ladungen sind das?" Eine Antwort wartet sie nicht ab. Mit ihren schweren Gummistiefeln, die Tasche voller Krotzen, geht sie den Kamm hinunter. Im Weggehen dreht sie sich um: „Das sind mindestens zehn Ladungen!" Dann macht sie einen ganz kleinen Luftsprung, so elegant, wie es in Gummistiefeln eben geht.