Das alte Schulhaus Schüller

Werner Kandels und Katharina Schippers, Schüller

Vorbemerkung

Im Vulkaneifeldorf Schüller gibt es die „Alte Schule". Sie wurde 1914 erbaut und nach einem wechselvollen Schicksal und längerem Dornröschenschlaf 2014 zu neuem Leben erweckt. In diesem Jahr wird sie wieder ihrer ursprünglichen Bestimmung zugeführt. Der Künstler Florin Negreanu, geborener Rumäne und Holländer, hat die Vision eines Kunst- und Kulturhauses. Als er die „Alte Schule" 2014 zu ersten Mal sieht, weiß er, dass sie das ideale Domizil für „kukSchüller" ist. Er kauft das verwahrloste Gebäude und restauriert es sukzessive nachhaltig. Als erstes wird hier selbst Musikunterricht erteilen. Einige der Musikschüler werden jünger sein als die I-Dötzchen von früher, denn man bringt heute bereits Kindergartenkindern die Musik nahe. Florin Negreanu spielt Geige und Bratsche. Sein Spektrum reicht über die meisten holländischen Symphonie-Orchester, auch ein Musical-Orchester, auch als Konzertmeister, als ständiges Orchestermitglied und situativ. Er hat große Erfahrung in Barocker Kammermusik und ist auf diesem Gebiet sehr gefragt. In Rumänien ist er derzeit in einem derartigen Projekt als Solist mit beiden Instrumenten sehr aktiv. Als Solist ist er ebenso im symphonischen Bereich national und international Solist. Sein Kunstinteresse geht aber weit über die Musik hinaus. So werden sich nach und nach andere Unterrichtsfächer und -formen anschließen: Malerei, Bildhauerei, Theaterspiel als feste Stunden und in Ferienkursen, Workshops und Seminaren. Vor allem liegt dem gelernten Geigenbauer der Unterricht in dieser Kunst am Herzen. Parallel wird es in den neuen, alten, modernisierten Räumen und im großen Hof natürlich Konzerte, Ausstellungen, Lesungen und Events aller Art geben. Die nachfolgenden Erzählungen stützen sich auf die Schüllerer Chronik, auf Erzählungen und Berichte der Dorfbevölkerung und für die

Zeit von 1945 bis 1953 auf Berichte, die auf Interviews mit den Betroffenen, die hier zu Wort kommen, basieren. Die Schulgeschichte der „Alten Schule" in Schüller wird in drei Teilen erzählt:

1. Die 100jährige Geschichte des alten Schulhauses von Schüller „Alte Schule"

2. Schülergeneration 1945 bis 1953: Schulzeit, Schülerleben und der Einfluss des LehrerMultitalents Albert Seifert

3. Anna und Alfred, zwei völlig unterschiedliche Schülertypen des Abschlussjahrgangs 1953 erzählen aus ihrer Schulzeit

Das alte Schulhaus in Schüller erzählt: 1.Teil Von der ehemaligen Dorfschule zur Musikschule Die Geschichte eines Zeitraumes von über 100 Jahren

Fast genau im Mittelpunkt des Dorfes befinden sich die über die Häuser herausragenden Bauten der Kirche und der Schule. Man könnte fast meinen, dass sie direkt nebeneinander errichtet wurden, so sehr ziehen sie gemeinsam den Blick des Betrachters auf sich. Vom Schulgesamtkomplex, bestehend aus Schulgebäude und Lehrerwohnhaus, zeigt sich aus dieser Sicht das Wohnhaus in seiner ganzen Größe, der Schultrakt ist seitlich daran angefügt. Vor über 100 Jahren, in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg, erfuhr die Dorfgemeinschaft eine rege Bautätigkeit. Stand zunächst ein Neubau der Kirche im Vordergrund (1910 - 12), so errichtete etwa zur gleichen Zeit auch der Kriegerverein ein eigenes Domizil als Vereinsheim, das im Volksmund die Bezeichnung „Villax" erhielt.

Auch die Pläne für den Neubau der Schule lagen bereits auf dem Tisch, damit sollte aber nicht vor der Vollendung des Kirchenbaus begonnen werden.

Das 1865 errichtete alte Schulgebäude war viel zu klein geworden und befand sich zudem in einem sehr schlechten baulichen Zustand

und die dazugehörige Lehrerwohnung zeigte sich als fast unbewohnbar. Der Schulvorstand hatte sich daher einstimmig für einen Neubau der Schule auf dem Gelände der alten Schule ausgesprochen, und das neben dem Schulhaus stehende Vikariegebäude wurde von der Gemeinde als Lehrerwohnhaus erworben, um hierin jeweils eine Lehrer- und eine Lehrerinnenwohnung einzurichten. Im August 1913 geschah der Abriss der alten Schule und im Anschluss daran erfolgte sogleich die Fertigstellung des Rohbaus der neuen Schule, angefügt an das Vikariegebäude mit den zukünftigen Lehrerwohnungen. Im Sommer 1914 war die neue zweiklassige Schule bezugsfertig, konnte aber leider nicht von den Kindern „in Besitz" genommen werden, vielmehr nahm das Militär das Haus zunächst in Anspruch, denn am 28. Juli 2014 war der 1. Weltkrieg ausgebrochen. Erst der Beginn des Schuljahres 1915/16 am 1. April 1915, ließ die eigentlichen Benutzer des Hauses, die Kinder, in ihre neue Bildungsstätte einziehen. Obwohl nun 2 Unterrichtsräume zur Verfügung standen, wurde nur der obere Raum für den Normalunterricht genutzt, der untere Klassenraum diente vorübergehend dem Sport- und Turnunterricht. Nur eine Lehrperson, Lehrerin Frl. Hoffmann, war nun alleine für die Unterrichtung der 93 Kinder zuständig. Der damalige Schulleiter Hugo Kaa-sen musste schon gleich zu Beginn des Krieges seinen „Dienst an der Front" verrichten. Dieser Zustand währte fast 5 Jahre. Erst im Januar 1920, nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft, nahm der Schulleiter Hugo Kaasen den Dienst wieder auf, so dass von nun an auch der untere Klassenraum für den Unterricht genutzt wurde. Im oberen Klassenraum wurden das 1. und 2. Schuljahr mit den Mädchen der Schuljahre 5 bis 8 von der Lehrerin unterrichtet, der Lehrer hielt seinen Unterricht im unteren Klassenraum ab mit dem 3. und 4. Schuljahr und den älteren Jungen. Zwei Lehrerpersönlichkeiten haben das Schulleben in dieser Schule als Schulleiter während ihres 50-jährigen Bestehens in besonderer Weise geprägt und sind ihren damaligen Schülerinnen und Schülern bis heute unvergessen geblieben:

Ortsansicht Schüller von Feusdorf aus © Fritz Peter Linden, Stadtkyll

Lehrer Hugo Kaasen hat 17 Jahre lang, vom 1. April 1911 bis 30. September 1928, unterbrochen nur durch den 1. Weltkrieg, in dieser Schule unterrichtet.

Lehrer Albert Seifert stand der Schule sogar 27 Jahre lang als Schulleiter vor, vom 1. November 1928 bis 31. August 1955, auch in der Zeit des Nationalsozialismus und unterbrochen durch den 2. Weltkrieg. Am 1. November 1953 konnte er auf ein 25-jähriges Ortsjubiläum zurückblicken, das von der Gemeinde gebührend gefeiert wurde. „Die Gemeinde war stolz darauf und seine Zöglinge dankbar dafür, dass dieser hervorragende Pädagoge dem Ort solange die Treue gehalten hatte." Sowohl Lehrer Hugo Kaasen als auch Albert Seifert blieben dem Dorf nach ihrer Pensionierung und dem Wegzug aus Schüller noch weiterhin familiär verbunden durch hier entstandene verwandtschaftliche Beziehungen. Im Frühjahr 1964 schließlich hatte das alte Schulhaus nach 50 Jahren als Bildungsstätte für die hiesigen Schulkinder ausgedient und das angrenzende Wohnhaus wurde nicht mehr als Unterkunft für die Lehrkräfte genutzt. Denn inzwischen waren eine neue Schule und ein Lehrerwohnhaus errichtet worden. Der „Leerstand" der alten Schule dauerte nicht lange, denn bald wurden Lehrerwort und Kindersprache von Nähmaschinengeknatter abgelöst. Ein Fabrikant aus Mönchengladbach kaufte die Anlage und eröffnete im September des gleichen Jahres hier eine Fertigungsstätte für Hosen, die bis 1974 produzierte, dann leider Konkurs anmelden musste. Neuer Besitzer wurde schließlich 1975 Hanns-Peter Vorberg, ein Maler und Künstler, der die Räumlichkeiten bis 2011 als Arbeits- und Wohnstätte nutzte.

lks.: Lehrerwohnhaus (alte Vikarie), re.: Schulgebäude

Trotz mehrerer Besitzerwechsel träumten Gebäude und Schulgelände wie im Märchen „Dornröschen" weiterhin einer besseren Zukunft entgegen, sie verblieben sozusagen im „Dornröschenschlaf haften. Es waren nun in der Tat hundert Jahre vergangen seit dem Bau des Schulgebäudes 1913/14, ein scheinbar „hundertjähriger Schlaf', der die „Rosenhecke" hoch und höher wachsen ließ ohne besondere Renovierungen oder Veränderungen.

Es war im Jahre 2014 - da kam, wie im Märchen, ein „Prinz", der Prinz namens Florin Negreanu, der das alte Haus wieder zu neuem Leben erwecken wollte. Es schien, als hätten sich zwei gesucht und endlich gefunden! Für Florin Negreanu war der Anblick der alten Schulanlage wie eine Liebe auf den ersten Blick und kurz entschlossen erwarb er das gesamte Anwesen.

Lehrerwohnhaus und Schule nach der Außenrenovierung

Dieser Mann, zuhause in fast allen holländischen Symphonieorchestern, u.a. als Konzertmeister ist mit seinen Instrumenten Geige und Bratsche auf vielen Sektoren der Musik international tätig. Der vielseitige Musiker beherrscht noch eine weitere Kunst: er ist gelernter Geigenbauer und räumt dieser Leidenschaft eine hohe Priorität in seinem Leben ein. Er hatte eine Vision und entwickelte Pläne, welcher Verwendung er den Gesamtkomplex zuzuführen gedachte. Deshalb fackelte er nicht lange und leitete gleich nach dem Erwerb eine Außenrenovierung in die Wege und bald sah das Haus so aus, wie auf dem Foto zu erkennen. Diese neu gestaltete alte Schule soll weiterhin ein Haus bleiben, in dem gelehrt und gelernt wird, also weiterhin eine Schule, eine Schule für Kunst und Kultur.

Es gilt nun, dieses Haus und die Anlage mit neuem Leben zu füllen.

Das alte Schulhaus in Schüller erzählt: 2. Teil Schule, Schüler und die Lehrerpersönlichkeit Albert Seifert in der Zeit von 1945 bis 1953

Nach der Schließung der Schule im letzten Kriegsjahr wegen der großen Bombengefahr aufgrund der Nähe zu Jünkerath, das unmittelbar an der Hauptbahnlinie gelegen war, wurde der Schulbetrieb im Oktober 1945 unter der Leitung von Lehrerin Pauline Schulz wieder aufgenommen. Obwohl im Dorf noch Not herrscht, bringt das Kriegsende Entspannung und Zuversicht. Im April 1946 kehrt Lehrer Albert Seifert zurück an seine Schule. Er ist äußerlich unversehrt, aber reich an grausamen Erfahrungen.

Für die Schulanfänger von 1945 und auch die Älteren begann nun eine umfassende und qualitativ hochstehende Ausbildung. Die heute 80jährigen erzählen ihren Enkeln und Urenkeln wie zuvor ihren Kindern von dieser eindrucksvollen und unvergessenen Zeit, das solide und vielseitige Fundament für ihr Leben. Geprägt wurde diese Ausbildung und die vielfältigen Lernerfahrungen von der Lehrerpersönlichkeit Albert Seifert. Er wohnte mit seiner Familie im an die Schule angrenzenden Lehrer-Wohnhaus, mitten im Dorf und im unmittelbaren Kontakt zu seinen Schülern, ihren Familien und den übrigen Schüllerern.

Der Unterricht begann von Montag bis Samstag um 7.30 Uhr. In dieser Lebensphase der Schule, die heute die „Alte Schule" heißt, fand der Unterricht in den geistigen Fächern nur im 1. Stock statt, geschuldet der vergleichsweise geringen Schülerzahl nach dem Krieg. Die Jungen und Mädchen saßen getrennt durch den Mittelgang in Viererreihen. Im Winter heizte ein Kanonenofen mit vorgelagertem Holz- und Kohlekasten den großen Raum ausreichend. Die Schüler waren in Jahrgangsstufen eingeteilt: 1. und 2. Klasse, 3. und 4. Klasse, 5. und 6. Klasse, 7. und 8. Klasse. Aktiv unterrichtet wurde jeweils nur eine Gruppe. Die anderen bekamen ihrem Wissens- und Unterrichtsstand angepasst Aufgaben. Allein das vorzubereiten war eine enorme Aufgabe für Lehrer Seifert, denn er musste ja für jede Gruppe auf zuvor unterrichteten Stoff zurückgreifen.

Eingestimmt auf den Tag wurde mit einem Lied, geschmettert aus den Kehlen der 6 -14jährigen oder auch einmal mit einem Gebet, in jedem Fall ein Start in beschwingter Stimmung.

Das Schultagebuch der Wiedereröffnungswoche 1945 unter Pauline Schulz gibt die umfassende Fächervielfalt anschaulich wieder, die später auch für Lehrer Seifert gilt. Das Lehrer-Allround-Genie hat alle Fächer, bis auf die Religiösen und Handarbeit, selbst unterrichtet. Er hatte auf all' diesen so unterschiedlichen Gebieten tiefgehende Kenntnisse und konnte sie schülergerecht vermitteln. Bei Allem hat er Wert auf das Auswendiglernen gelegt, wie bei Gedichten und anderen bildenden Texten. Vor allem aber und oft frug er in unerwarteten Situationen plötzlich das Einmaleins ab, die Kleinen das Kleine, die Großen das Große. Es gab niemals Schläge, wenn etwas nicht klappte. Aber es setzte schriftliche Strafarbeiten und er konnte seiner Verachtung für mangelnden Einsatz und Fleiß durchaus deutlich Ausdruck verleihen. Er beschränkte den Schulalltag aber bei weitem nicht nur auf die geistigen Fächer. Eine herausragende Rolle spielten darüber hinaus Sport, Musik, Botanik und Werken. Im nicht genutzten Klassenraum im Erdgeschoss gab es im Winter Hallen-Sportunterricht. Ein Pferd

und ein Barren standen zur Verfügung und anderes Gerät für die verschiedenen Disziplinen, wie z. B. Bodenturnen. In der warmen Jahreszeit wurde im großen Schulhof regelmäßig eine Weitsprunggrube und eine Hochsprunggrube genutzt. Die Laufstrecken von 50 und 100 Metern waren exakt zwischen Kirche und Alter Schule ausgemessen. Dass seine Schüler die Natur bewusst wahrnehmen und sinnvoll mit ihr umgehen war Lehrer Seifert eines der wichtigsten Anliegen. Er verfügte über fundierte Kenntnisse über eine Vielzahl von Pflanzen und konnte die Hingabe an die Pflanzenwelt vermitteln. So zeigte er den Kindern z. B. wie man Bäume pfropft und Rosen veredelt. Die Bäume vor dem Schüllerer Gemeinschaftshaus hat er mit seinen Schülern gepflanzt und damit sich und der Schülergeneration ein „nachhaltiges" Denkmal gesetzt.

Er baute mit seinen Schülern Segelflugzeuge und brachte ihnen dabei wesentliche handwerkliche Techniken bei. Das hat sich häufig für die Berufsausübung bezahlt gemacht. Schüler, die bei der Fabrik oder Bahn in die Lehre gingen, waren wegen ihrer ausgezeichneten Schulausbildung sehr geschätzt. Und auch Schüler, die weiterführende Schulen besuchten, haben der Schüllerer Schulausbildung dieser Zeit zu einem ausgezeichneten Ruf verholfen.

Vielleicht die größte Leidenschaft, jenseits der Regelfächer, verband das Multitalent Seifert mit der Musik. Er gründete bereits vor dem Krieg ein „Tambourcorps" (Trommel und Blockflöte, in Abwandlung der historischen Tambourcorps mit Querflöten). Der Andrang der Kinder, die mitmachen wollten, war so groß, dass eine Auswahl getroffen werden musste. Nicht wegzudenken ist das Bild von Albert Seifert mit seiner Geige. Er begleitete die Kinder in den Gesangstunden, manche Lieder wurden dreistimmig gesungen. Bei Unaufmerksamkeit half er dem Betreffenden schon mal mit einem leichten Stupser mit dem Bogen ins hier und jetzt zurück. Bei verschiedensten sozialen Anlässen war er mit seiner Geige und dem Gesang der Kinder eine tragende Säule der Unterhaltung. Da sich Schüller im Kölner Einzugsbereich

befindet, gilt auch hier der legendäre Spruch „Jeder Jeck ist anders", was im Fall der zusätzlichen Bildungsangebote körperlicher und geistiger Natur hieß, dass diese bei den Kindern ganz unterschiedliche Resonanz fanden. An zwei Beispielen, Anna und Alfred, wird im nächsten Teil der nachhaltige Erfolg der Vermittlung der Liebe zum Sport bzw. Botanik

gezeigt.

All dies war Bestandteil des normalen Schulalltags. Er endete morgens um 11.30 Uhr, denn die meisten Kinder mussten dann nach Hause, um die Henkelmänner (auf Kölsch Mitchen von mitnehmen) zu holen, mit denen sie ihren Vätern in Jünkerath das Mittagessen zu den örtlichen Hauptarbeitgebern der „Fabrik" oder der „Bahn" brachten. Es war ein steiler Weg von 2 Kilometern bergab von Schüller und schnell auch wieder hinauf, sei es zum Nachmittagsunterricht, der an manchen Tagen stattfand - denn das anspruchsvolle Ausbildungsprogramm konnte natürlich in den Vormittagsstunden allein nicht bewältigt werden - aber ebenso um ihren Platz als Arbeitskraft im familiären Team einzunehmen,

das für den Unterhalt zu sorgen hatte. Fast jede Familie hatte etwa 1-3 Kühe, die versorgt werden mussten, oft ein Schwein und auch weitere Tiere, sicher fast immer Hühner. In vielen Familien gab es auch etwas Land, auf dem Kartoffeln, Gemüse, Obst und bei einigen Getreide angebaut wurde. Bei den anfallenden täglichen Arbeiten hatten die Kinder ihren festen Platz und fanden das selbstverständlich. Hauptaufgabe war das Kühe hüten, ebenso Hilfe beim Füttern, Melken und Ausmisten. In den langen Sommerferien waren sie als Erntehelfer unverzichtbar. Die Ferien waren auf diese Pflichten der Kinder ausgerichtet, im Herbst z. B. die Kartoffelferien. Ein letzter Arbeitsschwerpunkt im Jahr war das Schlachten, in jeder Familie ein besonderes Ereignis. Das Fleisch zerwirken, auf verschiedene Art konservieren und Wurst kochen. Viele Familien hatten hier ihre eigene Rezeptur und Feriengäste mussten sagen, welche Konserve oder Wurst ihnen am besten schmeckte. Also war auch damals schon, genau wie heute, der Schüleralltag gedrängt voll. Allerdings auf andere Art als heute.

Das Bild zeigt Lehrer Albert Seifert mit dem Schuljahrgang 1948. Anna steht ganz oben rechts, unverkennbar durch die große weiße Schleife. Eine Tante war der Meinung, dass diese Ausstattung für den Fototermin unerlässlich sei. Anna hat es gehasst, so herausgeputzt hervorgehoben zu sein. Wie man sieht, hat die Tante noch zwei weitere Mädchen zu Schicksalsgenossen gemacht. Alfred findet man auf diesem Bild natürlich nicht, er ist zu dieser Zeit in Schleswig-Holstein und kommt erst 1951 in die Klasse.

Albert Seifert stand mitten im dörflichen Geschehen und es gelang ihm wunderbar, den Schulalltag den dörflichen Gegebenheiten und Notwendigkeiten anzupassen. In diesem Zusammenhang ist es von großer Bedeutung hervorzuheben, wie er das generell für alle seine Schüler als Ganzes schaffte. Aber ebenso verfügte er über die Gabe, jede Schülerin und jeden Schüler entsprechend ihrer/seiner Bedürfnisse individuell zu beraten und zu fördern, ein enormes psychologisches Einfühlungsvermögen und eine pragmatische Umsetzung. Diese Kombination in einer Lehrerpersönlichkeit ist schon etwas ganz besonderes und so verwundert es nicht, dass die heute 80jährigen voller Respekt, Hochachtung und Verehrung von ihm sprechen, so als befänden sie sich noch mitten in der Schulzeit und nicht als seien seitdem mehr als sechs Jahrzehnte vergangen.

Im Folgenden berichten zwei gänzlich unterschiedliche Schulabgänger des Jahres 1953 darüber, wie der Lehrer Albert Seifert ihr Leben beeinflusst hat. Anna, mittlerweile 81 Jahre, ein ganz „normales" Schüllerer Dorfschulkind und Alfred, demnächst 82 Jahre, 1946 siebenjährig aus Ostpreußen geflohen und nach vielen Stationen schließlich in Schüller „angekommen", wo er die beiden letzten anderthalb Schuljahre in der „Obhut" von Lehrer Albert Seifert und als Mitschüler von Anna verbracht hat.

3. Teil:

Anna erzählt aus ihrer Schulzeit 1945 bis 1953

Anna wird 1939 geboren. Ihr Vater, Modellschreiner, ist 1942 gefallen, ihre Mutter muss als alleinerziehende Kriegerwitwe für sich, Anna und ihren Bruder sorgen. Als die Schule im Oktober 1945 wiedereröffnet wird, werden 6 I-Dötzchen eingeschult, eines davon ist Anna. Nach dem Kindergarten, wo sie gelernt hat, sich zu integrieren, freut sie sich auf die Schule und kommt auch hier gut zurecht. Alles ist interessant und neu, Lesen, Schreiben, Rechnen und vor allem Turnen. Später werden sich Mathematik, Geschichte und Rechtschreiben als ihre Lieblingsfächer herauskristallisieren. Weil sie gut zeichnen kann, setzt Lehrer Seifert sie als „Vorzeichne-

rin" an der Tafel ein, wenn ein neuer Lehrstoff im Schulbuch mit einem Bild verdeutlicht wird und für den Unterricht auf die Tafel übertragen werden soll. Bis zur 4. Klasse arbeitet sie mit Tafel, Griffel und Schwämmchen. Ab der 5. Klasse kommen Hefte und die Tintenfässchen, die in die Tische eingelassen sind, zum Einsatz. Lehrer Seifert legt großen Wert auf Konzentration auf eine saubere Schönschrift. Schulbücher, Atlanten etc. werden vererbt oder gegen Lebensmittel, die die Familie zum Tauschen produziert, getauscht. Zu den Aufgaben der größeren Kinder gehört es, den Kleinen beim Lernen zu helfen. Und ganz allgemein lernen alle vom Zuhören beim aktiven Unterricht der Jahrgangsstufe, die „grade dran

ist".

Anna wird später sagen , dass es keinen Tag gab, an dem sie sich morgens nicht gern auf den Schulweg gemacht hat, der, wie für alle Kinder, nicht lang war. Sie erinnert sich an keine ernstzunehmenden Feindschaften oder Schlägereien.

Weil sie groß und schmal ist, wird das zum Gegenstand der Frotzeleien, denen sich kein Kind entziehen kann, bei jedem ist etwas anderes speziell mit dem Kind verbundenes. Aber gerade das kommt ihr beim so sehr geliebten Sport zugute. Besonders stark war sie im Lau-fen-zwischen Kirche und Schule-, Hoch- und Weitspringen in den Gruben, beim Werfen ( selbst Kugelstoßen ) und den Mannschaftsspielen im Schulhof. Die Pausen auf dem Schulhof machen Spaß, weil oft Völkerball gespielt wird. Im Abschlussjahr 1953 hat sich Anna bei den Bundesjugendspielen die seltene Ehrenurkunde „erkämpft", als einzige der teilnehmenden Mädchen aus vier Nachbardörfern, wo schon eine Siegerurkunde etwas tolles ist. Die häusliche Hauptpflicht ist bei Anna, wie bei fast allen Kindern, das Kühe-Hüten, Hilfe beim Versorgen des Viehs und andere einfache Tätigkeiten. Die Kleinen führten eine Kuh am Strick den Wegrand entlang. So gab es saftiges Futter ohne die Wiesen zu beanspruchen und die Wege wurden freigehalten. Wurde man größer ging es mit mehreren Kühen und gleichaltrigen "Kuh-Hirten" weiter weg zu entfernteren Weidegründen. Da kam es schon mal vor, dass sich die Lust auf Krebse-Fangen

im Wirftbach vor die Hüte-Pflicht schob. Leider meist mit fatalen Folgen, erst mussten die Kühe, die ihre eigenen Wege gegangen waren, gesucht und mühsam zurückgetrieben werden und dann gab es zuhause noch eine saftige Strafe. Wenn abends die häuslichen Pflichten erledigt waren, mussten immer noch die Hausaufgaben ernst genommen werden. Mit 9 Jahren wechselt Anna als Hilfskraft in die Familie ihrer Großtante, neben dem Kühe-Hüten zur Unterstützung des Großonkels bei Arbeiten auf dem Feld und im Wald. Der große Vorteil dieser Regelung liegt darin, dass es zuhause einen Esser weniger gibt. Zwar besaß jede Familie Vieh und oft auch Landwirtschaft. Man sollte also meinen, dass es keine Ernährungsprobleme geben konnte. Tatsächlich aber wurden die tierische Produkte wie Butter, Fleisch, Wurst, Gemüse, Obst, Getreideprodukte dringend zum Tausch gegen Kleidung, Schuhe, Gegenstände des täglichen Bedarfs, Geräte für die Feld-und Waldarbeit etc. benötigt. Etwas ganz besonderes waren für die mit einem grünen Daumen geborene Anna die Ausflüge in Wald und Flur, die mindestens einmal im Monat stattfanden. Da konnte Lehrer Seifert seinen interessierten Schülern die Natur mit seinen komplexen und detaillierten Kenntnissen und Fähigkeiten zeigen und erklären. Bei Anna ist er dabei auf einen enormen Wissensdurst und Freude an der Umsetzung der frischen Kenntnisse gestoßen. Ein herausragendes Ereignis am Ende der Schulzeit war das Erdbeben im Frühjahr 1953, mit dem die Vulkaneifel auf sich aufmerksam machte. Die Lehrerfrau spürte es als erste und stürzte zum Klassenraum. Sie schlägt Alarm und alle rennen in den Schulhof, um sich vor einstürzenden Gebäudeteilen zu retten. Zum Glück war der Spuk nach einem ordentlichen Grollen vorbei, hinterließ aber in der Region im wahrsten Sinn des Wortes ein tiefes Erschauern.

Im Winter versteht es sich, dass jeder Schüler beim Raufgehen in den Klassenraum vom Lager im Zwischenstock Holz- und Kohlevorrat für den Kanonenofen mitbringt. Weit anstrengender war das gemeinsame Freischippen der Straße nach Jünkerath, steile 2 km, die für wichtige Personen wie z.B. den Arzt oder Post-

boten und wichtige Transporte geräumt sein musste, bei den damaligen Schneemassen oft eine schwere Herausforderung. Noch heute trauert Anna der nicht stattgefundenen Jahrgangs-Abschlussfeier nach. Im Vorjahr war das Fest zu einem Saufgelage ausgeartet und Lehrer Seifert hat diesen schönen Brauch, mit dem der Schulabschluss mit Blick auf Vergangenheit und Zukunft begangen wurde, kurzerhand beendet. Für die nachfolgenden Jahrgänge eine schwere Enttäuschung. Das macht den Stolz und die Wertschätzung deutlich, die die Schulabgänger mit ihrer Schulzeit verbanden. Das fehlende Abschlussritual ließ etwas wesentliches gewissermaßen unvollendet.

Anna ist heute 80 Jahre alt und hat vier Kinder: 3 Töchter und einen Sohn. Die Töchter: eine Ärztin, eine Verwaltungsangestellte im gehobenen Dienst mit Tochter und Sohn, eine Landwirtin mit großem Hof, zwei Töchtern und einem Sohn und zwei Enkeln. Das macht für Anna 4 Kinder, 5 Enkel und 2 Urenkel. Der Sohn ist Lokomotivführer. Die in Schüller lebenden, Anna, eine Tochter und eine Enkeltochter sind „tragende Säulen" eines seit Jahrzehnten bestehenden Gymnastikkurses, jeden Mittwoch um 20.00 im Gemeinschaftshaus. Die jetzt vierjährige Urenkelin wird sicher bald dazu stoßen. Offensichtlich konnte Anna ihre in der Schulzeit bereits gehegte Freude am Sport weitervermitteln.

Die Bildungsausstattung durch Lehrer Seifert war so fundiert, dass Anna in der Lage war, die Ausbildung ihrer Kinder zu begleiten und zu unterstützen. Wo sie helfen konnte, hat sie selber geholfen, wenn nicht, wusste sie sich mit Selbstvertrauen und Kompetenz die notwendigen Informationen zur Problemlösung zu verschaffen. Es gab noch kein Internet!

3. Teil:

Alfred erzählt aus seiner Schulzeit 1946 bis 1953

Alfred ist 1938 als jüngster Sohn in Ostpreußen, heute Polen, in einen wohlhabenden bäuerlichen Betrieb geboren: Feldwirtschaft, Waldwirtschaft, Fischerei, Pferde, Kühe, Schafe, Ziegen, Truthähne, Gänse, Enten und Hühner.

1945 „kamen die Russen". Es muss hier ganz eindeutig festgestellt werden, dass das was folgt, in umgekehrter Richtung von den Deutschen Jahre zuvor der dortigen Bevölkerung angetan wurde.

Alfreds Vater ist im Krieg und schon bald in Gefangenschaft. Er hat eine Schwester, 12 Jahre alt, und einen Bruder, 16 Jahre alt. Ein Onkel, weil nicht kriegstauglich, lebt mit auf dem Hof.

Alfreds Mutter wurde vom „Feind" mehrfach vergewaltigt, seit Menschengedenken bei „Siegern" absolut üblich und beim russischen Vormarsch nach Westen an der Tagesordnung, besonders beim Einmarsch in Berlin. Alfreds Mutter wurde dann mit vielen anderen Dorfbewohnern nach Sibirien verschleppt. Dort taugte sie aber als Arbeitskraft nicht mehr und wurde zurückgeschickt. Sie starb an Schwäche. Alfred hat sie nicht mehr gesehen und sein weiteres Leben lang die Mutter sehr vermisst.

Der Onkel nahm die drei Kinder mit auf die Flucht in den Westen. Alfred war gerade zwei Monate zuvor eingeschult worden. Eine polnische Familie, die ihnen vorher für die Landarbeit als Gefangene des Deutschen Russlandfeldzuges zugeteilt worden war, obwohl jetzt die „Sieger", verhalf dem Onkel und den drei Kindern zur Flucht. Sie mussten wohl gut behandelt worden sein! Die Flucht dauerte ein halbes Jahr, hauptsächlich per Bahn, von einem ViehtransportWaggon in den nächsten, je nach Bahnhof. Es musste oft gewechselt werden. In diesem Winter 1946/47 war es unmenschlich kalt, und Alfred hat sich gerettet, indem er sich zwischen den Beinen der Erwachsenen fest zu einer Kugel zusammenpresste, mit geringster Angriffsfläche für Kälte. Dann im März 1947 die sichere Ankunft in Schleswig-Holstein, aber alles andere als willkommen. Zigtausende Flüchtlinge waren bereits da oder kamen noch an. Die Einheimischen sahen sich bedroht und Alfred musste sich, mit 8 Jahren gerade wieder eingeschult, öfters mit seinen Fäusten zur Wehr setzen. Der Vater war inzwischen aus der Gefangenschaft entlassen und fand seine Familie über das Rote Kreuz im März 1947 in Leipzig wieder.

Die beiden älteren Geschwister begannen nun ihre eigenen Wege zu gehen. Das Verhältnis zu Bruder und Schwester war bis zu deren Tod sehr eng.

Alfred, mittlerweile 9 Jahre alt, blieb mit dem Vater zusammen in Schleswig-Holstein im Raum Kiel. Der Vater arbeitete 12 Stunden täglich in einem bäuerlichen Betrieb, mit jeweils 1 Stunde Hin- und Rückweg. Alfred ging hier, in der Nähe von Kiel, bis 1950 zur Schule. Dann bot sich eine günstige Gelegenheit für einen Ortswechsel von Vater und Sohn: Spangdahlem in der Eifel. Dort errichten mitten im „Kalten Krieg" die Amerikaner einen strategisch sehr wichtigen Stützpunkt. Es werden Arbeitskräfte benötigt. Wer es damals erlebt hat, erschauert noch heute beim Gedanken an die unwirklich vibrierende Atmosphäre an diesem hochbrisanten Ort auf der westlichsten Grenzlinie zum damaligen „Ostblock". Rund um die Uhr befanden sich ununterbrochen 4 Kampfjets mit laufendem Motor in Startposition.

1951 ergab sich dann ein passenderes Arbeitsangebot für den Vater in der Abtei Himmerod des Zisterzienser-Ordens und die beiden zogen weiter in die Vulkaneifel. Durch eine „kirchliche Kontaktanzeige" lernt der Vater schließlich seine 2. Frau kennen und sie ziehen nach Schüller, ein Dorf etwa 500 m hoch, oberhalb von Jünkerath gelegen. Hier endet Alfreds Odyssee.

Und jetzt beginnt die wichtigste Schulzeit. Er müsste eigentlich mit 14 Jahren die Schule noch in diesem Jahr verlassen. Lehrer Seifert hat aber zugestimmt, ihn nochmals in die 7. Klasse aufzunehmen. Er brauchte ein Abschlusszeugnis, um eine Lehrstelle zu bekommen. Und dazu hat Lehrer Seifert ihm durch individuelle Unterstützung verholfen. Alfred hat bei Lehrer Seifert nur ein Schuljahr zugebracht, aber diese Zeit, die persönliche Zuwendung und die Anerkennung in der Klasse haben ihn nach dem Stress der häufigen vorherigen Schulwechsel stabilisiert und ihm Selbstbewusstsein vermittelt. Er war endlich zuhause angekommen. Zusammen mit Anna war Alfred jetzt in der 8. Abschlussklasse. Trotz des wechselvollen und sporadischen Schulbesuchs in den Jahren

zuvor hatte er sehr gute Noten und bewies auch jetzt sofort Intelligenz und Fleiß und vor allem Freude am Lernen. Und dazu war Lehrer Seifert mit seinem umfassenden Wissen der Richtige. Alfred erinnert sich schmunzelnd, wie man bei Lehrer Seifert immer darauf gefasst sein musste, unerwartet abgefragt zu werden. Er mochte das und er hatte die Antworten meistens parat, weil er in der Freizeit neben der Arbeit gern übte. Ganz große Freude machten Alfred die Pflanzaktionen von Lehrer Seifert am Gemeinschaftshaus und Friedhof, in die der seine großen Schüler einbezog. Mit dem Abschlusszeugnis bekam Alfred eine gute Lehrstelle bei der Bahn in Jünkerath und

wurde dort Maschinenschlosser und wird als solcher von der Bahn weiterbeschäftigt. Dann ist er 10 Jahre Heizer und danach Lokomotivführer von Dampf- und später Diesellokomotiven.

Heute ist Alfred ist 81 Jahre alt, hat einen Sohn, Realschullehrer, und eine Tochter im leitenden Verwaltungsdienst. Um Alfreds Haus herum erstreckt sich ein großes Anwesen, das er ständig gestaltet und pflegt, seit seiner Pensionierung viele Stunden am Tag. Eine glückliche Symbiose des frühen, vom elterlichen Hof herrührenden Lebens im Verbund mit der Natur und der Nähe zu Pflanzen und der späteren Förderung dieser Eigenschaften und Fähigkeiten durch Lehrer Seifert.