Die Siebenmeilen-Stiefel meines Bruders

Wilma Herzog, Gerolstein

Die Amerikaner waren Anfang März 1945, von Michelbach kommend, stundenlang durch Büscheich gezogen mit schweren Panzern und anderen Kettenfahrzeugen, Geschützen, Lkws, Jeeps und Mannschaften. Mein Bruder Karl Peter (9 Jahre) und ich (10 Jahre) standen mit den Nachbarkindern an

der Straße und beobachteten alles mit ernsten Mienen.

Unsere Mutter regte sich sehr auf, denn sie hatte Angst, dass uns mit all dem Kriegsgerät durch die Amerikaner etwas passieren könnte. Sie kam mehrmals, um uns heim zu schicken, vergeblich.

Der Durchzug der Amerikaner hinterließ eine total zerstörte Dorfstraße mit tiefen Spurrillen. Erst als das Militär vorbeigezogen war, gingen wir ins Haus. Das war das der Großeltern; zu ihnen hatten wir uns aus dem zerbombten Gerolstein gerettet. Opa hatte Fichtenreiser vor der Treppe zur Haustür gelegt, um Schuhe vom ersten Dreck abzutreten und oben direkt vor der Haustür lag ein alter Kartoffelsack, an dem wir Kinder uns nochmals die Schuhe rundum abputzten. Doch Karl Peter war das nicht gründlich genug, er wollte es besonders gut machen. Er zog seine Schuhe aus und stellte sie seitlich vor die Haustür. Als er sie wieder anziehen wollte, waren sie weg, sein einziges Paar Schuhe. Wenn er zum „Häuschen" musste, lieh er sich meine Schuhe. Denn zu kaufen gab es damals nichts.

Einige Male landete direkt dem Hälten-Haus der Großeltern gegenüber ein „Fieseler Storch". Da mussten wir Kinder ja unbedingt hin. Es war spannend, wie er vor dem Abflug - per Hand - in die gewünschte Richtung gedreht wurde.

Später geriet ein amerikanischer Panzer in Büscheich, direkt vor „Bloome"-Haus, in eine Panzerfalle. Mein Bruder und ich mussten uns das natürlich ansehen. Da fanden wir auf einem Misthaufen in der Nähe ein intaktes US-Päckchen, wohl eine Art „Eiserne Ration". Darin befand sich eine Schachtel, die derart gut nach Pfefferminze duftete; sie enthielt kleine weiße „Dinger", an denen wir erst leckten, das war richtig süß. Denn in dieser Zeit gab es überhaupt nichts Süßes für Kinder. Dann kauten wir darauf. Das Komische war, man konnte kauen, solange man wollte, doch ihre Substanz blieb erhalten. Das war uns total suspekt, darum spuckten wir das Zeug aus. Wir wussten ja nicht, dass es „Kaugummi" war. Es waren auch unter anderem komisch runde, aufgerollte Gummidinger darin, deren Gebrauch wir uns nicht vorstellen konnten. Da wir Kinder immer wieder gewarnt wurden, dass die Amis aus ihren Flugzeugen Dinge abwerfen, damit deutsche Kinder sie finden und essen, um daran zu sterben, bekamen wir Angst, weil wir das Pfefferminzzeug gekaut hatten. Wir nahmen also schnell die Seife,

die auch in dem Päckchen war, und wuschen uns am Küchenbecken der Großeltern gründlich damit den Mund aus. Da ergriff mich die Panik: „Und wenn die Amis auch die Seife vergiftet haben!" Mein Bruder meinte, wir könnten ja schnell eine Ziege melken, um mit der Milch das Gift zu neutralisieren. Das machten wir dann doch nicht, weil wir im Bauch nichts Ungewöhnliches bemerkten. Bei der Internetrecherche fand ich nun eine Meldung der US- Armee, die besagte, dass diese an einem bestimmten Tag Anfang März 1945 in Michelbach (gleich unterhalb Büscheich) den Soldaten frische Socken und Schuhwerk, falls nötig, ausgegeben hätte. Darum fand unser Vater damals das Paar weggeworfene US-Militärstiefel. Sie wurden weggeworfen, nur weil eine der Schnallen lose war!

Schnell hatte Vater die Schnalle festgenäht, waren Einlegesohlen aus doppeltem Pappdeckel geschnitten und welch eine Freude: Mein Bruder stieg in die Stiefel hinein und sie passten ... fast. Jetzt noch ein zweites Paar gestrickte Wollstrümpfe angezogen und er ging stolz darin hin und her. Wir nannten die Schuhe „Die 7-Meilen-Stiefel".

Dann machte eine gute Nachricht die Runde, dass bald die Sexta des Gymnasiums in Gerolstein eröffnet werden sollte. Es gab jedoch seit Monaten keinen Schulunterricht mehr. Mutter bat den pensionierten Rektor Krock, der in Gerolstein ausgebombt, nunmehr in Michelbach wohnte, meinen Bruder für diese Aufnahmeprüfung vorzubereiten. Rektor Krock kam also mehrmals die Woche mit seiner Milchkanne zu uns nach Büscheich, denn er hatte sich Ziegenmilch als Bezahlung gewünscht. So wurde mein Bruder bestens auf

die Aufnahmeprüfung vorbereitet, als zum ersten Mal nach dem Krieg das Gymnasium in Gerolstein seine Pforten für Schüler öffnete! Karl Peter ging in seinen Sieben-Meilenstiefeln morgens in der Frühe mit den Schichtarbeitern des Sprudels die fünf Kilometer nach Gerolstein. Er schaffte es, mit den Männern Schritt zu halten und er gehörte zu der Hälfte der Schüler, welche die Aufnahmeprüfung bestanden!

Welch eine Freude! Welch frohe Hoffnung, dass nun doch alles bald wieder gut wird!