Die Nebelfrau

Wilma Herzog, Gerolstein

Im rauen Teil der Eifel war Ritter Milboury in seinem ureigensten Element. Kühn schlug er sich den Weg durch das wildeste Gebiet, durchschwamm eisige Fluten, überwand schroffstes Felsgestein. Er - als einziger -wagte sich allein in der Nacht durch jene Eifel-wälder, die darum noch keines Menschen Fuß berührt hatten, weil dort Geister lebten. Eines Tages gewann er die Wette, hoch zu Ross eine breite Felsschlucht zu überspringen, da wagte es selbst der Kühnste nicht mehr, sich

ihm entgegenzustellen. Auch nicht der Vater seiner Braut Adelgunde, der sein einziges Kind vor diesem wilden Mann schützen wollte. Der raue Ritter aber liebte dieses Mädchen über alles, und wenn einer gewagt hätte zu sagen, dass seine Treue zu ihr eines Tages wanken könne, den hätte er öffentlich auspeitschen lassen.

Als er eines Nachts wieder hinausritt in wildes Waldterrain, kam plötzlich ein gewaltiges Unwetter auf. Regen vermischte sich mit pras-

selndem Hagel. Donner echote von den Felsen, Blitze schlugen in uralte Buchen, dass sie krachend und ächzend zerbarsten. Bäche stiegen hoch.

Der Ritter versuchte hier, dann dort weiterzukommen. Vergeblich! Als er den Weg nicht mehr zurückfand, stieg er ab, band sein Ross an einen Baum und suchte Schutz unter einem Felsvorsprung, um das Ende des Unwetters abzuwarten. Plötzlich stand vor ihm eine weiße Gestalt. Der Ritter riss sein Schwert aus dem Gürtel und schrie ärgerlich: „Wer wagt es, sich Ritter Milboury in den Weg zu stellen?"

Aus der verschleierten Gestalt klang besänftigend eine liebliche Frauenstimme: „Ich bin die wohltätige Waldfee. Ich zeige Euch den rechten Weg, edler Ritter." Damit hob die Frau ihren Schleier und blickte ihm tief in die Augen.

Sie war so schön, sie wirkte viel edler als jene Frauen, denen er seine Minne angeboten hatte. Er verneigte sich tief vor ihr, dabei schoss ihm kurz die Erkenntnis durch den Kopf, dass sie noch viel schöner sei als seine Adelgunde. Die verschleierte Gestalt, die sich Waldfee nannte, bedeutete ihm zu folgen. Wie im Traum folgte er ihr. Plötzlich erinnerte er sich des Treueschwurs, den er seiner Braut erst einen Mond zuvor gegeben hatte. Als könne sie seine Gedanken lesen, drehte sich im selben Moment die Verschleierte um, kam näher und - umarmte ihn. Da ließ er sich willenlos von ihr fortführen,

so wie man ein Kind mit einem Versprechen auf etwas Wunderschönes fort lockt. Sie gelangten bald zu einer hoch aufragenden Felswand, vor der die Weißgekleidete ein paar Farnwedel abbrach, damit den Fels berührte, wobei sie einen Spruch murmelte. Der Fels öffnete sich lautlos zur geräumigen Höhle. Dahinter lag, in gleißender Helle - inmitten eines riesigen Parks - ein herrliches Schloss. Wichtel in silberbetressten Uniformen liefen ihnen entgegen. Durch ihre Ehrerbietungen erfuhr Ritter Milboury, dass die Verschleierte die Herrin dieses Schlosses war, das mit einem solchen Prunk ausgestattet war, den er weder im eigenen Land noch in den fernen Ländern der Sultane je gesehen hatte. Und wieder sah ihm die Frau tief in die Augen, berührte dabei seinen Arm, dann flüsterte sie betörend: „All das ist Dein, wenn Du bei mir bleibst!" Dem Ritter verschlug ihr Angebot die Sprache, denn nichts hätte er sich sehnlichster gewünscht, als bei dieser holden Frau auf immer zu bleiben. Da kam ihm plötzlich Adelgundes Antlitz vor Augen und er erkannte die Versuchung, der er fast erlegen wäre. Rasch bekreuzigte er sich und rief mit fester Stimme: „Das kann ich nicht! Meiner Adelgunde schwor ich ewige Treue!" Damit wandte er sich um und eilte in Richtung der Höhle, um durch sie zurück zu seinem Pferd zu finden und dann irgendwie aus dem Wald. Da hörte er eine widerlich krächzende Stimme, die sich überschlagend schrie: „Willst Du mich nicht, so soll Dich keine andere haben! Aus dem Wald kommst Du nie wieder heraus!"

Ein hämisches Lachen folgte und gleichzeitig umschloss ihn dichter Nebel. Er fiel auf die Knie - und was er selbst in blutigsten Kämpfen nie getan hatte - er betete. Da vernahm er von fern her ein Geläut. Es war das Glöckchen, mit dem ein Einsiedler zum „Engel des Herrn" läutete. Ritter Milboury folgte diesem Klang. Der führte ihn zur Klause, wo der fromme Mann dem Ritter erklärte, dass er der Erste sei, der je lebend der gefürchteten Nebelfrau entkommen sei, die allerlei Gestalten annehmen könne, um Menschen in die Irre zu leiten. Danach führte er den Geretteten auf sicherem Pfad aus dem Wald hinaus.