Eis auf dem Titicacasee

Ernst Krämer, Gerolstein

„Es war einmal..." - so fangen im Allgemeinen Märchen an. Doch keine Angst, bei dieser Geschichte handelt es sich nicht um ein Märchen, hier wird die Geschichte einer furchtlosen und zu allem entschlossenen Gruppe erzählt, die sich im kältesten Winter in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf den Weg zum Titica-casee machte.

Seien Sie versichert, liebe Leser, diese Geschichte hat sich tatsächlich so zugetragen, wie sie hier niedergeschrieben ist. Sie ist so wahr, so wahr es den Titicacasee gibt. Zugetragen hat sich diese waghalsige und ungewöhnliche Expedition vor über einem halben Jahrhundert und zwar im Februar 1963. Jetzt werden Sie sich zu Recht fragen: „Wieso hat man denn nie etwas von dieser Sache gehört? Warum ist das damalige Geschehen über all die Jahrzehnte mit keinem Wort und keiner Zeile erwähnt worden?" Ganz einfach - weil sie geheim war!

Es war nicht eine von diesen Vergnügungsoder Abenteuertouren von irgendwelchen steinreichen Snobs, hier handelte es sich um eine streng geheime Geheimaktion, die so geheim war, dass bis dato die wahren Hintergründe des Geschehens sowie die Namen der Personen, die an der Expedition teilgenommen hatten, nirgends, auch nicht in dem geheimsten Geheimpapier, auftauchten. Die Expedition unter dem Decknamen „Eis auf dem Titica-casee" hatte offiziell nie stattgefunden! So kam es, dass die Geschichte immer mehr in Vergessenheit geriet und letztendlich in einen „Dornröschenschlaf' verfiel. Es kursierten zwar Gerüchte und Vermutungen zu genüge in der Welt herum, hinter vorgehaltener Hand wurden von den unglaublichsten Leuten die unglaublichsten Geschichten erzählt. Doch keiner wusste was Genaueres - Gerüchte eben!

Da wir uns zur damaligen Zeit auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges befanden, wurden selbst der amerikanische CIA und der russische

KGB als Drahtzieher hinter der Aktion vermutet.

Nach Jahrzehnten erst lüftete sich langsam der Schleier des Schweigens, der über dieser Geschichte gelegen hatte. Es waren die Protagonisten des damaligen Geschehens, die das Schweigen brachen, in der Hoffnung, endlich die Anerkennung zu erhalten, die ihnen vor über fünfzig Jahren verweigert wurde und dass IHRE Expedition zum Titicacasee einen würdigen Platz in den Geschichtsbüchern finden möge.

Genug Pathos - genug Lobhudelei, kommen wir zum Kern der Geschichte! Wie schon eingangs erwähnt, fand das Unternehmen „Eis auf dem Titicacasee" in einem der kältesten und schneereichsten Winter des vergangenen Jahrhunderts statt. 125 Tage nur klirrende Kälte mit Schneemassen wie sie heute nicht mehr vorstellbar sind. Trotz aller Bedenken und Warnungen vor Risiken und möglichen Gefahren ließ sich die Gruppe, die aus neun Personen unterschiedlichen Alters bestand, nicht von ihrem Vorhaben abhalten.

Die Triebfeder für das, als Himmelfahrtskommando eingestufte Unternehmen, war eine schändliche Tat zu rächen, die sich zwei Wochen vorher in ihrem Hoheitsgebiet zugetragen hatte. Doch dazu später! Ausgangspunkt der - sagen wir mal „Strafexpedition" - war eine windschiefe Bretterbude, durch deren Ritzen der eisige Sturm samt Schnee ungehindert hindurchpfiff. So jämmerlich und heruntergekommen wie die Bretterbude, so wirkte auch die Gruppe, deren Kleider die sie am Leibe trugen, genau so wenig im Stande waren, den eisigen Wind abzuhalten, wie die Bretterbude, in der sie sich befanden.

Um wenigstens etwas gegen die eisige Kälte geschützt zu sein, trugen sie eine aus mehreren Wollresten zusammengestrickte Bommelmutze, die tief über Ohren und Stirn gezogen

waren. Dazu einen dicken Schal, den sie über Hals, Mund und Nase gewickelt hatten, sodass nur noch die Augen frei waren. Der Schal hatte nicht nur die Aufgabe vor der Kälte zu schützen, sondern er sollte auch das Gesichtsfeld - im Falle einer Entdeckung vor späterer Wiedererkennung schützen. Die Hände waren in grob gestrickten und schon mehrmals geflickten Fausthandschuhen, mehr schlecht als recht, vor der Kälte geschützt. Die Füße steckten - nicht wie es heute üblich wäre in „atmungsaktiven IsoTherm Schuhen" - nein, sie steckten in „hundsgewöhnlichen" Gummistiefeln, in denen man unweigerlich Frostbeulen bekam.

So standen sie nun da, jeder ausgerüstet mit einem einfachen Brechwerkzeug wie Spitzhacke, Brechstange, Axt, Vorschlaghammer und warteten auf den Einbruch der Dämmerung, denn nur im Schutze der Dunkelheit konnte man den gefährlichen Weg zum Titicacasee wagen.

Punkt 18 Uhr machte sich die Gruppe auf den Weg. Wie in einem Gänsemarsch stapften sie durch den hüfthohen Schnee. Der Expeditionsleiter versuchte mit dem spärlichen Licht einer Taschenlampe den Weg auszuleuchten, was jedoch kläglich scheiterte. Das Schneetreiben war so dicht, dass man die Hand nicht vor Augen sah.

Aus Furcht vor Entdeckung schlug man einen großen Bogen um jegliche Straßen und bewohnte Gebiete. Da der Titicacasee im Westen vom Ausgangspunkt der Expedition lag, bewegte sich die Gruppe zuerst einmal in Richtung Süden bis zu einem mit Sträuchern und Hecken überwucherten Bergrücken. Nach einer kurzen Verschnaufpause gingen sie auf einem leicht abfallenden Gelände in nordwestliche Richtung.

Das Schneetreiben hatte etwas nachgelassen und sogar der Mond ließ sich ab und zu zwischen den Wolken blicken und tauchte die mit schweren Schritten dahinziehende Gruppe, in ein gespenstiges Licht. Durchgefroren und erschöpft stapften sie, wie im Tran, immer weiter durch die hohen Schneemassen. Selbst der Mond konnte den jammervollen Anblick nicht länger ertragen und verschwand hinter den grauen Schnee

behangenen Wolken. Keiner glaubte mehr so recht daran, das Ziel zu erreichen. Die Stimmung war so tief gesunken wie die Quecksilbersäule des Thermometers. Plötzlich - von einem Augenblick zum anderen - änderte sich die Stimmung. Der Mond hatte für einen kurzen Moment hinter einer dicken Wolke hervorgeschielt und wie ein Wunder tauchten in seinem Schein die Konturen des zugefrorenen Titicacasees auf. Euphorie machte sich breit, Müdigkeit und Erschöpfung waren wie weggeblasen - jubelnd liefen sie wie von Sinnen auf das Eis und schlugen mit ihren Werkzeugen, die sie den weiten Weg mitgeschleppt hatten, wie die Berserker immer und immer wieder mit voller Wucht auf die Eisfläche. Das ganze „Zinnober" dauerte circa fünfzehn Minuten, danach sah die Eisfläche aus, wie von einem Bagger umgepflügter Kartoffelacker!

Voller Stolz und mit Genugtuung betrachteten sie ihr Werk und mit den Worten: „Jetzt sind wir Quitt", drehten sie sich um und verschwanden unerkannt in der Dunkelheit der Nacht. Keiner wusste, wer sie waren und wo sie hergekommen sind! Ihre Spuren waren innerhalb von wenigen Augenblicken vom eisigen Schneesturm zugeweht worden. Heute - nach 57 Jahren - sind endlich der Schnee und das Eis geschmolzen und das wahre Geschehen, das ich aus den Erzählungen von Zeitzeugen niedergeschrieben habe, kommt ans Tageslicht.

OK - das Ganze ist, ich gebe es zu - ein wenig von mir hochstilisiert worden. Dafür möchte ich um Verzeihung bitten, aber wie hätte ich sonst eure Aufmerksamkeit für diese Geschichte wecken können?! Fakt ist - und da lässt sich nicht dran Rütteln - es war tatsächlich einer der kältesten Nachkriegswinter mit Minusgraden und Schneefällen von November 1962 bis April 1963. Auch die windschiefe Bretterbude hat es gegeben. Auch der in dieser Geschichte beschriebene Titicacasee ist keine Erfindung von mir! Dem Leser, der beim Geografie- bzw. Erdkundeunterricht, wie es zu meiner Schulzeit hieß, aufgepasst hatte, war sich natürlich sofort im Klaren, dass nicht der Titicacasee in Peru gemeint war, sondern der in Gerolstein.

Der „Titicacasee", von dem hier die Rede ist, befand sich dort, wo heute die Grundschule steht. Ein Kinderspielplatz, der den Namen „Titicacasee-Spielplatz" trägt, erinnert heute an den legendären See, der in Wirklichkeit ein großer Bombentrichter war. Da es sich bei dem ehemaligen Gelände um ein Feuchtgebiet handelte, war der Bombentrichter das ganze Jahr über mit Wasser gefüllt - und dem zu Folge im Winter auch immer mit einer dicken Eisschicht bedeckt, die sich vorzüglich zum Schlittschuhlaufen eignete. Nutznießer dieser „Natureisbahn" waren die Kinder und Jugendlichen des Burgrings. Auf Grund ihrer unmittelbaren Nähe zum „Gerolsteiner Titicacasee" beanspruchten sie ohne Wenn und Aber die Hoheitsrechte des Selbigen!

Diese „Hoheitsrechte" wurden von ihnen auch rigoros durchgesetzt. Sie bestimmten, wer auf dem Titicacasee Schlittschuhelaufen durfte und wer nicht! Da das „Gehabe" bei den Kindern und Jugendlichen der anderen Straßen nicht so gut ankam, gab es des Öfteren mal eine schöne „Klopperei", die aber zur Ehrenrettung aller Beteiligten meist unblutig von statten ging.

Die meisten „Kloppereien" lieferten sich jedoch die „Pänz vom Kireschewäsch" (Burgstraße) mit den selbst ernannten „Herrschern" des Titicacasees, aus denen - und das ist nach Berichten der Zeitzeugen auch belegbar- die „Pänz vom Kireschewäsch" so gut wie immer als Sieger aus dem Clinch hervorgingen! Das nur mal nebenbei erwähnt! Und nun liebe Leser, kommen wir zur Aufdeckung der wahren Hintergründe jener geheimen Strafexpedition, die von einer neunköpfigen Gruppe im Februar 1963 unter extremen Bedingungen durchgeführt wurde. Wer waren nun die Protagonisten, die bei Sturm und klirrender Kälte durch den Schnee gestapft sind, um das Eis des Titicacasees in einen „Kartoffelacker" zu verwandeln? Es waren die Kinder und Jugendlichen aus dem „Kireschewäsch" - kurz „Pänz" genannt- im Alter von elf bis fünfzehn Jahren, die sich auf den Weg machten, um Revanche zu nehmen für die schändliche Tat, die sich zwei Wochen vorher zugetragen hatte!

Jetzt stellt man sich zwangsläufig die Frage: „Was war das denn für eine schändliche Tat, die sich damals zugetragen hatte?" Um die Antwort besser zu verstehen, muss man wissen, dass die „Pänz vom Burgring" immer ein wenig in Konkurrenz mit den „Pänz vom Kireschewäsch" standen. Der Burgring hatte einen zugefrorenen Bombentrichter, dem sie irgendwann mal den Namen Titicacasee gegeben hatten - auf dem man im Winter Schlittschuhlaufen und Eishockey spielen konnte.

Dafür hatte die Burgstraße zweifelsohne die beste Schlittenbahn von Gerolstein. Der erste Teil war steil abfallend, was den Schlitten auf die richtige Geschwindigkeit brachte. Dann ging es - mit einer weiteren Temposteigerung in einer leichten Rechtskurve an den heiligen Mauern von St. Anna vorbei - bis runter zur Normaluhr.

Die Kinder der anderen Straßen, die ebenfalls mit ihrem Schlitten die Burgstraße runtersausen wollten, stellten für die Kinder der Burgstraße kein Problem dar - sie waren alle herzlich willkommen - bis auf die aus dem Burgring!

Diese Abneigung kam natürlich nicht von ungefähr, denn jedes Mal, wenn sie mit einem sogenannten „Bob", das sind mehrere hintereinander gebundene Schlitten, die Burgstraße runtersausten, war die Bahn sanierungsbedürftig.

Das resultierte aus der Tatsache, dass der Lenker, der vorne auf dem ersten Schlitten sitzt mit den Füßen, die zwischen den Kufen platziert sind, den „Bob" steuert. Normalerweise hat der Lenker Gleitschuhe an, die sich hervorragend zum Steuern eignen und keine Schäden an der Schneebahn verursachen. Solche Gleitschuhe waren gang und gebe beim Bobfahren im „Kireschwäsch". Alle hielten sich daran - nur nicht die „Pänz vom Burgring". Sie hatten immer und grundsätzlich ihre Schlittschuhe an, die zum Steuern total ungeeignet waren, da sie erhebliche Schäden auf der Schneebahn verursachten. Und da die „Pänz vom Burgring" nach solchen Schlittschuhfahrten keine Einsicht zeigten, gab es mal wieder eine kleine Klopperei, auf dessen Folge hin die „Pänz vom Burgring"

fluchtartig das Weite suchten. Die Retourkutsche ließ aber nicht lange auf sich warten. Kurze Zeit später tauchten sie mit Verstärkung wieder auf. Sie war so zahlreich, dass jeglicher Widerstand zwecklos war. Mit den Schlittschuhen an ihren Füßen legten sie sich bäuchlings auf den Schlitten und drückten bei voller Fahrt die Spitzen der Eisenkufen in die Schneebahn. Hier kann sich selbst der größte Laie vorstellen, wie die Bahn anschließend aussah. Ein richtiges Schlittenfahren war da nicht mehr möglich! Grölend verließen die Übeltäter den „Ort der Verwüstung" in Richtung Burgring.

Das war der wahre Grund, liebe Leser, der dazu führte, dass sich vierzehn Tage später eine „geheime Strafexpedition" bestehend aus den „Pänz vom Kireschewäsch" zum „Titicacasee" aufmachte um diese Schändliche Tat zu rächen - was ihnen nach Erzählungen von Zeitzeugen auch gut gelungen ist!

Bitte haben Sie Verständnis, dass ich - aus Datenschutzgründen - die Protagonisten dieser geheimen Strafexpedition nicht namentlich nennen kann und will, denn auch nach all den Jahrzehnten sind „Repressalien" von den damaligen „Pänz vom Burgring" nicht ganz ausgeschlossen!