Achim mit den blauen Haaren

Roswitha Gräfen-Pfeil, Mosbach

Der Typ stand an jenem Maitag wie aus dem Boden gewachsen vor mir, als ich von der Zeitung aufschaute.

Selten wurde ich angesprochen, obwohl ich fast jeden Tag im Park war und auf dieser Bank saß.

Der sah vielleicht aus: Blaue Haare, Militärhose, enger lila Pullover, Ohrringe beidseitig. „Hallo, ich bin Achim", sagte er bedächtig und setzte sich.

Irgendwie stand seine grelle Aufmachung im Widerspruch zu seiner Ausstrahlung. Die hängenden Schultern und der Gesichtsausdruck wirkten traurig.

Ich ließ die Zeitung sinken: „Na, hast du Probleme?"

„Ich suche Menschen, um mich mit ihnen zu freuen. Darf ich dich kennen lernen ?" „Du bist jung, du bist soweit ich sehe gesund, hast Zeit vormittags hier im Park zu sein. Was fragst du mich? Ich bin alt und nicht gesund " Betroffen schaute er mich an. „Warum fragst du ausgerechnet mich?", wiederholte ich.

„Weil du allein bist, du liest Zeitung", stellte er fest.

„Klar bin ich allein, aber Zeit habe ich trotzdem nicht, ich bin sogar sehr beschäftigt", schnauzte ich ihn an und wollte aufstehen. Er legte seine Hand auf meinen Arm und sah mich eindringlich an. Ich blieb sitzen, fühlte mich jedoch unbehaglich. „Du liest immer Zeitung, hinterher weißt du,

was weit entfernt passiert. Was hier vor deiner Nase los ist, weißt du nicht. Erinnerst du dich, wie es ist, einem anderen Menschen zu begegnen und zu erkennen, was in seinen Augen sichtbar wird?"

Unverfroren und hartnäckig war diese Kreatur!

Wütend wollte ich aufbegehren. Ich schaute in seine Augen und schwieg. Trauer machte mich sprachlos. Recht hatte er, ich wohnte seit vielen Monaten hier und kannte noch niemanden wirklich. Die kostbaren Augenblicke im Alltag, in denen ich mich nicht in einer Rolle fühlte, waren rar. Es wäre schön, gelegentlich mit jemanden spazieren zu gehen oder zu reden. Die vorübergehenden Menschen starrten uns an, seine blauen Haare fielen auf. Lächelnd meinte er: „Wenn du mitmachst, lernen wir einander kennen!" „Ich bin nicht froh, ganz im Gegenteil. Ich habe viel im Leben mitgemacht. Such dir doch junge Leute", wehrte ich ab. „Wir reden miteinander, das Alter ist dabei gleichgültig. Wir sollten weiterreden und etwas gehen. Was war dir schwer im Leben, worüber kannst du lachen? Hast du Fragen an mich?"

„Ja, warum färbt jemand seine Haare blau?", entfuhr es mir spontan. „Warum können Haare nicht einmal blau wie der Himmel sein? Ich will, dass die Menschen lachen und wenn es über blaue Haare ist. Noch lieber wäre mir natürlich, wenn mich jemand

anspräche und ein Austausch zustande käme,"

bemerkte er, als wir aufstanden.

Ergeben steckte ich die Zeitung ins Jackett

und spazierte neben dem jungen Mann durch

die Anlagen. Gott sei Dank kannte mich kaum

jemand!

„Da kommt ein Luftballonverkäufer, der zur Kirmes will!" rief er plötzlich und zeigte Richtung Ausgang, „ich werde uns zwei Ballons spendieren. Komm mit!" Die Idee war so grotesk, dass mir kein Einwand einfiel.

Er kaufte sich einen herzförmigen Ballon in grellem Rosa, ich suchte mir einen runden blauen aus.

Die Menschen beobachteten uns kopfschüttelnd, als wir weitergingen. Zaghaft kamen erste Sonnenstrahlen durch die Dunstschleier und wärmten. Der Flieder roch betörend. Es würde ein schöner Tag werden. Behutsam ging dieser junge Mann neben mir, der mein Enkel sein könnte. Sorgsam passte er seine Schritte meinem gemächlichen Gang an.

„Sieh nur, die Menschen staunen, wenn sie uns erblicken", rief er aus, als wir in die Hauptstraße kamen. War das wirklich so? Die Kinder lachten, die Erwachsenen starrten uns an.

Links und rechts von uns wehten die Ballons. Ich fasste Achims Arm. „Komm mit mir, ich lade dich ein in die Cafeteria unseres Altenheimes," entschlüpfte es mir.

Es geschah etwas Eigentümliches: Ich fühlte mich frei wie lange nicht mehr, leicht und beschwingt.

Es gab noch Leben vor dem Tod! Schallend begann ich zu lachen, alles war schrullig und ungewohnt und herrlich. Ich, der alte Richter Hildebrand, ging mit einem jungen Punker Luftballons schwingend durch den Ort!

Die beiden Luftballons banden wir ans Geländer beim Eingang des Altenheimes. Achim sagte, die Vorübergehenden würden sich freuen.