Die Gunst der Stunde

Wilma Herzog, Gerolstein

Sein Da-Sein blieb auf immer unerklärbar! Aus dem Nichts schien er gekommen, an jene Stelle, am ersten Tag. Unter dem mächtigen Baum lag er, so, als sei er gerade aus einem tiefen, traumlosen Schlaf erwacht. Es war das Grün, das er als erstes, zu seinen Füßen sah. Nicht ahnend, dass diese auch noch ein Teil von ihm waren. Unwillkürlich bewegte er die Augen, schaute hoch und blickte in die sich vom Wind bedrohlich bewegenden Zweige über ihm. Er sah nieder und erkannte voller Schrecken, dass er in einer Form steckte - die beweglich war - durchlässig - für Bilder, Laute, Gerüche....

Er drehte den Kopf, hob die Arme, krümmte und öffnete die Hände, betastete seinen Leib. Er spürte Wärme, fand im Gesicht die Öffnung, erprobte ihr feucht-warmes Innere und biss sich fast auf den Finger dabei. Er fühlte beides gleichzeitig, dass er berührte und - sich berührt fühlte. Und eine allumfassende Angst nahm ihn in Besitz. Er blieb reglos liegen. Was war denn das? Selbstständig hob und senkte sich sein Oberkörper. Zugleich klopfte etwas drinnen heftig und schnell. An anderer Stelle fing etwas an, schmerzhaft zu wühlen. Später nannte er das eine Herz und Hunger das bohrende Gefühl. Am ersten Tag waren es furchterregende Entdeckungen! Kaum hatte er eine gemacht, folgte eine neue! Er wollte das alles nicht! Er wollte nur eines, zurück in seinen großen traumlosen Schlaf, darum presste er die Augenlider fest zusammen, um alles auszuschalten und sich die Rückkehr zu erzwingen ins Nicht-Sein. Plötzlich fiel ein Blatt vom Baum auf seine Stirn, er zuckte zusammen, saß auf, seine Angst zwang ihn die Augen weit aufzureißen!

So war es, damals, an seinem ersten Tag. Heute wusste er mehr! Er kannte sich sogar gut in allem aus. Er hatte seine Umgebung erkundet, erst furchtsam umherkriechend. Bald aber gelang es ihm, sich aufzurichten, erst gebeugt, ängstlich und schwankend stand er da, doch

als die Frucht des Baumes auf ihn fiel, sackte er wieder zusammen, spähte ängstlich umher. Er sah eine spiegelnde Fläche, da wollte er unbedingt hin. Erst übte er das Stehen, später -aus dem Stand kam ein Fuß tastend nach vorne, er spürte wie hart etwas darunter lag und wie sein Fuß davon schmerzte. Stein nannte er das Harte. Er lernte mehr und mehr kennen und wurde mutiger, so dass er bald kraftvoll ausschreiten konnte. Jetzt mied er die scharfkantigen Steine und vor allem die Dornen. Er drang weiter und immer tiefer ins Revier ein. Viele Namen hatte er erfunden und an seine Umwelt vergeben. Sie hießen Wasser, Wind und Bäume, Tiere und Gestein. Auch für sich selbst fand er einen Namen, nachdem er sein Bild im ruhigen Spiegel eines Teiches entdeckt und lange betrachtet hatte. Als er einen Stein in das Wasser warf und sein Spiegelbild sich ins Nichts verzerrte, betastete er ängstlich sein Gesicht. Aber es fühlte sich unversehrt an. Nach einer Zeit fielen ihm gewisse Regelmäßigkeiten auf, er kannte die Wiederkehr des Tages und der Nacht und später auch die der Jahreszeiten. Er hatte den Tieren der Luft Namen gegeben, auch denen des Wassers und all jenen, die ihm begegneten. Sonne und auch Regen auf der Haut empfand er als wohltuend und zuletzt verlor er sogar seine panische Angst vor den aufregenden Erscheinungen, die er Gewitter nannte. Als mit wachsenden Erkenntnissen seine Furcht langsam schwand, lernte er seine Vorlieben kennen für bestimmte Früchte und Beeren. Heute führte ihn sein Hunger wieder zurück zu den wohlschmeckenden Früchten jenes Baumes, den er den Baum der Ankunft genannt hatte. Doch was war das? Von der Sonne geblendet konnte er das Tier im Schatten des Baumes nicht sofort erkennen und einordnen. Unwillkürlich fuhr er über die große vernarbte Stelle im Rippenbereich, wo ihn einmal die Tatze einer Löwin gepackt hatte, deren Jungem er zu nahe gekommen war. Vorsichtshalber duckte er sich hinter

einen Busch, um das fremde Tier ungesehen beobachten und einordnen zu können. Er erschrak heftig und begann zu zittern. Da lag kein Tier! Da lag etwas viel Schlimmeres! Ein Eindringling!

Genau an der Stelle, an der er sich damals vorgefunden hatte, am allerersten Tag. Gedanken schossen wie Blitze durch seinen Kopf.

Er schloss einen Moment die Augen, kniff sich fest in den Arm. Nein, es war kein böser Traum! Die schreckliche Bedrohung blieb! So wie er damals würde der Neuling bald aufwachen und hungrig sein, Früchte würde er finden und essen. S e i n e Früchte finden! S e i n e Früchte essen!

Der Beobachter spürte, wie nach langer Abwesenheit, die alte, alles bedrohende Angst ihn wieder komplett einnahm: Der Neue würde ihm seine Rechte streitig machen zu den süßesten Früchten, dem besten Schlafplatz, der kühlsten Quelle!

Muss er jetzt darum kämpfen, wie Tiere es untereinander tun, um ihn zu vertreiben? Dann käme der Fremde womöglich zurückgeschlichen - gar in finsterer Nacht - während er schlief!

Sein Anrecht auf das Erste und Beste von allem, das sein Gebiet bot, niemals würde er das an den Neuen abtreten! ER war schließlich zuerst da! ER hatte alles in s e i n e n Besitz genommen! ER war der Herrscher, der Herr über alles, über das sein Blick jetzt wieder schweifte. Herr über a l l e s? Dann doch auch Herr über den Neuling! Ja! Ja! Er war Herr auch über diesen Eindringling! Aber - wie dem das übermitteln? Dafür müsste eine unwiderlegbare Begründung her! Noch war keine ersonnen, da wachte der Fremde bereits auf. Er bewegte sich ängstlich. Wie der Beobachter das alles kannte!

Und wie er - trotz alledem - die feine hellere Haut und die angenehme Form des Eindringlings registrierte! Mit steigender Neugierde betrachtete er diesen noch intensiver und spürte plötzlich die warme Woge der Freude seine Angst vertreiben, denn er entdeckte, der Fremdling war ein gutes Teil kleiner als er und damit entsprechend auch schwächer!

Wieder blitzte eine Idee in ihm auf! Dabei küsste er seine Fingerspitzen, denn sie war die Lösung und viel einfacher als ein offener Kampf, eine Vertreibung oder gar die Vernichtung des Eindringlings. Die Lösung war, seine mehrfache Überlegenheit gegenüber dem Neuen zum eigenen Vorteil zu nutzen!

Nur - eine plausible Begründung musste das sein, am besten eine aus seinem eigenen Kopf! Denn die könnte der Neue nie greifen und darum auch nie widerlegen! Diese müsste den Eindringling zwingen, ihm - so oft ihn auch der Hunger überkam - die Nüsse aufklopfen, die härteren Früchte in einer Kokosschale zu weichem Mus zerstampfen, das er so am liebsten aß! Als ihm dieser Einfall kam, war er selbst derart davon ergriffen, dass er niederkniete und mit gebeugtem Kopf eine Weile mit ineinander verschränkten Fingern verharrte. Jetzt schlug sein Herz ruhig und fest. Er verharrte ruhig und gelassen in seinem Versteck, erst im rechten Moment wollte er sich dem Eindringling zeigen.

Ihm war, als sei er durch diese Idee ein völlig

anderer geworden und als solcher beobachtete

er jetzt seinen zukünftigen Diener - fast schon

wohlwollend sah er ihn sich aufsetzen und mit

den Händen den Körper betasten.

Soll er sich doch ruhig Zeit nehmen mit seinen

Entdeckungen!

Er würde ihm seine Herrschaftsbegründung zum rechten Zeitpunkt vermitteln! Er fand diese nicht nur gut, sie war nach Bedarf auch erweiterbar, denn es könnten sich ja weitere Eindringlinge einfinden! Ab heute würde der Eingedrungene für ihn all das erledigen, was ihm schon immer lästig war, wie das tägliche Nachtlager bereiten aus weichen Blättern und feinem Gras und vor allem seine Mahlzeiten, sobald er Hunger verspürte!

Er dagegen war durch seine Erfindung ab jetzt in die Lage versetzt, sich die besten Reviere zum ausschließlich persönlichen Gebrauch abzuzweigen!

Er lächelte, denn ab heute tat er nur noch das, was ihm Spaß machte!

Allerdings wusste er genau, seine zukünftigen Privilegien hingen an einem seidenen Faden.

Und der war die wirksame Übermittlung seiner Begründung! Davon hing jetzt alles ab. Alles und - auf ewig!

Als er das näherkommende Gewittergrollen bemerkte, lachte er innerlich, jetzt konnte nichts mehr schief gehen! Er stand auf, ging mit gestrafften Muskeln und hocherhobenen Hauptes auf den Eindringling zu, der zitternd am Boden kauernd angstvoll zu ihm aufblickte. Mit gestrecktem Zeigefinger deutete dieser seitlich hinter sich, in die Richtung, von wo jetzt der Donner grollte und verkündete mit lauter Stimme, dort oben wohne der allmächtige Erschaffer und Besitzer des Gartens, in dem sie beide sich befänden. Und... dass dieser Erschaffer ihn - und dabei zeigte er auf den vor ihm Kauernden - aus seiner Rippe erschaffen habe, dabei strich er einige Male über seine alte Narbe, als sichtbaren Beweis! Und ....dass der mächtige Erschaffer ihm persönlich aufgetragen habe - dass er Sorge zu tragen

habe, dass hier all seine Regeln strengstens befolgt werden müssten, sonst wäre - mit dem Allerschlimmsten - zu rechnen! Ein zuckender Blitz mit gewaltigen Donnerschlägen kam wie die Bestätigung des Gesagten! Dann schlug ein mächtiger Regen prasselnd hernieder. In panischer Angst, mit weit aufgerissenen Augen, nickte der am Boden geduckt liegende Ankömmling zu allem seine Zustimmung! Einem plötzlichen Einfall folgend, pflückte er, der sich soeben als Mittler zwischen dem allmächtigen Unsichtbaren und seinem neuen Diener eingeführt hatte, eine Frucht ab, biss kräftig hinein und bot sie dem Zitternden - auf gute Zusammenarbeit an - er fügte hinzu: „Mir verlieh der Besitzer dieser Welt den Namen Adam und ich nenne dich Eva!" Adam wurde gezwungen, rasch einen Fuß zurückzusetzen, weil gerade dort, wo er stand, eine Schlange sich ihren Weg durchs Gras bahnte.