Ich trage keinen Namen

Margret Kraemer, Gerolstein-Michelbach

Man sollte wohl keine Geschichte mit seinem Alter oder gar mit seiner Gebrechlichkeit beginnen. Aber Geschichte wird vom Laufe der Zeit geschrieben, und die geht zuweilen halt nicht spurlos an einem vorüber. Darüber mag auch nicht hinwegtäuschen, dass der Staub der Woche an jedem Wochenende auf mir weggebürstet wird und ich zu jeder Jahreszeit mit farbenfrohen Blumen geschmückt werde. Im Laufe der Zeit musste ich bereits mehrfach grunderneuert werden, um mit der Zeit zu gehen. Jedes Mal wuchs ich dabei ein Stück in die Höhe mit dem Ergebnis, dass man heute in eins der ältesten Häuser des Dorfes, links unterhalb der Kirche, wo man sich vor etlichen Jahrhunderten zu alkoholischen Genüssen in der Stube traf, nun (zwei, drei Schritte) hinab

und nicht mehr wie zu früheren Zeiten einfach nur hinein schreitet.

Erwachsen aus einem Weiler, gehörte das Dorf, in dem ich auf einem Brückenschlag liege, wohl von Beginn an zu(m Hofe) Gerolstein. Vielleicht sind die Römer schon an mir vorbeigezogen oder waren hier auf dem Holzweg unterwegs. Wald genug dürfte es ringsherum zumindest stets gegeben haben. Aber wer will das schon so genau wissen. Belegt ist, dass mein Dorf erstmals 1352 urkundlich erwähnt wurde, als Arnold I. von Gerolstein seine dortigen Güter Balduin von Trier gegen Geld übertrug und sie als Lehen zurückerhielt. Die Hauptverkehrsader des Dorfes führte damals von Gerolstein kommend den Büscheicher Berg hinab über mich hinweg Richtung Rom.

Ansicht um 1960 (Quelle: privat)

Heute ist die erste Hälfte dieser Strecke ein durchweg gut ausgebauter Weg, der nur für Anlieger und den landwirtschaftlichen Verkehr freigegeben ist. Was wiederum wunderbar ist für die nach Entspannung und Ent-schleunigung suchenden Wanderer, die sich nun ungestört über den malerischen Anblick des Dorfes im Tal erfreuen können. Am Ortseingang auf der rechten Seite befindet sich am Nordhang die Kirche mit einem goldenen Wetterhahn auf dem Westturm und einem goldenen Wetterhuhn auf dem Dach. Ja, mein Dorf und seine Kirche - sie verbindet so manch' prächtige Geschichte, wie der Anblick des Innenraumes mit den zwei Schutzheiligen Stefanus und Markus unschwer erkennen lassen. Verständlich - über etliche Jahrhunderte fand doch über den Berg hinab nicht nur das Gute, sondern auch das Grauen der Pest und der unzähligen Kriege ihren Weg in den Ort. Eng war die Verbundenheit zu einem vermutlich bereits auf das Jahr 1517 zurückgehenden Kirchenbau und stolz war man auf manch' in der Reformationszeit erworbenes Vorrecht und Dankesgeschenk. Doch all das verschwand -wie auch so mancher Brauch - still und leise im Nebel der Geschichte. In den frühen 1950er Jahren bestand man noch vehement auf die Tradition und die Regelmäßigkeit einer sonntäglichen Messe. Fast unbemerkt findet nun seit Jahren nur einmal im Monat eine Messe statt und nur wenige Einwohner finden noch den Weg hinauf zu dem prächtigen Bauwerk, das von manchen heute als Kapelle bezeichnet wird.

Lässt man die Kirche hinter sich, so führt kein Weg an der Dorflinde vorbei. Ein flüchtiger Blick genügt um zu erkennen, dass diese Linde da kein uralter Baum mehr ist. Nach etlichen Rückschnitten ist gerade noch ein verblasster Schatten einer uralten Tradition erkennbar. Wurde in früheren Zeiten unter ihr zu Gericht gesessen, so scheint heute nur noch über sie verhandelt zu werden. Wie dem auch sein mag, dort wo eine Dorflinde steht, da ist auch der Ort für Gemeinschaft und so findet alljährlich das Dorffest in ihrem Schatten statt. Einen Steinwurf von der Dorflinde entfernt und östlich von mir stößt man auf den einzigen offensichtlichen Platz im Dorf: den

Kinderspielplatz. Er wurde 1960 eröffnet, und für die Errichtung hatte man eigens ein altes bäuerliches Anwesen abgerissen. Das Steinmaterial blieb jedoch weiterhin eng mit dem Ort verbunden, wurde es doch im Wegebau und in mancher Gartenmauer wiederverwendet. Folgt man dem immer enger und unpassierbarer werdenden Talweg weiter in südlicher Richtung, so stößt man ganz am Ende auf ein Flurstück, dessen Name darauf schließen lässt, dass sich das Dorf einmal an einer anderer Stelle befunden haben dürfte: Alte Mühle. Bevor man sich jedoch in dieses überwiegend der Natur überlassene, wasser-, insekten- und vogelreiche Gebiet hinauswagt, kehrt man wohl lieber in die einzige verbliebene Gaststätte des Ortes ein.

Mit der Vergabe einer Ausschankkonzession tat man es sich damals in den frühen 1950er Jahren arg schwer. Man erachtete die Dorfbewohner als zu trinkfreudig und zu streitsüchtig, so dass man schlicht um die Aufrechterhaltung der Ordnung im Gasthaus besorgt war. Alles viel zu dramatisch gedacht. Letztlich erteilte man zwei Häusern die Konzession und schon halbierten sich auf einen Schlag die befürchteten Probleme. Viele Geschichten wurden an den Theken der Gasthäuser vor-und aufgetragen. So wurde schon mal ein 50 D-Mark Schein aufgerollt und vor den Augen der armen Eifeler verbrannt. Ob frevelhaft oder einfach nur dreist-unverschämt war dieses Schau(er)spiel doch nur ein Vorgeschmack auf die Verlockungen des Wohlstandes, die in Städten wie Köln oder Düsseldorf nur darauf zu warten schienen, ergriffen zu werden. Ja, nicht nur das Überleben, sondern auch seine Selbstachtung zu wahren, kosteten stets Kraft und Verzicht.

Über Jahrhunderte sicherten der Wald und die Jagd die Einnahmen des Dorfes. Ein Pfarrer, ein Lehrer, ein Bürgermeister und ein Gemeinderat wachten und urteilten über die Geschehnisse im Dorf. Die Einwohner betrieben auf steilen, steinreichen, und durch Erbteilung oftmals etwas zu klein geratenen Parzellen Viehwirtschaft und Ackerbau. Viele konnten sich erst durch einen Nebenerwerb den Lebensunterhalt sichern. Die Feuerwehr (für die Männer) und die Frauengemeinschaft (für die

Frauen) schaff(t)en Vertraut- und Verbundenheit. Über die Zeit kam es, wie es erwünscht war. Der Fortschritt und die damit verbundene fortschreitende Motorisierung machten auch um das kleine Dorf keinen Bogen mehr. Mit dem Ausbau einer nun in ost-westlicher Richtung verlaufenden Straße verlagerte sich nicht nur die Hauptverkehrsader des Dorfes, sondern auch dessen Pulsschlag. Es bewegte sich was in den 60er Jahren. Man sicherte sich die Anbindung an die Post-/Buslinie GerolsteinManderscheid, erhielt Molkereianschluss, und das Hochdeutsch begann den dorfeigenen Dialekt zu ersetzen.

Doch es bewegte sich nicht nur Fortschritt auf den Ort zu, sondern auch von ihm weg. Während Touristen mehr und mehr die Idylle des Dorfes für sich entdeckten, breitete sich parallel und unaufhaltsam die Landflucht aus. Lag die Einwohnerzahl 1905 noch bei 176, fiel sie im Jahr 1961 auf 129. Heute befindet sie sich wohl wieder so etwa auf dem Niveau von 1818, bei 96 Einwohnern, mehr oder weniger, wir wollen hier mal nicht so genau nachzählen. Die dorfeigene Volksschule und der Dorfladen wurden geschlossen und man legte 1974 die Schlüssel der Eigenständigkeit in die Hände der Stadt Gerolstein. Wurden 1912 im Dorf noch 128 Stück Rindvieh, 55 Schweine, sieben Ziegen, 316 Hühner und zwölf Bienenstöcke gezählt, so fragt man sich heute beim Lesen solcher Schul- und Dorfchronikstatistiken verwundert, wie diese Tiere (und deren Besitzer) nur alle satt werden konnten. Heute kann ein ausdauernder Spaziergänger so knapp 15 Rinder, drei Pferde, neun Hühner und zwei Laufenten zählen und eine Vielzahl mehr an Füchsen, Rotwild und Wildschweinen beobachten.

Tja, und so rollt man heute überwiegend über mich hinweg, mal Richtung Osten, mal Richtung Westen, auf den Weg in den Kindergarten, zur Schule, zur Arbeit, ins Büro, zum Sport, zum Arzt, zum Studium, zum nächsten Termin. Jeden Morgen raus und jeden Abend wieder rein. Das Geschehen und die Geschicke des Dorfes gestalten sich weiterhin um mich herum und ziehen an mir vorbei. Die Einwohner stellen sich dem Wandel der Zeit und gehen mit der Zeit. So kennt man die Namen von

einigen von ihnen heute nur noch aus Flurkarten (wie Tombersrech, Görgenwiese) oder von Häusern (wie Bischof, Feldges, Nellen, Miller). Man trifft sich weiterhin auf mir und das nicht nur zum alljährlichen Weihnachtskonzert mit dem Musikverein des Nachbarortes Büscheich; wenn man sich zur Drückjagd versammelt; denen zuschaut, die mich wöchentlich pflegen, gemeinsam auf den Bus wartet oder aus gegebenem Anlass einfach nur mal so, wenn man die Köpfe zusammensteckt, um über das zu philosophieren, was gerade so das Dorf bewegt. Ich verbinde sie alle durch einen Brückenschlag, bin mittendrin und trage doch -oder gerade drum - keinen Namen.