Heimkehr ans Totenmaar

Manfred Schmitz, Flußbach

Zuhause sein und heimisch werden, kann man überall, aber nirgendwo ist man so daheim wie dort, wo man seine Kindheit in einer kindlich heilen Welt verbracht hat. Heimat ist schwer beschreibbar, eine Vielzahl von Empfindungen und Begriffen, nie endende, womöglich unerfüllbare Sehnsucht nach ultimativer Vertrautheit, Geborgenheit und Glücklichsein. Heimat empfinden wir dort, wo Eltern, Verwandte und andere vertraute Gesichter mit uns waren oder sind, wo vertraute Sprache gesprochen wird, wo prägende, unauslöschliche Erinnerungen und Gesichter, vertraute Häuser, Wege und Plätze sind: Meine Heimat ist Schalkenmehren am Maar, meine Heimatsprache ist Eifeler (Schalkenmehrener) Platt, auch wenn ich fast sieben Jahrzehnte dort weg bin. Vertraute Gesichter und Verwandte sind rar geworden, die meisten davon und all meine Vorfahren haben wir im Lauf der Jahre mit der schwarzen, eleganten Pferdekutsche mit der Galerie für die Kränze oben drauf - in jüngerer Zeit mit dem motorisierten Leichenwagen - „rob no Wej-meld (rauf nach Weinfeld)" zu unserem historischen Friedhof überm Kraterrand des Weinfelder- bzw. Totenmaares gefahren, wo sie ihre ewige Heimat gefunden haben. Deshalb bin ich dort jetzt mehr daheim als in meinem Dorf und kaum eine Woche vergeht, die ich nicht oben bin. Und jedes Mal ist es eine Heimkehr, wenn ich mein Dorf mit seinem Maar, Weinfeld mit dem Totenmaar, den Höhenrücken des Senheld mit dem Hungerkreuz, den historischen Friedhof mit den uralten Bäumen, der 500 Jahre alten Kapelle und das hügelige Land drum herum erblicke, wo einst das ausgestorbene Dorf Weinfeld stand. Nirgendwo fühle ich mich so warm und vertraut, so daheim wie dort, und ich wünsche denen, die dort in den Gräbern sind, dass sie sich in der leichten, warmen Lavaerde ebenso heimatlich geborgen fühlen.

Ein Traum war in Erfüllung gegangen, als ich kürzlich die Angelerlaubnis für das Totenmaar, den Ort meiner Sehnsucht, erhielt. Und als ich vor ein paar Tagen an einem grauen, nasskalten Novembernachmittag spontan aus der Wittlicher Senke hinauf fuhr und auf dem kleinen Parkplatz zwischen den beiden Maaren mit der zauberhaften Sicht auf beide Maare ausstieg, war ich wieder daheim im Paradies meiner Kinderjahre, in der schönsten, heimeligsten Landschaft dieser Erde. Ein langer Blick hinunter, auf mein Dorf, dann stieg ich mit meiner Spinnrute (Angel) hinab in den Maarkessel des Totenmaars, überließ mich ganz einer elementaren, lebhaften Phantasie und einem tiefen Gefühl von Vertrautheit, Dankbarkeit und Glück. Kein Mensch war weit und breit, und mir war, wie wenn ich allein in einem gerade erst erschaffenen Urparadies auf die Welt gesetzt worden sei. Viele Erinnerungen, eine schöner und tröstlicher wie die andere, überkamen und versetzten mich zurück in meine Kindheit und Jugend. Ich hatte Mühe, sie einzeln anzuhalten, um sie nacheinander zu betrachten. Dann gingen Gedanken und Blick hinauf zum Friedhof mit der Kapelle und den Namen auf den Grabsteinen, und schon waren sie wie Phantome an meiner Seite, die alt vertrauten Gesichter derer, die dort oben in den Gräbern sind. Ich ließ mich hinüber gleiten, in eine unwirkliche Welt und wie von selbst ergab sich eine lebendige Zwiesprache, mit Mutter, Vater, Verwandten, mit Diesem und Jenem, als ob sie leibhaftig plaudernd neben mir her gingen, über den in den letzten regenarmen Jahren ausgetrockneten, ungewöhnt breiten Ufersaum des einmalig schönen Kratersees mit seinen bebuschten, steilen Hängen, die sich in grünen Farbschattierungen auf der Wasseroberfläche spiegeln. Bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts waren die Hänge noch spärlich bewachsen und

großflächig dürr, weil sie noch nicht durch industriellen Stickstoff-Fallout so üppig gedüngt waren.

„Weest Dou noch (Weißt Du noch)?" begann jedes Gespräch mit den Vertrauten aus den Gräbern und zwischendurch warf ich mit weiten Würfen den Blinker (Fischimitat aus Eisen) aus, der auf die Oberfläche des silbern kräuselnden Wassers aufklatschte. Dass kein Hecht den Blinker nahm war unwichtig, wichtig war nur das vertraute Beisammensein mit den Meinen und den Weggenossen meiner Kindheit und Jugend aus der anderen Welt, und dass es kein Ende nähme und dass alles wieder so wäre wie früher.

Als der Blinker beim letzten Einwurf wegen eines Hängers abriss, läutete zufällig jemand die beiden Glocken oben in der Kapelle, die mein Großvater mütterlicherseits, August Mark, vor vielen Jahren in seiner Glockengießerei in Brockscheid gegossen hatte. Mit ihrem reinen, warmen Bronzeklang riefen sie meine imaginären Gesprächspartner zurück in ihre

Fotographie eines Gemäldes von Fritz von Wille

Gräber. Sie gingen, wie wenn sie es eilig hätten, und im Weggehen winkte ich ihnen nach, nicht ohne ihnen vorher noch das Versprechen abzunehmen, dass wir uns nun häufiger träfen, oben am Totenmaar. Immer eindringlicher meldeten sich die Erinnerungen, die untrennbar mit mir durchs Leben gehen: Es zog mich zu der Stelle, an der ich als Elfjähriger mit unserem großen Hannoveraner-Wallach „Max" an einem heißen Sommertag ins kühlende Wasser gegangen bin, um mit ihm Seite an Seite weit hinaus und wieder zurück zu schwimmen. Ein großartiges, wildes Erlebnis von Freiheit. Ach, könnte ich noch einmal dieses treue, intelligente Pferd, an dem ich so sehr hing, am Zügel in den See führen! Dann kam ich an den Platz, an dem ich vor über 70 Jahren an einem überaus glücklichen Tag unsere kleine Rinderherde auf den mageren Grasflächen des steilen Maarkessels mit dem typisch kurzen aber schmackhaften Gras gehütet hatte, setzte mich lange hin und erlebte diesen so weit zurück liegenden, überirdisch

schönen Tag, wie wenn er gestern erst gewesen wäre. Es war nicht ich, der da saß, sondern der 11jährige Junge von damals: Es war 1948 - vor 71 Jahren (ich gehe auf die 83 zu) - drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, mein Vater hatte mir nach langem Quängeln ausnahmsweise erlaubt, unsere Rinder am Totenmaar zu weiden. Provisorisches Angelzeug hatte ich schon lange organisiert und als der Tag endlich gekommen war, erbat ich mir von Mutter eine kleine Menge des damals raren, kostbaren Zuckers und einen kleinen Blechtopf. Kaum konnte ich es erwarten, die kleine Herde über den Weg, der sich durch die Haselnusshecken des Maarkessels von Schalkenmehren hinauf zum Totenmaar windet, zu treiben.

Diesen Weg gingen wir immer mit der Prozession, wenn jemand auf unserem Friedhof auf Weinfeld beerdigt wurde. Die Pferdekutsche mit dem Sarg musste „hunnenrim" (hintenrum) die reguläre Straße nehmen. Angekommen, beschäftigten sich die Kühe gleich mit dem Grasen und ich packte meine Angelschnur aus, steckte einen Wurm auf den Angelaken, um mir einen Fisch zu angeln, den ich im Feuer braten wollte. Kaum dass ich eingeworfen hatte biss ein kleiner Barsch an, den ich noch eine Weile spielerisch im Wasser zappeln ließ. Plötzlich - ich erstarrte vor Schreck - schoss ein dunkler, schlanker Schatten aus dem Kraut unter der Uferböschung - ein meterlanger Hecht - und schnappte sich den kleinen Barsch. Ich fieberte vor Aufregung, den Hecht heraus zu ziehen, befürchtete aber, dass die dünne Angelschnur reißen würde. Vollkommen fasziniert beobachtete ich Minuten lang den großen, wunderschönen Raubfisch mit dem unglaublich golden, silbern, grünlich schillernden Schuppenkleid, wie er den kleinen Barsch quer im breiten Maul hielt und reglos im Wasser stand. Notgedrungen und in Sorge, dass der starke Fisch den Barsch samt Haken schlucken, die Schnur abreißen und der Hecht daran verenden könnte, ruckelte ich an der Schnur, bis der Hecht den Barsch samt Haken irritiert ausspuckte. Er stand noch eine Weile - aufgeregt mit seinen rötlich geränderten Bauchflossen fächelnd - reglos an der gleichen Stelle, starrte mich mit seinen großen

Augen an und ließ sich dann in Zeitlupe in tieferes Wasser gleiten - ein perfektes Kunstwerk der Natur! Halb enttäuscht darüber, dass ich den Hecht frei geben musste, war ich doch versöhnt und froh, diesen wunderschönen Räuber unverletzt ziehen zu lassen. Aus der Fischmahlzeit wurde nichts. Nach dem aufregenden Hechterlebnis war dieser über alle Maßen erfüllte Tag noch lange nicht zu Ende, denn ich hatte noch was ganz Besonderes vor: Von dem reichlich herum liegenden Reisig und Trockenholz machte ich ein kräftiges Feuer, dann molk ich von unserer Kuh „Braun", die von allen die schmackhafteste Milch gab, eine kleine Menge davon in den Blechtopf, rührte den mitgebrachten Zucker ein und setzte den Topf aufs Feuer. Das Gemisch bruzzelte und kochte nach kurzer Zeit zu einer steifen, gelblichen Masse ein, die ich nach dem Erkalten mit dem Taschenmesser in kleine Stücke zerteilte. Das Ergebnis: „Rahmkamellen" (Rahmbonbons)! Dass ich sie alle aufaß, versteht sich! - Ein Kind der heutigen Zeit wird nicht verstehen können, mit welch bescheidenen Mitteln ein Eifelkind von damals wunschlos glücklich sein konnte - ich war vollkommen glücklich! Und als der Tag sich neigte und ich unsere Rinder heimwärts über den uralten Weg durch die Haselnusshecken zum Dorf hinab führte, fühlte ich mich reich und absolut zufrieden mit meinem Leben und diesem großen Tag. Und spätabends, nach getaner Stallarbeit und dem Abendessen schlief ein von Glück trunkener 11jähriger Junge im Schwelgen an diesen Traumtag ein, der zu den schönsten, aufregendsten, glücklichsten Heimaterinnerungen seines Lebens zählt - bis heute! Ich könnte noch viel mehr erzählen, aus der bewegten Zeit nach dem 2. Weltkrieg, als wir wenig hatten und darum sorgsam damit umgehen mussten.

Ich könnte von dem durch Pest, Krieg und Hunger ausgelöschten Dorf Weinfeld erzählen, von dessen Häusern der Ackerpflug gelegentlich noch Relikte ans Tageslicht fördert, von den vielen Tonnen deutscher Waffen und Munition, die die amerikanischen Besatzer im Jahr 1945 im Maar entsorgten und unserer lebensgefährlichen Spielerei damit, von Vaters Flucht und Heimkehr zu Fuß im Sommer 1945

aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft in Österreich, der strengen französischen Besatzung im Dorf, den überhand nehmenden Wildschweinen, die nachts unsere Felder plünderten. Ich könnte vom Maarbach" (Abfluss des Schalkenmehrener Maares) schwärmen, der damals noch offen und stellenweise breit mitten durchs Dorf floss, den Fischen und Flusskrebsen darin, den vielen Rauchschwalben, die an seinem Ufer Schlamm zum Bau ihrer damals noch zahlreichen Nester in den Kuhställen und an den Häuserwänden sammelten. Es tut immer noch weh, dass man dieses heile Stück Natur als vermeintlichen Fortschritt in Betonröhren zwängte und verschwinden ließ. Ich könnte von der Kultur unseres Dorflebens, vom Ausheben der Baugrube für das große. sandsteinernde Gedenkkreuz auf dem Friedhof Weinfeld, den Anfängen der Sternwarte Bonn auf dem „Hohen List", von traurigen Ereignissen, die das Dorf erschütterten, berichten oder auch davon, wie wir bescheidenen Eifelkinder immer wieder der ebenso bescheidenen Dorfkirmes entgegenfieberten

und von der für uns Kinder weltbewegenden Frage, ob denn der Schausteller ein PferdeKarussell, einen Luftgewehr-Schießstand, eine Bude mit billigem Tand und Kamellen (Bonbons) aufstellen werde oder nicht. - Ja, das mag alles klein und lächerlich erscheinen aber all diese scheinbar nur kleinen, oberflächlichen, unbedeutenden Dinge und die damals aus heutiger Sicht heile, becheidene Welt, in der ein altes Fahrrad ein Privileg, ein Taschenmesser ein kostbarer Besitz war, sind lebendiger Teil meines Werdens und Lebens. Von damals kommt meine nie endende Liebe zu meiner Eifelheimat und ihren gastfreundlichen Menschen, vom frühen Angelerlebnis mit dem großen Hecht die Passion zum Angeln in den paradiesisch schönen Eifelmaaren. - Ich bin unendlich dankbar für diese prägende Zeit und wünsche sie mir zurück - je älter ich werde, um so mehr.

Erzähler: Manfred Schmitz, Am Reichelberg 13, 54516 Fluß-
bach, aufgewachsen im Dorf am Schalkenmehrener Maar (Dez. 2019)