Eine Liebesgeschichte

Brigitta Westhäusler, Hillesheim

Wer kennt sie nicht: die berühmten Plätze dieser Welt?

Paris und der Place de la Concorde, Rom und den Petersplatz oder den Trevi-Brunnen, Venedig mit der Piazza San Marco, München und sein Marienplatz. Was für großartige Bilder entstehen beim Nennen der Namen: Rauschende Brunnen, tosender Verkehr und Massen von Menschen, die bewundern und Fotos machen und es kaum fassen können, dass sie mit ihren Füßen auf so berühmtem Boden stehen. Und was für eine Szenerie jetzt unter der Geißel der Corona-Erkrankung - wie ausgestorben! Wann wird sich das Bild wieder ändern?

Und dann gibt es tausende von kleineren Städten und Orten, deren Mittelpunkt auch oft ein Platz ist, der das Leben seiner Einwohner bestimmt. Kirchen, das Rathaus, Hotels oder Restaurants platzieren sich um diese Mitte, in der häufig ein Brunnen oder eine Säule oder eine Baumgruppe steht. Die Gebäude weisen liebevoll gestaltete oder geschmückte Fassaden auf, Sitzgelegenheiten laden zum Verweilen und Betrachten ein.

Und von solch einem kleinen Platz in einem unbedeutenden Ort möchte ich erzählen. Die mächtige Linde war bestimmt schon 120 Jahre alt und überschattete den kleinen Platz mit dem Kopfsteinpflaster. Ein kreisrundes Blumenbeet war um den Wurzelbereich angelegt worden. Vier Straßen führten zu diesem Mittelpunkt, aber für Autofahrer war es nicht möglich ihn zu überqueren. Zum Glück hatten die Planer rechtzeitig erkannt, diese Enklave

zu schützen. Kam man von Süden, so stieß man auf das alte Gebäude der ehemaligen Volksschule, jetzt schön renoviert und ein Gemeindezentrum. Daneben hatte eine Bäckerei ein kleines Cafe eröffnet, mit Sitzplätzen draußen, so dass man von da das Treiben beobachten kann. Im Osten befand sich ein kleines Heimatmuseum, untergebracht in einem hübschen Fachwerkhaus. Davor stand ein kleiner Brunnen mit einer Bronzefigur. Sie stellte einen Nachtwächter dar, der in seiner rechten ausgestreckten Hand eine Laterne hielt. Wo leuchtete er wohl hin?

Auf der anderen Seite gegenüber war ein Gasthaus. „Zur Krone" hieß es, das bei gutem Wetter auch ein paar Tische und Stühle rausstellte. Und schließlich an der vierten Ecke ein Geldinstitut, das sich fast zu schämen schien, weil es so nüchtern und modern war. Man hatte angefangen, die Fassade zu bemalen und zwei neue Bäume waren gepflanzt worden. Was für eine Idylle! Und saß man im Mai oder Juni dort bei einer Tasse Kaffee, so wurde man beinahe trunken vom Duft der Lindenblüten. Man konnte nicht anders als die Augen schließen, tief einzuatmen, und automatisch fiel einem das berühmte Schubert Lied vom Lindenbaum ein.

Und an diesem zauberhaften Ort begann auch die Romanze von Marie-Luise und Leon. Die Namen sagen uns schon, dass es außergewöhnliche Menschen waren. In den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts war der Name des Mädchens noch geläufig, niemand hätte darüber gespottet. Einige kürzten aller-

dings ab; so sagten einige nur Marie, andere nur Luise. In der Volksschule aber, die sie brav acht Jahre lang besuchte, rief Fräulein Messerschmitt sie immer mit vollständigem Namen. Nach Schulabschluss begann sie eine Lehre als Verkäuferin gleich nebenan in der Bäckerei. Sie liebte den Geruch des frischen Backwerks, freute sich, wenn sie das eine oder andere Gebäckstück, das nicht verkauft wurde, mitnehmen durfte. Sie liebte den Umgang mit den Kunden. Sie war fröhlich und flink und selbst das Kehren des Bodens oder das Putzen des Schaufensters entlockten ihr ein Lächeln. Sie war schon im zweiten Jahr bei Bäcker Lorenz, als er ihr den Auftrag gab, eine Geburtstagstorte auszuliefern. Sie war reich verziert, und so packte der Meister sie sorgfältig in einen Karton, den er wiederum sorgfältig verschnürte. Bäckerlehrling Klaus war ausgerechnet an diesem Morgen krank, der Meister selber hatte also mehr zu tun in der Backstube. Seine Frau musste schon im Verkauf aushelfen. Also schickte er Marie-Luise mit vielen Ermahnungen los. Das Geburtstagskind war Bankdirektor Meininger, eine wichtige Persönlichkeit in der kleinen Stadt. Die Torte sollte sie in den Schalterraum der Bank bringen. Das Gebäude stand damals an anderer Stelle, es war aber nicht weit. Marie-Luise führte ihren Auftrag mit aller Vorsicht aus, nur noch die drei Stufen zur Eingangstür. Sie balancierte den Karton auf dem linken Unterarm, streckte schon die rechte Hand aus, um die Tür zu öffnen - da wurde diese mit heftigem Ruck von der anderen Seite aufgerissen, und ein junger Mann stürmte heraus. Jetzt passierte, was nie hätte passieren dürfen! Er stieß gegen den Karton, dieser fiel mit einem Plopp zu Boden und rutschte noch eine Stufe weiter hinunter. Marie-Luise erstarrte, wurde ganz blass und sank zu Boden. Der junge Mann war schon ein Stück weitergelaufen, dann drehte er sich um und sah, was er angerichtet hatte. Einige Passanten und Leute aus der Bank kamen herbei, diskutierten laut, kümmerten sich um das Mädchen und zeigten auf ihn, auf Leon. Er war der junge Mann, der diesen Schlamassel verursacht hatte!

Schuldbewusst kam er wieder näher und hilflos stand er bei den anderen. „Es tut mir leid!

Entschuldigung!", murmelte er immer wieder. Irgend jemand hatte Dr. Pascal gerufen, der seine Praxis nur wenige Schritte entfernt hatte.

Marie-Luise, die ihre Augen wieder geöffnet hatte, fragte, was geschehen war und konnte sich im ersten Moment an nichts erinnern. „Wahrscheinlich Gehirnerschütterung", konstatierte Dr. Pascal. Sie muss ein paar Tage still liegen.

Sparkassenleiter Meininger verkündete, dass er sich persönlich um den Transport kümmern würde. Schließlich sei er Ehrenvorsitzender der Feuerwehr.

Eine halbe Stunde später war Marie-Luise auf dem Weg ins Krankenhaus, die verunglückte Torte war vorsichtig entsorgt worden und der freundliche Passant, der seine Jacke hergegeben hatte um Marie-Luises Kopf bequem zu lagern, erhielt sein Kleidungsstück zwar beschmutzt zurück, aber er war stolz, dass er hatte helfen können.

Leon war sich bewusst, dass er für den Schaden irgendwie gerade stehen musste. Sein Temperament, sein südländisches Temperament war wieder einmal mit ihm durchgegangen. Seine Eltern waren 10 Jahre zuvor nach Deutschland gekommen, aus dem Süden Spaniens, wo es für sie keine Zukunft gab. Sie hatten sich hier eine neue Existenz aufgebaut. Was würden sie sagen, wenn sie von seinem Verhalten erfuhren? Er schämte sich furchtbar. Er war zu einem Vorstellungsgespräch in die Bank gekommen und fühlte sich gleich angegriffen, als er nach seiner Herkunft befragt wurde. Wie undiplomatisch! Jetzt, da er darüber nachdachte, konnte er sein Verhalten nicht mehr verstehen.

Als erstes ging er zu Bäckermeister Lorenz und erklärte die Situation. Er beteuerte immer wieder, dass Marie-Luise keine Schuld trifft. Er fragte nach dem Preis der Torte und musste heftig schlucken, als er ihn hörte. Da musste er auf sein Sparbuch zurückgreifen und sehen, dass er bald die Summe wieder einzahlen konnte. Ob das mit Zeitungen austragen reichte? Dann besuchte er die Familie von Marie-Luise und entschuldigte sich in aller Form. Er hatte für das kranke Mädchen eine Schachtel Pralinen mitgebracht. Der Vater war sehr

aufgebracht und nicht leicht zu besänftigen. „Ausländerpack!", schimpfte er, als Leon gegangen war.

Ein paar Tage später begab er sich wieder in die Bank und wurde bei Direktor Meininger vorstellig. Auch hier entschuldigte er sich in aller Form und bat um eine neue Chance. Ob er sie bekam, stand in den Sternen. Wieder war eine Woche vergangen, als er zum Lindenplatz kam. Er traute seinen Augen kaum, als er Marie-Luise in der Bäckerei sah. Er trat in den Laden und wusste nicht recht, was er sagen sollte. Hübsch war sie mit ihrem dichten braunen Haar und den Haselnussau-gen. Am Tag des Unglücks hatte er das nicht wahrgenommen.

„Es tut mir Leid, wirklich! Entschuldige bitte!" Er wurde rot und wusste nicht so recht, wohin mit seinen Händen. Zum Glück war sonst niemand im Laden.

„Ja, danke auch für die Schokolade", sagte sie mit leiser Stimme. „Möchtest Du was kaufen?" Er schaute in die Auslage. „Vielleicht eine Schnecke", meinte er und zeigte auf das Gebäck.

Mit einer Zange nahm sie es von dem Tablett und packte es in eine Tüte. „Danke", sagte er und zahlte mit abgezählten Münzen. Er wendete sich zum Ausgang. „Können wir uns mal treffen?", fragte er. Sie errötete, aber sie schüttelte nur den Kopf. Sie wendete sich um und begann Brötchen zu sortieren.

„Ein hübscher Mann", dachte sie. „Ach nein, bei Männern sagt man das ja nicht! Gutaussehend, temperamentvoll! Und wie er mich angeschaut hat!"

„Ein Zweipfünder Mischbrot!", verlangte Frau Kaiser. Marie-Luise brauchte eine Weile, ehe sie registrierte, dass eine Kundin im Laden war. „Ganz verträumt war das Mädchen", erzählte Frau Kaiser ihrer Nachbarin. „Ob das Nachwirkungen von der Gehirnerschütterung waren?" Ein paar Tage später half Leon im Gasthaus „Zur Krone" mit dem Einordnen von Getränken. Das wurde ganz gut bezahlt. Es war Mittagspause, und wie zufällig kam Marie-Luise vorbei. Es war Mai, und die Linde duftete wie verrückt. Sie setzten sich auf die Bank neben dem Eingang und Marie-Luise bot ihm ein

frisches Brötchen an. Kauend saßen sie da und schauten sich von Zeit zu Zeit an. Sie lächelten. „Am Samstag ist Kirchweih", meinte Marie-Luise. „Kommst Du auch zum Festzelt?", fragte sie und schaute ihm lange in die Augen. Und so begann die Romanze zwischen MarieLuise und Leon. Fast täglich trafen sie sich nun unter der Linde. Leon durfte seine Lehre in der Bank beginnen. Die Eltern von Marie-Luise gewöhnten sich an den „Fremden", und die Eltern Leons waren voller Stolz auf ihren Sohn. Mit Bravour bestand er seine Prüfungen. Und die Romanze fand ein glückliches Ende mit einem großen Hochzeitsfest im Mai unter dem Lindenbaum.

Fast 50 Jahre waren sie zusammen, bis ein Verkehrsunfall das Leben Leons beendete. Und wenn Du dort in dem kleinen Cafe bei dem Lindenbaum eine alte Dame triffst, die verträumt in den Baum schaut, dann ist es vielleicht Marie-Luise.